Politikeliten kommunizieren.

Martin Schulz hat erklärt: „Ich werde nun von Berlin aus für das europäische Projekt kämpfen“, dafür nehme er den „Platz eins der nordrhein-westfälischen SPD-Landesliste bei der Bundestagswahl 2017″ an. *1) Und Sigmar Gabriel sagt dazu: „Eine schlechte Nachricht für Europa, eine gute Nachricht für Deutschland.“

Ganz schön pompöser Ton für eine Personalfrage, für einen schon vor Jahren zwischen den christ- und sozialdemokratischen Fraktionen im Europäischen Parlament fest vereinbarten Wechsel im Amt des Parlamentspräsidenten. Martin Schulz erspart seiner Fraktion den Wortbruch und die Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, Hannelore Kraft, regelt die Sache mit „Platz eins“. Nicht die NRW-SPD-Delegierten, geschweige denn die SPD-Mitglieder in NRW werden gefragt.

Bürger Deutschlands mögen Sigmar Gabriel, Bürger Europas Martin Schulz gewählt haben. Damit haben sie weder Herren Deutschlands, noch Herren Europas gewählt. Sondern — wie Tony Blair einst seiner Apparatschik-Partei immer wieder einhämmerte — Persönlichkeiten, die sich für den Dienst am Bürger bewerben. Die Staatsbürger, die Wählerinnen und Wähler sind die Kunden, denen auch Sigmar Gabriel und Martin Schulz zu dienen haben, wenn sie von jenen mit dem politischen Dienst beauftragt werden.

Legitimiert durch das Grundgesetz (GG), das „sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt“ (Präambel GG) gegeben hat, „(wirken) die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ (Artikel 21 GG). Im Auftrag dieser Verfassung des Deutschen Volkes leisten die Parteien politischen Dienst für die Bürger, indem sie Interessen in der Zivilgesellschaft feststellen, Programme entwickeln, Mehrheiten organisieren, Kompromisse suchen, Entscheidungen vorbereiten, im Wettbewerb der Parteien um Zustimmung der Bürger werben. Die „politische Willensbildung des Volkes“ entscheidet in Wahlen, welchen Parteien Regierungsmacht auf Zeit im Dienst für die Bürger geliehen wird.

Vielleicht sollten Gabriel und Schulz, die Repräsentanten der “politischen Klasse“, die Grundsatzrede Präsident Obamas zur Demokratie in Athen am 16.11.2016 zur Kenntnis nehmen: „Wir müssen deutlich machen, dass der Staat existiert, um den Interessen der Bürger zu dienen, und nicht umgekehrt … das wichtigste Amt in einem Land (ist) nicht das des Präsidenten oder Ministerpräsidenten. Der wichtigste Titel ist der des Staatsbürgers.“ (Amerika Dienst).

Deshalb hat die Personalfrage „Martin Schulz“ nicht entfernt den Rang einer guten oder schlechten Nachricht für Europa oder für Deutschland.

Aus der Binnensicht sozialdemokratischer Politik-Eliten mag sich das anders darstellen, denn sie fühlen den Wettbewerb um die politischen Ämter stärker als das Urteil von Bürgern, was diese als schlechte oder gute Nachricht erachten: Zum Beispiel die Lage der Wirtschaft, die Entwicklung von Löhnen und Gehältern, von Kosten für Lebensmittel, Wohnen, Energie und öffentliche Dienste, Sorgen vor neuen Steuerplänen, die Bedrohung durch die Aggressionspolitik Russlands in der europäischen Nachbarschaft, die Migration von Millionen nach Europa.

Ganz im Sinne des Demokratieverständnisses von Präsident Barack Obama hat nicht die elitäre “politische Klasse“, nicht Gabriel, nicht Schulz, nicht Parteipropaganda zu definieren, ob ein Wechsel bei politischen Führungspositionen eine gute oder schlechte Nachricht für Europa oder Deutschland ist.

Solche Urteile stehen allein dem Staatsbürger zu, dem Wähler! Andernfalls kapitulierte der Staatsbürger vor anmaßendem Bonzentum! Zu solcher Sorge des Staatsbürgers passt, dass gerade Sigmar Gabriel häufig das “Gemeinwohl“ nicht mit dem Wettbewerb der Parteien um die politische Gestaltung und Regierungsführung, sondern durchaus anmaßend mit seiner eigenen Politik verbindet: Wir „Sozialdemokraten (werden) dafür sorgen, dass endlich wieder das Gemeinwohl in den Mittelpunkt der Politik zurück kehrt“ (Rede Gabriels auf dem SPD-Bundesparteitag 2012).

Der Wettbewerb zwischen den Parteien um den Auftrag der Wähler ist hart, und das ist auch gut so. Die Bürger als Kunden sind nicht verpflichtet, es ihren politischen Auftragnehmern leicht zu machen. Denn schließlich bezahlen sie diese Diener des demokratischen Staates.

Schon 2004 kalkulierte Prof. Karl-Heinz Naßmacher: „Auf eine durchschnittliche Wahlperiode von vier Jahren bezogen liegt die Summe aller Ausgaben aller Parteien auf allen Organisationsebenen bei 1,5 Milliarden €; im Jahresdurchschnitt einer Wahlperiode bei ungefähr 380 Millionen €.“ *2)

Der von Naßmacher 2004 ermittelte jahresdurchschnittliche Betrag der Parteiausgaben mag sich, grob geschätzt, bis Ende 2015 auf rd. 470 Mio. € erhöht haben — um gut 23 Prozent, etwa wie der Nominallohnindex (Statistisches Bundesamt). Direkt oder indirekt (z. B. über steuerliche Absetzbarkeit von Mitgliedsbeiträgen und Spenden) trägt der Staat und damit letztlich der Staatsbürger einen Großteil dieser Kosten der Demokratie.

Wir freiheitlich und demokratisch gesinnten Bürger mögen hoffen, dass unsere Demokratie nicht zu knapp finanziert ist. Denn wir brauchen den Wettbewerb der Parteien für demokratisch kontrollierte Regierungsführung und den Ausgleich widerstreitender Interessen.

Darüber hinaus kommunizieren die Parteien mit den Kunden, mit den Bürgern, um ihre Politik zu erklären, für die Partei zu werben.

Dafür schulen die Parteien ihre Führungskräfte. Nehmen wir ein Beispiel: „Die Sprache der Macht. Rollen-, Macht- und Statusspiele. Der Workshop setzt sich inhaltlich mit den Themen „Macht und Sprache“, „Stereotype und Rollenzuschreibungen“ und den daraus abgeleiteten „Gesprächsstilen und Gesprächsstrategien“ auseinander. Die Teilnehmer/innen reflektieren ihr persönliches Sprach- und Rollenverhalten, schärfen die Wahrnehmungen in Bezug auf Macht- und Statussignale und deren Wirkung. Sie trainieren situationsangemessenes Rollenverhalten und unterschiedliche Handlungsoptionen. Sie stärken und trainieren die eigene Durchsetzungsfähigkeit im Umgang mit Manipulations- und Machtstrategien.“ *3)

Wer Kurse für solch kaum bürgernahe „Sprache der Macht“ erfolgreich durchlaufen hat, der wird sich zur Machtelite zählen wollen …

Für ihre Aufgaben benötigen Parteien eine angemessene materielle Infrastruktur und bestens geschultes Personal. Dafür unterhalten die Parteien die Führungsakademien bzw. Parteischulen. Auch die parteinahen politischen Stiftungen bilden für Aufgaben in unserer Demokratie aus. Zum Beispiel durch Stipendien im Rahmen ihrer Studienförderung. Da scheint das abgehobene „Elite“-Gedöns schon zu beginnen.

Hier ist ein Student, Jens Wernicke, der mit einem Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung „Medienkultur“ an der Bauhaus-Universität Weimar studiert. Herr Wernicke kritisiert das System der Studienförderung als „Elitenfördermaschine“. *4)

Nicht weil er es ablehnt, sich als Teil künftiger „Eliten“ zu verstehen. Vielmehr meint er wohl, dass die Förderwerke, die den Parteien, den Gewerkschaften oder der Wirtschaft nahestehen, die Grundsätze ihrer „Eliteförderung“ zu eng an Leistungsnoten binden.

In diesen Fördergrundsätzen heißt es: „Für die Zukunftsgestaltung unserer Gesellschaft ist nicht allein die Beherrschung rein fachspezifischer Gegenstände maßgeblich, für die ein Zuwachs an Expertenwissen ausreicht. Eliten – dieser Plural ist in einer weltoffenen Gesellschaft unverzichtbar – lassen sich in einem demokratischen Gemeinwesen daher nicht als bloße Funktionseliten verstehen, sondern bedürfen der Rückbindung an Wertmaßstäbe. Verantwortungseliten müssen zusätzlich die Fähigkeit haben, sich mit Phänomenen wie wachsender Unsicherheit und Intransparenz auseinanderzusetzen und mit zunehmender Komplexität, Vernetzung und Dynamik umgehen können.“ *4)

Der Stipendiat Jens Wernicke kritisiert nun in eindrucksvoller Offenheit: „Aus dieser Orientierung an primär Noten und erst sekundär Engagement ergibt sich, und hier habe ich die Luxemburg-Stiftung immer kritisiert, auch eine soziale Selektion, da es Kindern aus bildungsfernen, nichtakademischen Elternhäusern oft ungleich schwerer fällt, gute bis sehr gute Ergebnisse zu erzielen. Für gesellschaftspolitisches Engagement bleibt dann entweder gar keine Kapazität mehr oder es geht dieses eben zulasten der Noten, was wiederum die Chancen auf ein Stipendium auch bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung senkt.“ *4)

Jedem jungen Menschen, der eine akademische Ausbildung anstrebt und wegen seiner Herkunft von Ängsten geplagt wird, den Anforderungen oder den Prüfungen nicht gewachsen zu sein, ist die Lektüre der Interviews von Herrn Wernicke und anderen Stipendiaten auf der Seite „Arbeiterkind.de“ zu empfehlen. Neben dem fachlichen Selbststudium mit Internet, open library und Büchern …

Gerade von Stipendiaten wie Jens Wernicke dürfen die Bürger hoffentlich erwarten, dass sie nach erfolgreichem Abschluss ihres Studiums im weiteren Berufsleben keine „elitären“ Allüren entwickeln. Obwohl sie vielleicht zu oft als Elite, Funktions- und Verantwortungselite, tituliert wurden. Doch haben sie sicher in der Wissenschaft und im Bewusstsein des Privilegs, studieren zu dürfen, Bescheidenheit und Engagement für die Anliegen der Steuerzahler und die bildungspolitisch Benachteiligten unserer Gesellschaft gelernt.

Und mit diesem hoffnungsvollen Vermerk sei erlaubt, auf den Ausgangspunkt dieser Reflektion zurückzukommen: Auf die Sozialdemokraten Sigmar Gabriel, Vorsitzender der SPD, und Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments.

Und auf Sigmar Gabriels aufgeschäumten Satz zum Wechsel von Martin Schulz — „Eine schlechte Nachricht für Europa, eine gute Nachricht für Deutschland“, ein Satz, der auch Fragen zur personalpolitischen Weisheit des SPD-Chefs aufwirft.

Wäre Martin Schulz als EU-Parlamentspräsident für das repräsentative Amt des Bundespräsidenten nicht bestens vorbereitet gewesen? Wäre seine Kandidatur nicht als eine gute Nachricht für Europa und für Deutschland kommentiert worden? Statt dessen wird Frank-Walter Steinmeier Staatsoberhaupt — kein mitreißender Redner wie Schulz, jedoch ein hoch bewährter und schwer ersetzbarer machtpolitischer Insider mit Kanzlerstatur. Und für Martin Schulz wiederum, einen machtpolitischen Neuling und Außenseiter der „Berliner Republik“, muss eine hochrangige Funktion nun gesucht werden.

Ein richtiger „Elite-Deal“ scheint hier gelaufen zu sein. Für die Bürger sind die Hintergründe solcher Personalentscheidungen ohnehin nicht zu durchschauen.

Wohl deshalb wählt Gabriel für die Kommunikation mit den Wählern zum Wechsel von Martin Schulz nach Berlin die etwas pompösen Worte: „Schlechte Nachricht für Europa“ — vielen Bürgern ist das sicher egal, denkt man an die dürftige Beteiligung bei Europawahlen. „Gute Nachricht für Deutschland“ — das sollte immerhin ankommen.

Warten wir ab. Sigmar Gabriel, der gewiefte Taktiker aus Niedersachsen, wird seinen Wilhelm Busch kennen. Der beschrieb einmal hintergründig aufgeblasenes Reden und Auftreten eines großen Getreidesackes und dessen „öffentliche“ Wirkung mit den Worten: „Sanft raschelten die Ähren: Du wärst ein leerer Schlauch, wenn wir nicht wären!“ Präsident Obama hat diese Einsicht in Athen, der Wiege der Demokratie, wiederholt: „Der wichtigste Titel ist der des Staatsbürgers!“

*1) http://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/parteien/id_79635386/martin-schulz.

*2) Ist unsere Demokratie zu teuer? Von Karl-Heinz Naßmacher; http://www.presse.uni-oldenburg.de/einblicke/39/5nassmacher.pdf; S. 23. Die direkte staatliche Teilfinanzierung für alle Parteien bezüglich ihrer Aufgaben nach dem Grundgesetz unterliegt einer absoluten Obergrenze (Parteiengesetz, § 18): für 2012 150,8 Mio. Euro.

*3) Führungsakademie der sozialen Demokratie. Die vier Kompetenztrainings. Modul 1. Führungsphilosophie – Wirksam führen; http://parteischule-wiki.spd.de/_media/. S. 4.

*4) http://old.arbeiterkind.de/finanzieren/stipendien/stipendiat_rls.html. (Hervorhebung RS).