Seefahrt.

Wer am gestrigen „Totensonntag“ in Hamburg/Altona am Elbufer war, mag die Madonna der Seefahrt betrachtet haben. Das weithin sichtbare bronzene Denkmal ist gewidmet: „Der unvergänglichen See, den Schiffen, die nicht mehr sind und den schlichten Männern, deren Tage nicht wiederkehren.“ (Joseph Conrad).

Wer der Seefahrt verbunden ist, sei es durch Beruf, Sport, Wissenschaft, Literatur oder aus familiären Gründen wird von den Worten Joseph Conrads bewegt, gerade in diesen Tagen Menschen zu erinnern, deren Leben die Seefahrt prägte.

Eine solche Erinnerung soll hier geteilt werden — nicht aus persönlicher Nostalgie, sondern um aus vergangenen Gesprächen, Berichten, Briefen und Dokumenten zu rekonstruieren, wie die Seefahrt ein Leben formte. Das Leben von Paul.

Frühe Liebe zur See.

Paul wurde kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Mecklenburg auf einem Gut an der Ostseeküste nahe der Wismarer Bucht geboren.

Schon der kleine Junge bedrängte bereits in ersten Tagen des Vorfrühlings die besorgte Mutter: Darf ich „baaß“, d.h. ohne Schuhe, raus? Ab über Stock und Stein zum Strand, der — von Korbweiden und Schilf gesäumt — sehr flach in die Ostsee führt. Schon der Fünfjährige war ein begeisterter Schwimmer.

Da half ein paar Jahre später zwar die Kameraderie der Schwimmer und Ruderer im Club „Wismaria“ die elend langen Jahre am Gymnasium in Wismar zu überstehen. Doch kaum dass die Ferien begannen, eilte Paul zum größten Vergnügen — „anheuern“ an Bord des Segel-Kutters befreundeter Fischer für die Drei-Tage-Touren in der Wismarer Bucht, um Aal, Dorsch und Scholle zu fangen.

„Anheuern“ hieß, Paul musste vor Ablegen gehörige Portionen Eier, Speck und Wurst liefern; denn die Fischer litten unter „Fisch-Allergie“, während Paul sich in der Kombüse an Scholle und Dorsch laben durfte. Der Fang wurde in der „Quatsch“, einem durchspülten Wasserkasten vom Deck bis zum Kiel des Kutters, frisch gehalten und auf dem Markt verkauft. Damals ging der Dorsch so reichlich ins Schleppnetz, dass er nicht selten auf dem Hof von Pauls Vater gekocht und an die Schweine verfüttert wurde. Kühlhäuser gab es nicht.

Diese Ferienerlebnisse an Bord befeuerten Pauls Liebe zur See und die Abneigung gegen die Schulbank so sehr, dass die gepeinigten Lehrer und Pauls Vater zum gleichen Schluss gelangten: Lasst ihn Seemann werden, trotz aller Sorgen und Einwendungen der Mutter.

Seemann werden.

Frei nach Wilhelm Busch musste sich Pauls Vater „entschließen, ganz bedeutend zuzuschießen“, um dem maritimen Tatendurst des kaum 16-jährigen Rechnung zu tragen.

Erste Station war die Seemannsschule Finkenwerder am Ufer der Elbe gegenüber von Hamburg-Blankenese.

Drei Monate wurden die jungen Anwärter für den Beruf des Seemanns „intensiv“ geschult. „Intensiv“ hieß, dass gerne die Seilkunde — Knoten schlingen, Taue spleißen — dazu diente, den Wissensdurst und Fleiß der Schüler anzuregen. Nach wenigen Tagen wussten die Jungs, warum der Unterricht als „Tampenschule“ berüchtigt war. (Heute heißt die „Tampenschule“  „Maritimes Kompetenzzentrum“).

Besonders bei einem alten Bootsmann wurde der Tampen fröhlich geschwungen. Da jener jedoch ein außerordentlich unterhaltender Charakter war, kam auch der Spaß nicht zu kurz, solange das Seilende weit genug weg war. Außerdem ließen Übungen auf dem Segelschiff „Großherzogin Elisabeth“ und auf einem großen Modellschiff an Land der Gewandtheit in der Takelage genügend Raum, um losen Tampen zu entwischen.

An Bord der „Magdalene Vinnen“: 1932 — 1936. *)

Nach gutem Abschluss der Seemannsschule Finkenwerder hatte Paul das Glück — zur Zeit der schweren Weltwirtschaftskrise — als Schiffsjunge auf der Viermastbark Magdalene Vinnen (heute „Sedov“) anzuheuern. Das „Anheuern“ vollzog sich nach der gleichen Methode wie seinerzeit auf dem Fischkutter in der Wismarer Bucht: Damals reichten gehörige Portionen Eier mit Speck wegen der „Fischallergie“ der Bootsmannschaft, diesmal musste Vater 1000 Mark berappen — also „Lehrgeld“ zahlen, eine ganze Menge Geld zu jener Zeit, plus Ausrüstung nach Liste der Reederei Vinnen & Co., Bremen.

Die Magdalene Vinnen hatte zuvor monatelang ohne Ladung in Queensborough/England aufgelegen, als ein Auftrag für Fracht von Algeciras/Spanien nach Kapstadt/Südafrika einging. Nun sollte der Großsegler endlich wieder in See stechen.

Der erste Eindruck an Bord war für Paul und acht weitere Schiffsjungen sehr ernüchternd. Ein riesiger Abfallhaufen an Deck stank vor sich hin. Der Qualm der lokalen Industrie hatte die stolze Viermastbark verschwärzt. Weder Kapitän noch Schiffsoffiziere waren zum Empfang der Schiffsjungen angetreten. Dafür traten einige markant tätowierte „Alte“, Matrosen und Leichtmatrosen, ihnen mit Befehlen entgegen.

Paul wurde als Messjunge eingeteilt, bedienen, aufräumen, abwaschen. Kaum hatten die „Alten“ ihre „Plummen und Klöten“ verzehrt, zahlte Paul erneut Lehrgeld. Er hatte nämlich bemerkt, dass ein Handtuch erheblich größer war als ein Geschirrtuch, was das wenig seemännische Abtrocknen des Geschirrs beschleunigte. Dies bemerkte ein kontrollierender Matrose, ein schauerlich tätowierter Hüne, und beförderte Paul mit einem Hieb unter die Back (Tisch). „Falls du es zu Hause nicht gelernt hast, hier herrscht Ordnung, und Geschirr ist mit dem Geschirrtuch abzutrocknen.“ Lektion fürs Leben!

Schließlich trafen Kapitän Peters und die Schiffsoffiziere ein. Ein Schlepper brachte die Magdalene Vinnen die Themse abwärts zur offenen See. Dann die Segel der Viermastbark gesetzt — ein magisches, unvergessliches Geschehen für Paul! Mit über viertausend Quadratmetern Segelfläche stürmte die Magdalene Vinnen über das Meer. Leider drehte später der stark auffrischende Wind und blies aus Süd-West, der Richtung des Fahrtziels, querab von Dover hiess es: „Anker fallen“.

Die Enttäuschung gerade der Schiffsjungen war groß, mit einer Ausnahme. Nach den bisherigen Erfahrungen an Bord hatte sich einer der „Neuen“ fatale eigene Gedanken gemacht. Über die Flüche und Kommentare der Matrosen: „Was brauchen wir an Land zu gehn, wir können Land von Bord aus sehn.“ Dieser eigenwillige „Neue“, ein Bremerhavener Jung, hatte bereits genug gesehen und sprang über Bord, eben um an Land zu gehen.

Nur hatte er nicht mit dem harten Tidenstrom im Englischen Kanal gerechnet. Um sein Leben zu retten, wurde schnellstens ein Boot ausgesetzt, das den verfrorenen Deserteur einfing, dessen Unterkühlung ließ sich mit einer gewaltigen Tampen-Massage beheben. Dann wurde der Gerettete im Abtritt eingelocht, wo alles Rumoren nichts half, bis das Schiff den Kanal verlassen hatte. Danach wartete beruhigende Arbeit auf hoher See.

Kapitän Lorenz Peters befehligte 40 Seeleute mit der natürlichen Autorität seiner Persönlichkeit und seines großen Könnens. Da war der Erste Offizier, Julius (“Jule“) Witt, von den Schiffsjungen — Tampenschule! — verehrt, ein echter Fahrensmann, dem niemand in der Praxis an Bord etwas vormachen konnte. Der Zweite Offizier, Hermann Hesse, erwies sich als äußerst fähiger Nautiker, der Kapitän Peters bei der Arbeit mit Sextanten und der Bestimmung der Schiffsposition zur Hand ging. Zwei Ingenieure, Georg Wolf und Heinrich Schnitger, sowie zwei Maschinisten kümmerten sich um den 500 PS-Dieselmotor, der bei längeren Flauten die bewährte Geschwindigkeit sicherte, ebenso um die übrigen Maschinen und Technik an Bord. Dazu kamen Zimmermann, Segelmacher, Bäcker, Koch und Kochsmaat, 20 Matrosen und 9 Schiffsjungen, das war die Crew der Magdalene Vinnen. Die namentlich Genannten wurden als Lehrmeister von Paul hoch geschätzt.

Das Schiff hatte auch einen „Zoo“. Zwei Schweine. In Spanien wurden noch 10 Hammel erworben. Und Kapitän Peters hielt auf dem Achterdeck einige Hühner für das Frühstücksei.

Die tägliche Kost bestand aus Corned Beef (Dosenfleisch), Salzfleisch aus einem großen Holzfass und getrockneten Kartoffeln. Der Donnerstag war „Seemanns Sonntag“ — mit Plummen und Klöten. Sonst Brot, Marmelade (Sorte Rot) und Margarine aus Fünf-Kilo-Dosen, deren sonderbare Konsistenz (oben dünn und unten dick) einigen Tropenreisen geschuldet war. Die Bezeichnung für den gereichten Kaffee kann hier nicht überliefert werden, um den Vorwurf des Rassismus zu vermeiden.

Das mit Abstand gefährlichste Gericht — für Otto Voß, den Koch aus Bremen, war der „Labskaus“, wie gesagt, auf die Zutat Trockenkartoffel und Salzfleisch beschränkt. Gerade nach längerer Zeit auf See hätte nur äußerste Hungersnot Otto vor der „Bitte“ bewahren können, in der Messe zu erscheinen. Kaum spähte Otto vorsichtig durch die Tür, hatte ihn schon die volle Ladung Labskaus erwischt.

Was konnte Otto machen? Schließlich das, was jeder Seemann lernt — gute Miene zum bösen Spiel. Letzteres werden wir in dieser Erinnerung an jene Zeit nicht politisch vertiefen …

Die Magdalene Vinnen erhielt alsbald regelmäßig Ladung für und von Australien und Neuseeland — Werkzeuge, Maschinen, Weizen, Phosphat-Dünger und Schafwolle — hin und zurück vergingen etwa 200 Tage auf See.

Der Erste Offizier, „Jule“ Witt, pflegte den Zusammenhalt der Mannschaft, indem er Streitfälle durch Boxkämpfe bereinigen ließ. Frei nach Wilhelm Busch erwies dies Mittel sich „probat, ganz besonders vor der Tat.“ So hielt die Disziplin, sogar bei längeren Lade- und Löschzeiten im Hafen.

Als Schiffsjunge und Matrose erlernte Paul seinen Beruf auf der Magdalene Vinnen: „Diese Jahre haben mich sicher geprägt, ich möchte sie nicht missen!“ So erinnerte er sich gern.

Richtiger Seemann.

Paul verließ die Magdalene Vinnen, um für 18 Monate die neu erbaute „Seefahrtsschule“ an der Rainvilleterrasse in Hamburg zu absolvieren. Besonders beeindruckten ihn die Stunden bei dem Klassenlehrer Theodor (“Tetje“) Bothmann, einem vor dem Lehrberuf aktiven Kapitän. Der unterrichtete die angehenden Steuerleute und Schiffsoffiziere in Mathematik, im Umgang mit Logarithmen, in der Nautik und in der Gesetzeskunde der Seefahrt. Außerdem achtete Kapitän Bothmann darauf, dass feste gelernt, aber auch feste gefeiert wurde.

Dieser exzellente Lehrer führte seine Schüler in den Stand kompletter Seemannschaft. Von nun an beherrschte sie das „Sea Fever“ (John Masefield):

„I must go down to the seas again, to the lonely sea and the sky,

And all I ask is a tall ship and a star to steer her by;

And the wheel`s kick and the wind`s song and the white sail`s shaking,

And a grey mist on the sea`s face, and a grey dawn breaking.“

Nach erfolgreich bestandener Steuermannsprüfung setzte Paul seine Laufbahn als Schiffsoffizier fort, zum Beispiel auf den Schiffen Bahia Blanca, Cap Arcona und Antonio Delfino.

Mit viel Glück überlebte Paul den Dienst in der Kriegsmarine des Nazi-Staates, gründete eine Familie und erarbeitete sich eine leitende Stellung — sein Leben lang der Hafenwirtschaft, der Seeschifffahrt, ihrer Technik, den Werften und der maritimen Publizistik verbunden.

Wie gesagt — vom großen Joseph Conrad: „to the imperishable sea, to the ships that are no more and to the simple men who have had their day!“

*) Am 13. 01. 2016 nach Erhalt von Kopien der An- u. Abmusterungsprotokolle der “Magdalene Vinnen“ überarbeitet. Besonderer Dank gilt der bürgerfreundlichen Arbeit des Staatsarchivs Bremen.

Paul hatte es zu Recht als Privileg empfunden, den Beruf des Seemanns unter dem Kommando von Kapitän Lorenz Peters auf der Magdalene Vinnen zu erlernen.

Die Bruderschaft “L’Amicale Internationale des capitaines au long cours Cap-Horniers, AICH“ hatte Kapitän Peters 1959 die Medaille „Pour le Mérite“ verliehen: Bis 1936 war Kapitän Peters ausschließlich auf Segelschiffen gefahren, seit seinem 14. Lebensjahr. Dabei hatte er 53 Mal Kap Hoorn umsegelt, 23 Mal als Kapitän, mehrere Male auch das Kap der Guten Hoffnung, ohne jemals eine Havarie zu haben. (http://perso.numericable.fr/aich/_LivredOr_AICH/HTML/fichesAllem/PETERSLorenz.htm).