Kompass für politisch Heimatlose.

Die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin, der die Parteien im Deutschen Bundestag überwiegend folgten, hat nicht nur Europa, sondern auch unsere Gesellschaft gespalten, dem Nationalpopulismus der AfD unfassbare Wahlergebnisse ermöglicht. Und als Folge den Begriff der politischen Heimatlosigkeit hervorgebracht. Nicht nur in Deutschland, sondern europaweit. Zugleich sehen wir nicht wenige anmaßende Ansprüche, in diesen Zeiten den „politischen Kompass“ zu stellen. Wie kann der Bürger die seinen Zielen angemessene „politische Richtung“ auch dann finden, wenn er sich „politisch heimatlos“ sieht?

Besonders eindrucksvoll hat eine junge Frau, Studentin der Politikwissenschaft und schon als Journalistin hervorgetreten, das Problem identifiziert.

Anabel Schunke schreibt: „Parteien — ihr habt mich politisch heimatlos gemacht … Keine der etablierten Parteien hat in Bezug auf den Islam und die Asylpolitik den Ernst der Lage begriffen. Fast zwanghaft drängen sie die Kritiker des Islams und der Asylpolitik damit in die Richtung der AfD … Es ist die Tatsache, dass wir in Bezug auf diese Themen faktisch einen Einparteienstaat haben … Wer die Asylpolitik so nicht will, wer den Islam kritisiert, der hat zwangsläufig keine andere Wahl als die AfD zu wählen. Wer dies nicht tun will, der ist politisch heimatlos und muss im Prinzip zum Nichtwähler werden.“ *1)

Die Konservativen sind heimatlos„, schreibt die FOCUS-Online-Korrespondentin Martina Fietz *2); dies mag auch für wert-konservativ denkende Sozialdemokraten gelten.

Die Union von CDU/CSU bietet als Kompass das vieldeutige „C“ *3), die übrigen Parteien im Bundestag Variationen zum Thema „Gerechtigkeit“, mal mehr sozial, mal mehr ökologisch, meist zu Lasten kommender Generationen. *4)

Und zu den Liberalen analysiert Frau Schunke: „Die FDP ist immer noch zu gefangen in diesem selbstreferentiellen politischen System und regiert zu gerne mit, als dass man diese Chance begreift, den Platz füllt und ein liberales Gegengewicht zu diesem Überschuss an sozialdemokratischen Positionen innerhalb des politischen Spektrums bildet. Ja, von der FDP bin ich am meisten enttäuscht.“ *1)

Deutschlands Politik ist auf Wahlkampf, damit auf „Spagat-Politik“, die Politik des Sowohl-Als-Auch, geschaltet. Parteiräson und Wahlgeschenke für Regierungsmacht werden das kommende Jahr bestimmen.

Blicken wir auf der Suche nach dem Kompass auf ein anderes Land, auf das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland (UK), tief gespalten nach dem Brexit-Ergebnis des Referendums zur EU-Mitgliedschaft. Zumal die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung ein wesentlicher Einflußfaktor dieses Desasters war.

Ein langjähriger Gesprächspartner wichtiger deutscher Sozialdemokraten im UK, der Politikwissenschaftler und Historiker Professor Anthony Glees, hat diesen Zusammenhang vorausgesehen.

„Die Politik der Bundesregierung im September letzten Jahres, über eine Million Flüchtlinge nach Deutschland einzuladen — das war ein sehr schwerer Schlag für den Durchschnittswähler in Großbritannien. Denn sie haben verstanden, dass — auch wenn diese Menschen nach Deutschland eingeladen wurden — in dem Augenblick, wo sie die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen, sie auch nach Großbritannien ziehen könnten.“ *5)

Mit der von Merkel einseitig, ohne jede Abstimmung mit den europäischen Nachbarn ausgerufenen „Willkommenskultur“ hätten Emotionen statt Vernunft die Politik bestimmt. Somit konstatierte Professor Glees nach der Entscheidung des fatalen Referendums: „Merkels Politik im vergangenen Jahr — die Öffnung der Grenzen — hat definitiv zu diesem Ergebnis beigetragen. Sie hat den Eindruck vermittelt, dass die Grenzen nicht mehr unter Kontrolle sind. Das war ein Fehler.“ *6)

Dieser europäische Flurschaden der deutschen Flüchtlingspolitik sollte Anlass genug sein, im UK nach Antworten auf das Desaster des Brexit zu suchen. Wie findet das gespaltene Land einen „Kompass für politisch Heimatlose“, für Bürgerinnen und Bürger des UK, die sich mit diesem Ergebnis des Referendums nicht abfinden können?

Die Antwort: Herausragende Staatsmänner schweigen nicht, sondern beziehen Position. Gleichgültig, ob Ablehnung oder gar Hass ihnen entgegenschlägt. Wer dieses Risiko im UK nicht kennt, der möge sich mit der Härte von Kampagnen in der britischen Boulevardpresse beschäftigen.

In dieser Lage für das UK haben sich die ehemaligen Premierminister Sir John Major (1990 bis 1997) und Tony Blair (1997 bis 2007) im Interesse ihres Landes für die Möglichkeit ausgesprochen, ein zweites Referendum zur britischen Mitgliedschaft in der EU durchzuführen.

Sir John Major argumentierte gegen „the tyranny of the majority“, die nicht die Bedingungen eines Austritts aus der EU diktieren könne, schon gar nicht angesichts der Bedeutung dieses Themas und der Tatsache, dass eine sehr große Minderheit für den Verbleib in der EU gestimmt habe.

Tony Blair erklärte, die Option eines erneuten Referendums auszuschließen, sei wie der Tausch eines Hauses, bei dem man das andere Haus nicht gesehen habe.

Zur Reaktion in Kreisen extremer Brexit-Befürworter und einiger Medien stellte der angesehene Journalist Andrew Rawnsley fest: Blair und Major verdienen nicht derartige Gehässigkeit, weil sie sich an der Brexit-Debatte beteiligen. *7) Rawnsley begrüßte das öffentliche Engagement beider Staatsmänner, weil es helfe, die Ausgewogenheit der Debatte wiederherzustellen. Denn derzeit dominierten Brexit-Hardliner die Auseinandersetzung.

Sir John Major und Tony Blair hätten zwar mit der von Premierminister Stanley Baldwin (im Amt von 1923 bis 1937) begründeten Tradition gebrochen, „den Nachfolgern keine Belehrungen zu erteilen“ *7).

Jedoch bezweifle er, Rawnsley, „dass selbst auferlegtes Schweigen das Beste sei, was wir unter allen Umständen von früheren Regierungschefs erwarten sollten.“ *7) Ex-Premierminister könnten wertvolle Quelle von Erfahrung und Rat sein. Und wenn ehemalige Regierungschefs urteilten, dass das UK Gefahr laufe, sich in eine verhängnisvolle Richtung zu bewegen, „hätten sie nicht nur das Recht, sondern die Verpflichtung, das Wort zu ergreifen.“ *7)

Hinzu komme, dass viele Politiker — bei den Konservativen wie bei Labour — in Sorge um die Wiederwahl bei stark polarisierter Stimmung sowie gespaltener Partei und Parteiführung sich bedeckt hielten.

Für Sozialdemokraten sind die Überlegungen Tony Blairs zu den Herausforderungen unserer Zeit von der Relevanz, die seiner historischen Führungsleistung zukommt.

Tony Blairs Erfolg beruhte auf der Führungskraft, mit der er seine Labour-Party von der traditionellen Klientel-Politik des „tax and spend“ und von der gewerkschaftlichen Dominanz befreite. Dann als „New Labour“ in die Regierungsverantwortung und eine historisch bedeutende Reformpolitik für die Mitte der Wählerschaft führte.

Der Historiker und Politikwissenschaftler Richard Carr fasst Blairs politische Wirkung in das Urteil: „He forged a centre ground that lasted five British election cycles between 1997-2015, from when his party won government until the Conservatives won power in their own right. Though that world is now shifting, this is hardly a negligible achievement. So when Blair speaks, we should listen.“ *8)

Tony Blair kommentierte das Brexit-Referendum mit folgenden Überlegungen. *9)

Die Brexit-Kampagne sei wenig aufklärend, vor allem ideologisch und mit Unterstützung durch ein sehr mächtiges Medien-Kartell auf Seiten der politischen Rechten geführt und gewonnen worden.

Letztlich zähle die „pain-gain, cost-benefit“-Bilanz des Ergebnisses der Verhandlungen mit der EU. Wären die Briten bereit, einen Austritt aus der EU und einen Ausschluss aus dem Gemeinsamen Binnenmarkt der EU auch um den Preis härtester wirtschaftlicher Restrukturierung über die Dauer vielleicht eines Jahrzehnts hinzunehmen?

Es komme jetzt darauf an, die Frage des Brexit praktisch und nicht ideologisch zu analysieren. Die Briten, auch die Brexit-Befürworter (Raus aus der EU) sollten sich folgendes überlegen: „We took this decision, we took it before we saw what its consequences are; now we see its consequences, we’re not so sure“. *9)

Letztlich sei es Befugnis des Parlamentes und des Landes, das Ergebnis von Verhandlungen über ein Ausscheiden aus der EU zu prüfen. Und dann könne der Brexit durch die Briten abgewendet werden, wenn ihr praktisches, nicht ideologisches Urteil laute, dass die „pain-gain, cost-benefit analysis“ für den Verbleib in der EU spreche.

Besonders ermutigend für Freunde des UK ist der Entschluss Tony Blairs, in dieser kritischen Zeit seine Möglichkeiten zu nutzen, um eine „politische Plattform“ aufzubauen. Diese Plattform solle der Debatte von politischen Ideen und der Formulierung von Lösungen dienen. Als Dienstleistung für die Verantwortlichen in der „front line of politics“. *9)

Dieser Ansatz erscheint Tony Blair aus folgendem Grund geboten: „The thing that’s really tragic about politics today is that the best ideas about politics aren’t in politics.“ *9) Die besten Ideen zur Veränderung der Welt habe Blair im Technologie-Sektor gefunden. Und seine „Politik-Plattform“ sei der Untersuchung gewidmet, welche Arten von Ideen weiterentwickelt und für politische Lösungen angeboten werden können.

Der globalisierungsfeindliche, nationalistische Populismus werde die Politik des Westens in eine schwere Krise führen, wenn dem nicht entschieden entgegen gewirkt werde.

Blair konstatiert: „I’m dismayed by the state of Western politics, but also incredibly motivated by it. I think in Britain today, you’ve got millions of effectively politically homeless people.“ *9)

Die Konflikte in der neu aufkommenden politischen Ordnung der westlichen Demokratien hätten weniger mit der Gegnerschaft zwischen „Links“ und „Rechts“ zu tun als vielmehr mit dem Konflikt zwischen einer „weltoffenen“ und einer „geschlossenen“ Ordnung.

Der Populismus der „Rechten“ und der „Linken“ träfen sich in der gemeinsamen „isolationistischen“ Propaganda. Mag die „Linke“ eher „Anti-Wirtschaft“, die „Rechte“ eher „Anti-Migration“ agieren — beide vereine der protektionistische Irrglaube, die Globalisierung sei Ergebnis von Regierungspolitik und könne und sollte gestoppt werden.

Dem stellt Blair seine Sichtweise entgegen: Die Globalisierung ist eine Kraft, getrieben von den Menschen, dem technologischen Wandel, der Art wie sich die Welt öffnet und sich einander zuwendet. Dieser Prozess könne nicht umgekehrt werden.

Die entscheidende politische Frage unserer Zeit sei, wie dieser Prozess gerecht und fair gestaltet werden könne: „The centre left does not provide an answer to that, and we can and should.“ *9)

Die politische Antwort auf den Prozess der Globalisierung liege nicht in der Ablehnung, sondern in der Akzeptanz, auch der freien Marktwirtschaft und der offenen Gesellschaft. Denn die Welt werde sich weiter öffnen und integrieren: Technologie, Tourismus, Migration, Handel bringen die Länder der Welt zueinander und führen aus der Armut, wie die Entwicklung der letzten Jahrzehnte eindrucksvoll belege.

Die Politik habe die Aufgabe, den Menschen diese Zusammenhänge zu erklären, den Sorgen der Menschen durch klare politische Positionen zu entsprechen. Wenn die Menschen erkennen, dass Ordnung, Regeln, Kontrollen Bestand haben — dann könne auch eine sensible Migrationspolitik begründet und akzeptiert werden.

Die Geschichte zeige eine Richtung — hin zu Fortschritt. Es gebe keinen Anlass zu Pessimismus in unseren Ländern. Dennoch können Populisten die Ängste von Menschen ausnutzen, wenn die progressiven Kräfte nicht durch realistische und sensible Politik den Bürgern begründete Hoffnung auf Wohlstand und Sicherheit vermitteln.

Die Lehre dieser Zeit sei, so Tony Blair, dass in einer Welt neuer Unsicherheiten die Menschen eine Regierung wünschen, die Klarheit über die politische Richtung, Kontrolle über ihr politisches Programm und Handeln beweist. Eine Regierungsführung, die trotz krisenhaften Geschehens klarstellt, wie ihr Handeln die Zukunft sichert.

Auf der Grundlage der angemessenen Politik müsse die moderne politische Arbeit auf dem heutigen Stand der Informations- und Kommunikationstechnik eine Plattform von Verbindungen und Netzwerken aufbauen, um die Propaganda der Populisten überzeugend zurückzuweisen.

Nehmen wir diese Einsichten Tony Blairs als Maßstab und Vorgabe für die Beurteilung der Politik — im UK, in der EU, in Deutschland. Als Kompass für politisch Heimatlose.

*1) RATLOS. Parteien — ihr habt mich politisch heimatlos gemacht. Von Anabel Schunke, 16. Mai 2016, http://www.tichyseinblick.de/ . (Hervorhebung RS).

*2) Fietz am Freitag. Plötzlich AfD? Was wir aus Diskussionen im Bekanntenkreis lernen können. Freitag, 02.12.2016, von FOCUS-Online-Korrespondentin Martina Fietz. (Hervorhebung RS).

*3) So der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Thomas Rachel, auf dem Bundesparteitag der CDU in Essen am 06.12.2016. Das „C“ diene dem Sieg der Vernunft über das Ressentiment und dem Brücken bauen.

*4) „Es ist höchste Zeit, dass die Politik einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel einleitet. Die Menschen realisieren, dass die gegenwärtige wirtschaftspolitische Strategie der Wahlgeschenke und des Ruhigstellens nicht nachhaltig ist und Deutschland langfristig schwächen wird. Die Bundesregierung wird nicht vermeiden können, etwas der bitteren Medizin selbst einzunehmen, die sie den europäischen Nachbarn verschrieben hat: Strukturreformen, weniger Wahlgeschenke und nachhaltige Investitionen in die Zukunft durch eine bessere Infrastruktur, stärkere Bildung und mehr Marktwirtschaft.“ (Marcel Fratzscher).

Siehe: GERECHTIGKEIT. Was Deutschland fehlt. Die SPD schlägt in der Flüchtlingskrise vor, mehr für die eigene Bevölkerung zu tun. Wahlgeschenke aber wurden schon viele verteilt, es muss langfristig gedacht werden. VON Marcel Fratzscher, 01. März 2016; http://www.zeit.de/wirtschaft/2016-02/ungleichheit-konjunktur-gehaelter-vermoegen- investitionen.

*5) Brexit: „Wir müssen alle vernünftiger werden“. Soll Großbritannien aus der EU austreten oder in ihr verbleiben? Ganz gleich, wie das „Brexit“-Referendum ausgeht: Danach werden weder Großbritannien noch die EU dieselben sein wie heute. Deshalb verfolgt der britische Zeithistoriker und Politologe Anthony Glees, Professor an der University of Buckingham, die Entscheidung umso aufmerksamer.

Stand: 23.06.2016; http://www.ndr.de/kultur/Anthony-Glees-ueber-moeglichen-Brexit.

*6) „Eine Abgeordnete ist schon gestorben“. Nach Brexit-Schock: Großbritannien-Experte warnt vor Unruhen im Land.

Samstag, 25.06.2016, von FOCUS-Online-Redakteurin Anja Willner

Der britische Politikwissenschaftler Anthony Glees sieht in der Brexit-Entscheidung einen Triumph derjenigen, die in Großbritannien Stimmung gegen Einwanderer machen. Selbst Unruhen schließt er nicht aus, wenn britische Politiker nun nicht handeln. Im Interview mit FOCUS Online erklärt Glees, was die Briten jetzt von Brüssel erwarten können — und warum für ihn Merkel eine Mitschuld am Brexit hat.

*7) Blair and Major don’t deserve this venom for joining Brexit debate. Andrew Rawnsley. The two former prime ministers are right to join the fray and they can help to rebalance the argument. Sir John Major and Tony Blair have both called for a second referendum. Sunday 27 November 2016; https://www.theguardian.com › Opinion › EU referendum and Brexit.

*8) Tony Blair is back — but is there space for him? Richard Carr. November 25, 2016; theconversation.com/tony-blair-is-back.

*9) UK. 24 NOVEMBER 2016. Tony Blair’s unfinished business. The former prime minister on Trump, Brexit, Corbyn and his return to public life in an attempt to revive „the progressive centre“. Will anyone listen? BY JASON COWLEY; http://www.newstatesman.com/politics/uk/2016/11/tony-blair. (Hervorhebung RS).