Maßvolle Wortwahl.

Mäßigung in der Wortwahl erscheint bei manchen Journalisten als Vorsatz zum Neuen Jahr. Das ist zu begrüßen. Das ist auch erheiternd.

Denn zuallererst wird von manchen Journalisten untersucht, ob vor allem andere diesen noblen persönlichen Vorsatz hinreichend pflegen. Bevor das selbst beanspruchte maßvolle Vorbild in einem sicher konfliktreichen Neuen Jahr bewiesen worden ist.

„Auf die Wortwahl kommt es an,“ so schloss die Journalistenrunde des heutigen TV-Presseclubs zur Flüchtlingskrise. Und diese „Wortwahl“ *1) des Vizekanzlers und SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel wurde vom SPIEGEL als Verstoß gegen „Anstand und Sitte“ gewertet. Gabriels Worte gegen „Pack“ (d.h. gewaltbereite Hetzer gegen Flüchtlinge) und gegen „Arschlöcher“ (noch verharmlosend bei kriminell und schändlich gegen Frauen auftretende Flüchtlinge) waren gemeint.

Sigmar Gabriel mag dieser Tadel nicht erreichen. Sicher wollte er mit seiner Wortwahl nicht — wie der SPIEGEL recht etepetete unterstellt — die „Verrohung“ in Deutschland eskalieren, sondern die „Verrohung“ der einschlägigen Täterkreise benennen. Und zwar nach Martin Luthers Motto „dem Volk auf`s Maul schauend“, damit die drastische Wortwahl auch jeder versteht.

Der SPIEGEL fordert: „In dieser Situation brauchen wir Politiker, die den inneren Frieden im Blick haben, ihn fördern. Man darf ruhig an Willy Brandt erinnern.“ *1) Warum dieser SPIEGEL-Hinweis erheitern könnte? Ja, greifen wir in das SPIEGEL-Archiv, um Willy Brandt zu erinnern.

Schon 1968 beklagte der SPIEGEL scheinbar die rohen Umgangsformen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. In Wahrheit: Schwelgte der SPIEGEL nicht immer darin? Wurde er nicht gelesen, weil er den persönlichen Zwist in hochrangigen Zirkeln der Macht genüsslich enthüllte? Wie gesagt, schon Anfang 1968 sprach der SPIEGEL den damaligen SPD-Vorsitzenden und Vizekanzler Willy Brandt auf “die rüden Umgangsformen“ in der SPD an. *2)

Willy Brandt gab eine unnachahmliche Antwort: „Eine große Partei besteht nicht aus Leuten, die nun einander alle als persönliche Freunde verbunden sind … Eine Partei ist kein Mädchenpensionat.“ Welchen Bürger mit offenen Augen und Ohren kann denn wundern, dass es in der SPD damals wie heute nicht anders zugeht als „im Leben, dort wo es brodelt, wo es stinkt“ (Gabriel)!

Und auch in den „feinsten Kreisen“ geht es nicht anders zu, wenn es ans „Eingemachte“ geht. Wer hat`s mit wem; wer ist in, wer ist out; wer geht up, wer geht down, usw. Das volle Programm gesellschaftlichen Gesprächs kann ja mal von Eingeweihten auf „Wortwahl“ untersucht werden …

Die Politik ebenso wie die hochrangigen Kreise in Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft sind — damals wie heute — wie Willy Brandt urteilte: „kein Mädchenpensionat.“

Und genau davon leben sie — auch unsere etepetete-Journalisten. Zu unser aller Leserfreude! Wären wir nicht komplett überrascht, wenn behauptet würde: Redaktionen — „ein Mädchenpensionat“?

*1) SPIEGELONLINE. 16. Januar 2016. Wortwahl in der Flüchtlingsdebatte. Gabriels Weg der Eskalation. Ein Kommentar von Stefan Berg.

*2) 25.03.1968. Bonn. EINE PARTEI IST KEIN MÄDCHENPENSIONAT. SPIEGEL-Interview mit dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt.