Tor für Gabriel.

„Tor für Gabriel“. „Steinmeier als Bundespräsident. Guter Mann — schlechtes Signal“. *1) So kommentieren führende Analytiker unseres politischen Geschehens die Entscheidung über unser Staatsoberhaupt. Im TV kommen Passanten zu Wort; das sollte Bürger ermutigen, den „Vorgang“ (Greven) zu bewerten.

„Guter Mann“ (Blome) — klingt ein wenig gönnerhaft; aber fraglos ist Frank-Walter Steinmeier durch Leistung und geistiges Format im Kreis unserer machtpolitischen Akteure hervorragend ausgewiesen.

Bei dem Versuch einer Bilanz der Berufung Steinmeiers sind in gebotener Kürze seine politische Meriten den kritischen Gesichtspunkten gegenüberzustellen. Auch das Berufungsverfahren für das neue Staatsoberhaupt ist zu beleuchten.

1. Bedeutende Meriten Steinmeiers.

• Steinmeier als in Medien vielgenannter „Architekt“ der Agenda 2010 unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders hat mit dieser Reform die wesentliche Grundlage für die positive Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes geschaffen. Die Arbeitslosenquote in Deutschland hat sich von fast 12 % (2005) auf rund 6 % (2016) halbiert. *2) Diese Reformleistung wird auch von maßgebenden Ökonomen des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung anerkannt.

▪ Als außenpolitische Verdienste seien hervorgehoben: Steinmeiers maßgeblicher Beitrag für das Abkommen von Minsk mit dem Ziel, Frieden in der Ukraine zu schaffen. Und zuletzt sein Versuch, mit dem türkischen Präsidenten Erdogan in einen direkten Dialog einzutreten, um diesen für Ausgleich und rechtsstaatliches Vorgehen nach dem verbrecherischen Militärputsch zu gewinnen. Die Auswärtige Kulturpolitik Steinmeiers verzeichnete mit dem Erwerb der Thomas-Mann-Villa in Pacific Palisades/Los Angeles einen Höhepunkt der transatlantischen Kulturbeziehungen (Nachricht vom 18.11.2016).

2. Kritische Anmerkungen zu Steinmeiers Außenpolitik.

▪ Nach massiven Drohungen und Truppenkonzentration durch Putin gegenüber den baltischen Nachbarländern, in denen russische Minderheiten leben, hat die NATO den Sorgen dieser Partnerländer der NATO-Allianz entsprochen. Durch militärische Übungen und Stationierung einiger Truppen, die gegenüber den aggressiven Maßnahmen Putins von Fachleuten als maßvoll beurteilt werden. Diese Politik der NATO zum Schutz der osteuropäischen Partner hatte Steinmeier öffentlich als „lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul“ denunziert. *3) Damit beleidigte Steinmeier auch etwa vierhundert beteiligte deutsche Soldaten.

▪ Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem Jahresgutachten 2016/17 „Kernelemente einer Reformpolitik für Europa und Deutschland“ entwickelt. Eines der für die deutsche und europäische Wirtschaft wichtigen Vorhaben sei die „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“ (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP; CETA für das entsprechende Abkommen mit Kanada).

Wegen der bedeutenden Handel, Produktion und Arbeitsplätze schaffenden Effekte der Förderung des Freihandels empfiehlt der Sachverständigenrat: „Es ist im Interesse Europas, einen verlässlichen Ordnungsrahmen für die Organisation der internationalen Arbeitsteilung in der Weltwirtschaft zu schaffen. Daher sollte angestrebt werden, die Handelsabkommen CETA mit Kanada und TTIP mit den Vereinigten Staaten zum Abschluss zu bringen. Gleichfalls sollte ein Freihandels- und Investitionsabkommen mit China verfolgt werden.“ *4)

Im Auswärtigen Amt (AA) werden die Potenziale für TTIP klar beschrieben: „TTIP wäre aber viel mehr als ein reines Handelsabkommen. Es eröffnet die Chance, dass mit Europa und den USA die zwei größten Wirtschaftsräume — mit sehr hochentwickelten Standards — weltweit Maßstäbe setzen und so aktiv zur politischen Gestaltung der Globalisierung beitragen.“ *5) Noch Anfang 2014 hatte Steinmeier betont: „TTIP ist eine große Chance von strategischer Dimension.“ *6)

Mit zunehmender linker Kritik und Nähe zur Entscheidung über die Wahl des Bundespräsidenten wurde jedoch in Medien konstatiert: „´Nicht in die Tasche lügen`. Steinmeier folgt Gabriel bei TTIP-Skepsis.“ *7)

Zu den seit Jahren verhandelten und von linken Gruppen massiv angefeindeten TTIP-Regeln für die „politische Gestaltung der Globalisierung“ (AA) ist leider im Rahmen der Außenpolitik Steinmeiers neuerdings Führungsverzicht und Leisetreterei festzustellen. Wird eine „große Chance von strategischer Dimension“ (Steinmeier) vom künftigen Staatsoberhaupt parteipolitischen Interessen untergeordnet?

• Der deutsche Außenminister Steinmeier leistete sich ihm nicht zustehende maßlose öffentliche Ausfälle gegenüber politischen Entscheidungen in Partnerländern der NATO-Allianz.

Wenige Stunden bevor Boris Johnson zum britischen Außenminister ernannt wurde und eine auf Versöhnung im Brexit-Streit gerichtete, durchaus staatsmännische Rede hielt, beschimpfte Steinmeier Johnson, er habe die Briten „erst in den Brexit gelockt“, sich dann „aus dem Staube gemacht“, „verantwortungslos, ungeheuerlich“! *8)

Der künftige Präsident der USA Donald Trump wurde von Außenminister Steinmeier als „Hassprediger“ bezeichnet. *9) Mit Bezug auf Trump meinte Steinmeier, vor dem „Ungeheuer des Nationalismus“ warnen zu müssen. Trumps Wahlsieg scheint Steinmeier dann so beleidigt zu haben, dass er in der Presse sogar einen Punkt daraus machen ließ, Trump nicht zu gratulieren. Als Bundespräsident und Staatsoberhaupt wird Steinmeier unser Land repräsentieren. Dann könnte er dem Beispiel Donald Trumps folgen: Campaign is over.

3. Das Verfahren der Berufung Steinmeiers.

Mit der Entscheidung für Steinmeier als Nachfolger von Joachim Gauck ist ein Verfahren zum Abschluss gekommen, das Heribert Prantl als „Gewürge der vergangenen Wochen“ bezeichnet. *10)

Dies scheinbare „Gewürge“ des Berufungsverfahrens für das Staatsoberhaupt könnte auch als eine machtpolitische, durchaus machiavellistische Meisterleistung des Vizekanzlers Gabriel gesehen werden.

Nach der in der Öffentlichkeit hoch geschätzten Amtsführung Joachim Gaucks mag vielen Bürgern der Gedanke zugesagt haben, den Nachfolger Gaucks eben nicht aus dem Kreis der Machtpolitiker zu berufen. Sondern eine geistig hochstehende, in der Welt angesehene Persönlichkeit jenseits der Machtapparate als Staatsoberhaupt zu gewinnen.

Sollte dies Gabriel bewusst gewesen sein? Wie ging er vor? Öffentlich hat er Frau Pastorin Margot Käßmann das Amt angeboten. Die lehnte klug und einsichtsvoll ab. Danach (!) bietet Gabriel das Amt des Staatsoberhauptes — nahezu wie sauer Bier inzwischen — einer Persönlichkeit von höchstem geistigen Rang an, Bischof Wolfgang Huber. Natürlich nahm Professor Huber eine so dargebotene Würde nicht entgegen. Für die Besten der Besten in unserem Land wird bei solchem „Gewürge“ (Prantl) das Amt des Staatsoberhauptes aus Händen von Machtpolitikern der Großen Koalition vollends unannehmbar geworden sein.

Kam Sigmar Gabriel mit diesem machiavellistischen Manöver zum “Sieg“ über Kanzlerin Merkel?

Nicht ohne Mühe wurde hier versucht, den „Vorgang“ (Ludwig Greven) zu bewerten. „Schlechtes Signal“ (Nikolaus Blome) oder „schöne Ausnahme“ (Herbert Prantl)? Wir wenden uns ab.

Tor für Gabriel (Die Zeit)!

Ja, ja! Tooor! Gooolazzo!

*1) BUNDESPRÄSIDENTENWAHL. Tor für Gabriel. CDU und CSU fügen sich dem SPD-Chef und werden seinen Kandidaten Steinmeier zum Bundespräsidenten machen. Der Vorgang zeigt eine Schwäche der Kanzlerin.
VON Ludwig Greven. 14. November 2016; http://www.zeit.de.

STEINMEIER ALS BUNDESPRÄSIDENT. Guter Mann — schlechtes Signal. Von Nikolaus Blome. 14.11.2016; bild.de.

*2) https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/Konjunkturindikatoren/Arbeitsmarkt/. Oder: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1224/umfrage/arbeitslosenquote-in-deutschland-seit-1995/.

*3) Vgl. zur Bewertung dieses Auftritts Steinmeiers ein Interview mit Botschafter Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz.

Ulrike Ruppel: „Für Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier betreibt die Nato ´Säbelrasseln`.“

Wolfgang Ischinger: „In der Sache hat er auf einen durchaus richtigen Punkt hingewiesen. Die Wortwahl war wohl missverständlich. Aus meiner Sicht ist an den verteidigungspolitischen Maßnahmen der Nato nichts zu kritisieren. Im Vergleich zu russischen Großmanövern halten sich westliche Übungen in einem bescheidenen Rahmen, und bei den Stationierungsplänen im Osten geht es um ganze 4000 Soldaten. Wirklich kein Grund für Russland, sich eingekreist oder bedroht zu fühlen. Trotzdem müssen wir aufpassen, dass die zweite Säule, dass Angebote zum Dialog und zur Zusammenarbeit nicht zu kurz kommen.“

UR: „Wie berechtigt ist die Angst der Balten vor den Russen?“

WI: „Mit russischen Streitkräften auf Nato-Gebiet vorzudringen, wäre für Moskau selbstzerstörerisch und hochgradig irrational. Aber unterhalb dieser Schwelle ist einiges denkbar: Propaganda, Meinungsmache, Destabilisierung durch Leute, die keine Uniform tragen. Man denkt dabei an die Ukraine. Ich will der russischen Führung nichts davon unterstellen. Aber man muss in der Sicherheitspolitik immer von den Fähigkeiten ausgehen und nicht von den Intentionen, weil sich diese über Nacht ändern können. Deshalb muss man die Sorgen der baltischen Staaten, die große russische Minderheiten haben, ernst nehmen. Wir wollten uns im Kalten Krieg auch durch stationierte Truppen geschützt fühlen. Das steht den Balten und Polen ebenfalls zu.“

Siehe: http://www.bz-berlin.de/deutschland/wolfgang-ischinger-wir-brauchen-ein-nato-russland-krisenzentrum. 3. Juli 2016. Interview von Ulrike Ruppel.

*4) http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/gutachten/jg201617. S. 9.

*5) Auf dem Weg zu einem transatlantischen Wirtschaftsabkommen — die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP); http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/RegionaleSchwerpunkte/USA/TTIP_node.html.

*6) Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich der 50. Münchner Sicherheitskonferenz; http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2014/140201-BM_MüSiKo.html. 01.02.2014

*7) Dienstag, 30. August 2016; http://www.n-tv.de/politik/Steinmeier-folgt-Gabriel-bei-TTIP-Skepsis-article18527251.html. Dort heißt es: „In der SPD schließen sich die Reihen der TTIP-Gegner. Nach dem Parteichef rückt auch Deutschlands oberster Diplomat vom geplanten Freihandelsabkommen mit den USA ab. Allerdings ist der Ton etwas moderater.“ (Bericht über die „Botschafterkonferenz in Berlin“ im Auswärtigen Amt).

*8) u.a. http://www.focus.de/politik/videos/unverantwortlich-steinmeier-richtete-hart-ueber-johnson-kurz-bevor-dieser-aussenminister-wurde_id_5728965.html.

*9) FRANK-WALTER STEINMEIER. Der Mann, der Trump einen Hassprediger nannte. Er will als Politiker mit „Augenmaß“ gelten: Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Doch der Kandidat der Koalition für den Posten des Bundespräsidenten ist auch ein Mann der klaren Worte. Ein Überblick in Zitaten.

„Schaut sie euch an, die Rechtspopulisten, Nationalisten – ob die AfD in Deutschland, ob diese verantwortungslosen Typen in England, die ihr Land in den Brexit-Mist gefahren haben und jetzt nicht wieder rauskommen. Schaut auf den Schreihals namens Donald Trump in Amerika — alles Leute, die mit den Ängsten der Menschen spielen, die mit Angst Politik machen. Das ist der wahre Brandsatz in Europa. Da fängt das Feuer schon an, das später Flüchtlingsheime in Flammen setzt.“

(Steinmeier Anfang August im Rahmen einer Fragestunde zur Außenpolitik in Rostock); http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/frank-walter-steinmeier-der-mann-der-trump-einen-hassprediger-nannte/14838812.html. 14.11.2016.

*10) Politik. Bundespräsident Steinmeier. SPD siegt, CDU verliert — das Land gewinnt.

Die Suche nach einem Bundespräsidenten war selten die Suche nach dem Besten. Steinmeiers Nominierung ist historisch betrachtet eine schöne Ausnahme — und ein Sieg der Staatsräson. Kommentar von Heribert Prantl. Süddeutsche.de; 14. November 2016.