Konfus und panisch.

Zur Flüchtlingspolitik von Kanzlerin und Vizekanzler finden sich folgende Urteile von Politikwissenschaftlern: „fatales Signal“, Professor Jürgen Falter zu Merkels Willlkommensgeste Anfang September, und „regulatorisches Versagen“, Professor Werner Patzelt, weil auch jetzt noch keine Bereitschaft zu einem politischen Richtungswechsel erkennbar sei.

Gegen solche Urteile wenden GroKo-Vertreter ein, dass die Fluchtursachen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge zu bekämpfen seien.

Damit ernten sie Fachkommentare zwischen Hohn und Spott. Professor Eberhard Sandschneider, Außenpolitikexperte, fragt, wer wohl in der Lage sei, in einem überschaubaren Zeithorizont den Syrienkonflikt zu lösen. Überdies wissen die Bürger, dass der Militäreinsatz des Westens in Afghanistan auch nach fast 15 Jahren keinen Frieden geschaffen hat, und dann ist da noch der Jemen usw.

„Versprechen ohne Plan“ benennt Christoph Schwennicke, Cicero, diese Politik im TV.

In der Europäischen Union (EU) zunehmend isoliert — keine Mithaftung für deutsche „Willkommenskultur“ — bleibt nur die Freundschaft zu Frankreich, das allerdings „gerade einmal soviele Menschen bei sich auf(nimmt) wie ein Landkreis im Allgäu.“ *1)

Nun sind die Fragen der Bürger, mit denen Bundestagsabgeordnete in den Wahlkreisen und Gemeinden konfrontiert sind, drängender geworden. Gemeinden stehen vor dem Fragenkatalog ihrer Bürger und müssen antworten:

• Frage: Wie viele Flüchtlinge sind in .. untergebracht und wo? Antwort der Gemeinde: Zurzeit leben ungefähr … Alle Zahlen unterliegen nahezu täglichem Wechsel.

• Woher stammen die Menschen? Es gibt die unterschiedlichsten Nationalitäten, die an dieser Stelle kaum alle aufgezählt werden können. Zum Beispiel albanisch, syrisch, eritreisch, guieneisch, ghanaisch, serbisch, irakisch, marokkanisch, algerisch, armenisch und viele weitere.

• Wie lange bleiben die Menschen? Die uns zugewiesenen Asylbewerber bleiben mindestens so lange bis ihr Asylverfahren abgeschlossen ist. Dies dauert momentan recht lange, mindestens über ein Jahr. Danach dürfen sie entweder in Deutschland bleiben und über ihren Wohnort frei entscheiden oder müssen in ihr Heimatland zurück … Dann werden wahrscheinlich erst einmal „neue“ Flüchtlinge zugewiesen.

• Wie kann man helfen? Wer helfen möchte, kann „sehr gerne“ Geld auf ein Spendenkonto einzahlen … Man kann sich natürlich auch „gerne“ ehrenamtlich engagieren … Sachspenden können „leider“ nur vereinzelt angenommen werden.

• Wie geht es weiter? Es ist von steigenden Flüchtlingszahlen auszugehen, so dass die Stadt und die Politik sich intensiv um weitere Unterkünfte bemühen.

Außenminister Steinmeier hat diese Sorgen in Bielefeld bestätigt: „Wenn ich den Oberbürgermeister fragen würde, so würde er sagen, wo die Überforderungsgrenzen einzelner Kommunen jetzt schon überschritten sind. Und neben den Fragen, wo man sinnvolle Hilfe leisten kann, höre ich derzeit auch Fragen, in denen Sorge und Skepsis mitschwingen. Fragen etwa, wie viele Flüchtlinge in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren noch kommen werden. Wie soll das eigentlich auf Dauer weitergehen?“ *2)

Und dann warnt Steinmeier Medien und Politik: „Wir müssen mit diesen Fragen verantwortungsvoll umgehen. Und mir scheint manchmal, dass die ganz normalen Menschen sehr viel klüger damit umgehen, als manche in den Medien und auch in der Politik. Denn … man (hat) doch den Eindruck, wir bewegen uns zwischen zwei großen Extremen. Das eine Extrem ist: „Wir schaffen das, komme, was da wolle“. Das andere Extrem lautet: „Das Boot ist voll, und nicht erst seit gestern“. *2)

Und genau dieses Extrem-Denken können die Bürger derzeit bei Frau Merkel und Herrn Gabriel beobachten. Beide scheinen in der Defensiv-Falle zu stecken: „Grenze offen“ oder „Grenze dicht“.

Bei Gabriel hört sich das im TV etwa so an: Wenn wir die Grenze schließen, sind wir bald beim Schießbefehl. Besucht Gabriel neuerdings Gottesdienst in Essen, wenn Bischof Overbeck predigt, Transitzonen seien mit Nazi-Konzentrationslagern vergleichbar?

Als sei dies nicht genug der Zumutung, leistet sich die Bundeskanzlerin „das bislang großkalibrigste Argument“ *3) zur Verteidigung ihres „fatalen Signals“, das seit September zu dem noch immer chaotischen Strom von Flüchtlingen nach Deutschland führt.

Durch die Schließung von Grenzen auf der Balkanroute könne das Flüchtlingsproblem nicht gelöst werden. „Ich möchte nicht, dass dort wieder militärische Auseinandersetzungen notwendig (Wieso notwendig? RS) werden … Ich will jetzt nicht schwarzmalen. Aber es geht schneller als man denkt, dass aus Streit auch Handgreiflichkeiten werden und aus Handgreiflichkeiten dann auch Dinge entstehen, die wir alle nicht wollen.“ *4)

Mit diesen bizarren öffentlichen Ansagen hat die Bundeskanzlerin der Europäischen Union schwer geschadet, weil die Friedenspolitik der EU durch Südost-Erweiterung (d.h. um sog. Westbalkan-Länder *5) derzeit mit oder ohne EU-Kandidatenstatus) als nicht belastbar dargestellt wird. Von Regierungschefs der Westbalkan-Länder wurden Merkels Äußerungen prompt zurückgewiesen; Kenner der Region schütteln ohnehin den Kopf darüber.

Der europapolitische Schaden, den Merkel mit diesem Verbalexzess angerichtet hat, ist offensichtlich: Die Zustimmung von EU-Mitgliedsländern für den EU-Beitritt weiterer Staaten Südosteuropas durch ihre Parlamente könnte unter den Druck öffentlicher Proteste geraten. Oder ein entscheidendes Referendum über den Beitrittsvertrag für ein weiteres EU-Land, das in Frankreich gesetzlich vorgeschrieben ist, könnte scheitern.

Schießbefehl (Gabriel) oder Krieg auf dem Balkan (Merkel), so verrannt in Extrempositionen, ist am Willen und der Fähigkeit der Regierungsspitze zu zweifeln, durch europapolitische Maßnahmen die Zuwanderung an den Grenzen der Flüchtlingsrouten wenigstens halbwegs planbar zu steuern. Wie weitsichtig die zitierte Warnung Steinmeiers vor Extrempositionen in der Flüchtlingspolitik war, wird jetzt deutlich!

Sollte Professor Patzelt mit dem Urteil „regulatorischen Versagens“ bei Kanzlerin und Vizekanzler Recht behalten, weil auch jetzt noch keine Bereitschaft zu einem politischen Richtungswechsel erkennbar sei?

Die Bürger wollen dies nicht glauben. Das Vertrauenskapital für die Europa- und Flüchtlingspolitik von Kanzlerin und Vizekanzler jedenfalls ist weitgehend aufgezehrt. Und zwar europaweit.

Nüchtern kalkulierende Briten haben früh von „Panik und wirrem Denken“ bei Bundeskanzlerin Merkel gesprochen *6). In Großbritannien wird Merkels Flüchtlingspolitik bereits als starkes Argument für die EU-Gegner im kommenden Referendum über den EU-Verbleib bewertet.

Konfus und panisch — das haben viele Sozialdemokraten nicht von der Arbeitsweise der Großen Koalition erwartet, als sie beim Mitgliederentscheid mit „Ja“ stimmten.

*1) Dominik Sauter, 17.09.2015; https://www.bayernkurier.de/inland/5758-seehofer-nimmt-eu-staaten-in-die-pflicht.

*2) Auswärtiges Amt: „Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier beim Unternehmertag Ostwestfalen in Bielefeld“, 02.11.2015.

*3) Merkel und die Flüchtlinge. Krieg auf dem Balkan? 03.11.2015, von Berthold Kohler, faz.net.

*4) Jüngste Spannungen auf dem Balkan. Merkel warnt vor militärischen Konflikten durch Flüchtlingskrise; http://www.nzz.ch/newsticker/juengste-spannungen-auf-dem-balkan-merkel-warnt … 03.11.2015, 12:26 Uhr.

*5) Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Makedonien, Montenegro, Serbien.

*6) The Spectator. Merkel’s grandstanding on Syrian refugees will lead to many more deaths at sea. The incentive is greater for people to risk the perilous journey to Europe. James Forsyth, 12 September 2015.