Joschka Fischers Wünsche.

Gestern im Phoenix-TV ein Gespräch zwischen Joschka Fischer und Michael Hirz. Sofortiges Interesse.

Schon weil Joschka Fischer — als Steineschmeißer und Polizistenprügler gestarteter Außenminister a.D. — eine bemerkenswerte Persönlichkeit der Zeitgeschichte bleibt. Und weil es immer lohnt, seine Beiträge zur Kenntnis zu nehmen.

Für Joschka Fischer nimmt auch ein, dass er auf Attribute des Staatsmannes, der er durch geistigen Rang ist, offensichtlich pfeift. Statt des üblichen, staatsmännischen Hintergrundes im TV-Bild mit gewichtigen Büchern im Format von Folianten zeigt sich Joschka vor einer eindrucksvollen Batterie von Flaschen mit diversen Alkoholika.

Dieses Gespräch hatte den intellektuellen Gehalt und den Stellenwert einer zeitgeschichtlichen Dokumentation. Alle Einrichtungen für politische Bildung sollten es als Lehrmaterial verwenden. **)

Hier sei nur zweierlei zu den Ausführungen des Staatsmannes Joschka Fischer angemerkt.

Zunächst ein kritikwürdiger Wunsch Joschka Fischers.

Zur Flüchtlingskrise hatten sich ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts geäußert, Hans-Jürgen Papier und Udo Di Fabio. Beiden Persönlichkeiten verdankt die Öffentlichkeit seit Jahren eminente Beiträge zur politischen Kultur unseres Landes.

Professor Di Fabio hatte festgestellt: *1) Dass „Demokratie nur funktionieren kann, wenn ein Staatsvolk mit einem entsprechenden klar definierten Bürgerrecht identifizierbar und in Wahlen und Abstimmungen praktisch handlungsfähig ist. Insofern muss das Staatsvolk einerseits über die Bevölkerungszusammensetzung … entscheiden, andererseits darf es dabei nicht die praktische Möglichkeit parlamentarischen Regierens und demokratischen Entscheidens bei elementaren Fragen der politischen Gemeinschaft aufgeben.“ Deshalb bestehe eine Rechtspflicht der Bundesregierung, „darauf hinzuwirken, eine funktionsfähige, vertragsgemäße europäische Grenzsicherung (wieder)herzustellen und ein System kontrollierter Einwanderung mit gerechter Lastenverteilung zu erreichen.“

Der für diese politische Handreichung dankbare Bürger registrierte die Reaktion Joschka Fischers dazu einigermaßen verblüfft. „Ich hätte mir gewünscht“, so Fischer, dass sich „Verfassungsjuristen“ (früher hätte er wohl „Paragrafenhengste“ gesagt) auf dem „Gebiet politischer Probleme“ öffentlich zurückhalten.

Diese Äußerung Fischers könnte von nicht wenigen Bürgern als anmaßend beurteilt werden. Zumal von manchen Politikern — die Ministerpräsidentin Hannelore Kraft gehört dazu — zu hören ist, „Scheindebatten“ hätten zu unterbleiben, „verunsicherte“ Bürger sollten sich an fundierten Stellungnahmen der Maßgebenden, d.h. der „politischen Klasse“, orientieren. *2)

Überhaupt: das Politikergerede von „verunsicherten“ Bürgern! Die Angst der Parteien vor dem Zorn der Bürger, die sehr genau wissen, was sie wollen, zeigt, wer in Wirklichkeit „verunsichert“ ist. Ebenso zeigt dies der von „Verunsicherung“ getriebene Bedarf der Parteien an Meinungsumfragen!

Joschka Fischers „Wunsch“ nach Zurückhaltung Di Fabios und Papiers auf „politischem Gebiet“ ist überdies vollkommen unsinnig. Schon etwas eingehendere Lektüre nicht weniger Urteile des Bundesverfassungsgerichts zeigt den hochpolitischen Charakter dieser Entscheidungen.

Zwar reden Politiker naturgemäß viel über „Politik“. Häufig betrifft dies jedoch die Eigenwerbung oder die Parteiwerbung, also „Parteipolitik“ und machtpolitische Entwicklungen, wesentlicher Teil des in angelsächsischen Ländern als „politics“ bezeichneten Gebietes.

Die von Fischer angesprochenen ehemaligen Verfassungsrichter haben ihr Berufsleben natürlich nicht als „Verfassungsjuristen“ abseits der „Politik“ verbracht, so dass ihnen Zurückhaltung zu raten wäre.

Ihre oft bahnbrechenden Leistungen zählen entscheidend zur „Politik“ im Sinne der institutionellen Ordnung, also der „polity“. Das betraf z.B. Verfassungsklagen zum Föderalismus oder den Zuständigkeiten der Parlamente.

Das Bundesverfassungsgericht hatte sich auch mit der Verfassungskonformität von „Politik“ in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung zu beschäftigen, also mit der „policy“. Dazu gehören z. B. Verfassungsbeschwerden gegen die Einführung des Euro.

Soviel zu einer Äußerung Joschka Fischers, die einen Affront gegen unsere politische Debattenkultur darstellt.

Kommen wir zu einem positiven Höhepunkt des Gesprächs.

Wir Bürger vermerkten, dass Joschka Fischer an unsere europapolitische Reife glaubt. Alle „Nationalisten“ kämpften gegen die Europäische Union. Jedoch sei es „nicht einfach“, in Deutschland eine „Renationalisierung“ zu betreiben. Den deutschen Bürgern sei bewusst, dass die „Integration“ in den demokratischen „Westen“ und in Europa die „glückliche Entwicklung“ unseres Landes nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglicht habe.

Ja, Recht hat Fischer, eine „glückliche Entwicklung“ bis hin zur deutschen Einheit und bis heute! Und, so Joschka Fischer, Deutschland wäre Verlierer, verfiele das bewährte „Erfolgsmodell“ der Europäischen Integration.

Deutschland werde — zeigte sich Joschka Fischer überzeugt — an seiner „europäischen Berufung“ festhalten. Alle derzeitigen Krisen in Europa und in seinen Nachbarschaftsräumen ließen sich bewältigen, wenn vor allem das europapolitische „deutsch-französische Paar“ zusammenhalte.

Dies war sicher der wichtigste und von uns Bürgern vorbehaltlos geteilte Wunsch Joschka Fischers für die Zukunft der Europäischen Union.

**) Diese Bewertung und Empfehlung gilt erst recht für das am heutigen Sonntag, 24. Januar 2016, von 3sat (Schweiz, Sternstunde) ausgestrahlte Gespräch zwischen Joschka Fischer und Stephan Klapproth. Eine politische „Sternstunde“! Ein großes und bewegendes Gespräch über Europa, über den Menschen, den Politiker Joschka Fischer, über seine Politik und seine Zeit.

*1) Flüchtlingspolitik. „Bund bleibt verantwortlich für Einreisekontrolle“, faz.net; 12.01.2016, von Reinhard Müller.

*2) Siehe „Redebeitrag im Bundesrat von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft zum Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“, 16.10.2015; https://land.nrw/de/media/video/redebeitrag-im-bundesrat-von-ministerpraesidentin-hannelore-kraft-zum.

Dort ist etwa zu hören: „Wir Politiker sitzen alle in einem Boot. Wir müssen „richtig und verantwortungsvoll“ kommunizieren, auch gegenüber dem Bürger. Keine Scheindebatten; keine Schnellschüsse; keine unausgegorenen Vorschläge; an den richtigen Stellen die richtige Diskussion führen; Diskussionen über unsere Werte, unsere „Leitkultur“ in bezug auf Flüchtlinge sind überflüssig; Höhe der Leistungen an Flüchtlinge, Transitzonen — alles Scheindebatten. Zuerst „verantwortungsvolle“ Problemanalyse und Lösungen, die tragfähig sind, erarbeiten, erst dann an die Öffentlichkeit gehen, weil wir sonst die Menschen verunsichern.“

Wie hätte wohl der jüngere Joschka Fischer auf solche Maßgaben zur demokratischen Streitkultur durch führende Politiker reagiert? Und nun ist er anscheinend ähnlich unterwegs — und dies gegenüber ganz herausragenden Denkern und Wissenschaftlern wie die Bürger Di Fabio und Papier!