Verdrehte Politik?

e nach Meinung: Aleppo gefallen, wieder eingenommen oder befreit — verdrehte Berichte im Spannungsbogen von den Vereinten Nationen (UN), dem „Gewissen der Welt“ (Kofi Annan), bis zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), dem „Leuchtturm“ (Steinmeier) von Vancouver bis Wladiwostok. „Twisted narratives“ nennt dies die Journalistin Janine di Giovanni angesichts der Hölle von Aleppo. *1)

Bürger können versuchen, die Verdreher von Politik und Fakten zu identifizieren. Oder zumindest abwägen, wem sie Glaubwürdigkeit zurechnen wollen.

Ist die Zeit reif für Dialog mit Russland, für eine europäische Friedensbewegung? Oder ist es Zeit für Widerstand gegen russische Bedrohung der baltischen EU-Nachbarn und für neue Sanktionen gegen Russland und seine Verbrechen am Kriegs-, Völker- und Menschenrecht in der Ukraine und in Syrien?

Suchen wir in den Medien nach Anhaltspunkten.

• Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, orientierte uns mit der Feststellung: „Wir alle haben das syrische Volk im Stich gelassen. Der Sicherheitsrat hat seine vornehmste Pflicht und wichtigste Aufgabe nicht wahrgenommen: Frieden und Sicherheit zu bewahren. Die Geschichte wird uns nicht einfach entlasten.“ *2) Der Grund: Blockade durch Russlands Veto.

• Die amerikanische UN-Botschafterin Samantha Power im UN-Sicherheitsrat zum russischen und zum syrischen UN-Botschafter: „Ihr solltet euch schämen! Gibt es nichts, was euch noch die Scham ins Gesicht treibt? Gibt es keinen Akt der Barbarei, keine Hinrichtung eines Kindes, die euch unter die Haut geht, keine Fakten, über die ihr nicht lügt?“ *2)

• Ein Sprecher der UNO habe Meldungen bestätigt, wonach Milizen des Regimes in mehreren Vierteln Zivilisten in ihren Häusern oder auf der Strasse erschossen hätten. Es lägen Berichte von insgesamt mindestens 82 exekutierten Zivilisten in vier verschiedenen Stadtvierteln vor, sagte Rupert Colville, der Sprecher des UNO-Menschenrechtskommissars für Syrien. Der norwegische Sozialdemokrat Jan Egeland urteilt, „Russland und Syrien müssten für Gräueltaten von Milizen auf ihrer Seite zur Rechenschaft gezogen werden.“ *3)

• Botschafter Jürgen Chrobog: „Es ist ein Verbrechen, was dort passiert in Syrien. Es ist unerträglich, dem beizuwohnen. Aber wir haben keine Chance, in irgendeiner Weise hier etwas zu tun als Westen, um das zu verhindern, was weiterhin auch noch dort passiert.“ *4)

• Der scheidende US-Präsident Barack Obama verurteilte die russischen Bombardements in Syrien. In Aleppo würden Kinder getötet und Schulen zerstört. Obama hatte die russische Militär-Intervention in Syrien seit 2015 an der Seite Baschar al-Assads stets scharf kritisiert. *5)

• Der Vorsitzende der Münchener Sicherheitskonferenz, Botschafter Wolfgang Ischinger, hält die Syrienpolitik des Westens für wenig glaubwürdig: „Man kann nicht die Absetzung eines Diktators fordern, dann die Hände in den Schoß legen und hoffen, dass er freiwillig abtritt: Mit dem Verlust seiner Glaubwürdigkeit hat der Westen auch die Fähigkeit verspielt, der syrischen Bevölkerung zu Hilfe zu kommen.“ *6)  Wer hier einen Fingerzeig auf die USA, die “rote Linie“ der Syrienpolitik Obamas sieht, der irrt. Bekanntlich weisen dabei drei Finger auf die EU und Deutschland zurück.

Hoffen auf Präsident Donald Trump?

• Diese Hoffnung kommentiert der österreichische Journalist Hans Rauscher: Es gebe Fakten, die uns Europäer nervös machen sollten: Der russische Geheimdienst habe Filmaufnahmen von … einem Moskauer Hotelzimmer, „die einen großen Amerikaner mit Orangehaar zeigen. Das ist mit größter Wahrscheinlichkeit nicht wahr, ist aber heißer Gesprächsstoff auf allerlei Blogs und in der politisch-journalistischen Klasse … Europa ist auf Trumps Agenda weit unten, auf der Putins weit oben.“ *7)

Hoffen auf Partnerschaft mit Russland?

Gernot Erler — der Sonderbeauftragte für den OSZE-Vorsitz der Bundesregierung 2016 und Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft — hat eine positive Bilanz des OSZE-Außenministerrates in Hamburg (8/9.12.2016) gezogen. Die hohe Zahl an Mitgliedstaaten, 57 Länder, ermögliche, „über die großen Probleme in der Welt zu sprechen … auch über Syrien, gar kein Thema für die OSZE“.

Syrien, gar kein Thema für die OSZE? Wenn der eurasische OSZE-Mitgliedsstaat Russland den Massenmörder Assad mit Kriegsverbrechen gegen das syrische Volk unterstützt, derzeit 500 Tausend Tote, Millionen Flüchtende und Hunderttausende syrischer Menschen in Deutschland?

„Syrien, gar kein Thema für die OSZE“ — so unser OSZE-Beauftragter Erler über die OSZE, die „werteorientierte kollektive Sicherheitsorganisation, wie sie es in dieser Form nicht noch einmal auf der Welt gibt.“ (Erler). *8) „Werteorientierte Sicherheitsorganisation“: Diese vage, mehrdeutige Formulierung Erlers zeigt schon, dass es in der OSZE keine gemeinsamen und verbindlichen Werte gibt, die OSZE also keine „Wertegemeinschaft“ ist. Als Beleg lese man die Rede Lawrows gegen den Westen und dessen angebliches „Aufzwingen eigener Werte auf andere Länder“ oder Steinmeiers Klage über „Relativismus“ und „Beliebigkeit“ in der Anwendung und Interpretation der Werte und Grundsätze der OSZE.

• Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat im Jahre 2016 Dialog und Zusammenarbeit mit Russland v.a. im Rahmen der „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE) propagiert.

Beim russischen Außenminister Sergej Lawrow warb Steinmeier als amtierender OSZE-Vorsitzender für einen „erneuerten Dialog, um verloren gegangenes Vertrauen wieder aufzubauen … Gerade in stürmischen Zeiten wie diesen brauchen wir die OSZE als Leuchtturm, der auch Orientierung geben kann.“ *9) In Hamburg das OSZE-Außenministertreffen in kritischer Zeit ohne Ergebnis — wo ist die „Orientierung“ durch den „Leuchtturm“, Herr Außenminister?

An der Ural Federal University Jekaterinburg hatte Steinmeier in Anwesenheit seines Kollegen Sergej Lawrow in ganz besonderer Weise um Zusammenarbeit mit Russland in Syrien geworben: „Wenn endlich eine Zeit des Wiederaufbaus in Syrien kommt, dann sollten besonders Deutschland und Russland Hand in Hand arbeiten — in Palmyra, in Aleppo oder in Homs, um nur diese Beispiele zu nennen. Von deutscher Seite haben wir in dem Projekt „Stunde Null“ unsere Kräfte hierfür gebündelt und ich würde mich sehr freuen, wenn Russland das Angebot der Zusammenarbeit annehmen würde!“ *10)

• Die „Stunde Null“ ist gekommen. Nachdem Syrien in Trümmern liegt, Putin und Assad „siegreich“ gemordet haben, scheint für Steinmeier der Moment der Freude nah — Russland nimmt sein „Angebot der Zusammenarbeit“ an: „Wir sind offen für einen intensiven und für beide Seiten vorteilhaften Dialog in zentralen Fragen der Außenpolitik und wir sind auch bereit zu einer militärischen Zusammenarbeit“ — der russische EU-Botschafter und frühere Vize-Außenminister Wladimir Chizhov *11)

• Derweil informiert der russische UN-Botschafter Witali Tschurkin den UN-Sicherheitsrat: „In Aleppo werde nicht mehr gekämpft. Die Gräueltaten: Propaganda. Die Täter: Terroristen. Und zur amerikanischen UN-Botschafterin Samantha Power: ´Sie führen sich hier auf wie Mutter Teresa! Reden sie doch darüber, was Ihr Land alles angerichtet hat, bevor sie von der hohen moralischen Warte aus predigen.`“ *2)

„Twisted narratives“ — je nach eigener Meinung mag sich der Bürger an den hier zusammengestellten Informationen aus Medien orientieren.

Von unten nach oben oder umgekehrt — so verdreht wie die Politik derzeit erscheint.

*1) Twisted narratives won’t spare Aleppo a moment of its agony. Janine di Giovanni;

https://www.theguardian.com/commentisfree/2016/dec/14/aleppo-syria-assad-war-crimes. Janine di Giovanni in einem tweet: „Today I feel like a failure. Nearly 25 years reporting war crimes has added up to nothing. We said ´never again`. What happened? Aleppo“.

*2) Bürgerkrieg in Syrien. Ban Ki-moon wirft Sicherheitsrat „erbärmliches Versagen“ vor. Von Georg Schwarte; 14.12.2016, http://www.hr-online.de/website/radio/hr-info/index.jsp?

*3) Kriegsverbrechen in Syrien. Waffenruhe in letzter Minute für Aleppo, von Monika Bolliger, Beirut 13.12.2016, http://www.nzz.ch/international/kriegsverbrechen.

*4) „Tillerson lässt nichts Gutes erwarten“. Die Entscheidung des designierten US-Präsidenten Donald Trump, den Konzernchef Rex Tillerson zum Außenminister zu machen, stößt in Deutschland auf Kritik. Der frühere deutsche Botschafter in den USA, Jürgen Chrobog, sagte im DLF, diese Wahl lasse nichts Gutes erwarten — außer für Russland. Jürgen Chrobog im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker. 14.12.2016, http://www.deutschlandfunk.de/juergen-chrobog-tillerson.

*5) POLITIK. APEC-GIPFEL. Obama wenig zuversichtlich im Syrien-Konflikt. Auch bei ihrem vorerst letzten Treffen kamen sich Obama und Putin nicht näher. Der scheidende US-Präsident verurteilte erneut die russische Unterstützung für Assad. 21.11.2016; http://www.zeit.de/politik/2016-11/apec-gipfel-barack-obama-wladimir-putin-syrien.

*6) Sicherheitsexperten zu Syrien. „Der Westen hat in seine Glaubwürdigkeit verloren“. Wer hat Schuld am Konflikt in Syrien? Machthaber Assad? Russlands Präsident Putin? Führende Sicherheitsexperten kritisieren auch das Verhalten des Westens. 14.12.2016; faz.net.

*7) Europa in der Zange zwischen Trump und Putin. KOLUMNE HANS RAUSCHER. 13. Dezember 2016, derstandard.at/2000049250147/Europa-in-der-Zange-zwischen-Trump-und-Putin.

*8) OSZE-Ministertreffen. „Die Möglichkeit zum Dialog wurde genutzt“. Deutschlandfunk. Gernot Erler im Gespräch mit Stefan Heinlein; http://www.deutschlandfunk.de/osze-ministertreffen, 10.12.2016. Der OSZE-Beauftragte Erler hätte erwähnen können, dass es vor allem die von Russland gesteuerten Separatisten sind, von denen die OSZE-Beobachtermissionen in der Ostukraine massiv behindert werden.

*9) OSZE-Tagung in Hamburg. Lawrow relativiert Aussagen zu Aleppo. Zunächst hieß es, die syrische Armee habe ihre Militäroffensive in Aleppo gestoppt. Nach Berichten über anhaltende Bombardements in der Syrischen Metropole erklärte Russlands Außenminister Sergej Lawrow nun, es habe sich nur um eine „humanitäre Unterbrechung“ der Angriffe gehandelt. 08.12.2016, http://www.deutschlandfunk.de/osze-tagung-in-hamburg.

*10) Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier an der Ural Federal University Jekaterinburg. 15.08.2016; www.auswaertiges-amt.de.

*11) Russland hat der Europäischen Union bei Kriseneinsätzen eine militärische Zusammenarbeit angeboten. DTS-Meldung vom 14.12.2016.