Kontaktsperre für Herrn Sarrazin?

Rot-Grün in NRW hat uns in den letzten Wochen ein Übermaß an politischen Banalitäten beschert.

Nun scheint endlich die Zeit für Sachdebatten gekommen. Aber ausgerechnet der Paria-Ökonom der Sozialdemokratie, Herr Sarrazin, macht jetzt von seinem Grundrecht Gebrauch, Frau Merkels richtigen Satz „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ in Zweifel zu ziehen.

Sofort die bekannten Wegbeiß-Reflexe.*) Herr Robbe, SPD, verhängt Kontaktsperre: „Mit Sarrazin sollte sich niemand mehr in eine Talkshow setzen.“ Frau Künast, die sich wohl als Hausherrin des von uns bezahlten TV versteht, nimmt ihr Hausrecht wahr: „Nationalistischer Unsinn von Sarrazin passt nicht zum Bildungsauftrag eines öffentlich-rechtlichen Senders.“

Respekt für Herrn Jauch und Hochachtung für Herrn Steinbrück, dass Herr Sarrazin unverzüglich mit harter und scharf geführter Debatte und Zurückweisung seiner Thesen konfrontiert wurde. Dies Engagement Peer Steinbrücks ehrt auch die SPD. Zumal sich Herr Trittin zu der Feststellung veranlasst sieht: „Man wundert sich nur, dass Sarrazin mit dieser offen rechten Ideologie immer noch in der SPD sein kann.“

Es ist leider wahr: Herr Sarrazin hat Bundeskanzler Helmut Schmidts große Rede zur historischen europapolitischen Verantwortung Deutschlands auf dem SPD-Parteitag in fragwürdiger Weise für seine Zwecke verwendet. Dennoch könnte Herrn Trittins Vorwurf „antieuropäischer Rechtspopulismen“, verbunden mit der Rauswurf-Empfehlung an die SPD, den Eindruck der Heuchelei wecken. Warum?

Ein Blick zurück auf Herrn Trittins Karriere-Partnerschaft mit Gerhard Schröder. Joschka Fischer beschreibt die europapolitischen Vorstellungen des damaligen Ministerpräsidenten Schröder im Jahre 1997: „Euroskeptizismus war dafür noch eine milde Charakterisierung. Europa ist für Deutschland zu teuer, der Euro überflüssig, und überhaupt schränkt dieses Europa nur Deutschlands Souveränität ein, so seine Auffassung. Ich konnte es eigentlich nicht fassen, dass da ein Sozialdemokrat Bundeskanzler werden wollte, der die Grundlagen der deutschen Europaintegration mir nichts, dir nichts wegputzen wollte.“ **)

Der Außenminister und Vizekanzler Joschka Fischer hat solche Politik nicht nur verhindert, sondern eine weitgehende Vision europäischer Integration entwickelt und für die politische Union Europas unermüdlich geworben. Das ist ein wesentlicher Kern seines außenpolitischen Erbes.

Und Herr Trittin? Ich erinnere noch sein hämisches TV-Bild, als er zu Journalisten sagte: „Welches Erbe hat denn Joschka Fischer hinterlassen?“ Herr Trittin war Gerhard Schröders langjähriger niedersächsischer Minister für Angelegenheiten des Bundes und Europas

Hat denn jemand einen Beleg, dass Herr Trittin in jenen Zeiten rot-grüner europapolitischer Weichenstellung so eindeutig wie Joschka Fischer Herrn Schröders „Euroskeptizismus“ entgegen getreten wäre? Könnte im Lichte dieses Rückblicks Herrn Trittins Rauswurf-Rat an die SPD nicht durchaus schräg wirken?

Zurück zu Peer Steinbrücks Auseinandersetzung mit Herrn Sarrazin. Ja, Herr Sarrazin hat Recht, wenn er auf Geburtsfehler des Euro verweist. Und darauf, dass unter Rot-Grün 2004 durch Aufweichen des Euro-Stabilitätspaktes diese Schwächen verschärft wurden. Aber zu Recht fragt Herr Steinbrück nach Handlungsempfehlungen hier und jetzt.

Den Euro abschaffen? Rück-Abwickeln wäre für die EU derart traumatisch, dass unvertretbare Risiken einer Renationalisierung Europas bestünden. Mit der Gefahr, die erreichten Fortschritte in der Integration zu zerstören. Deshalb bleibt Bundeskanzlerin Merkels Satz von zentraler Bedeutung für europäische Politik: „Scheitert der Euro, scheitert Europa.“

Dann fordert Herr Sarrazin, dass jedes Land für seinen eigenen Haushalt verantwortlich und die EZB allein für Preisstabilität und nicht für Käufe von Staatsanleihen und Stabilisierung von Banken zuständig sein solle. Dem hält Herr Steinbrück überzeugend entgegen, dass dies genau die Probleme seien, die der von 25 EU-Ländern inzwischen vereinbarte Fiskalpakt und der ESM adressiere und löse.

Dies könnte genügen, um das Provokationsgebäude Herrn Sarrazins, d.h. „EU-Wohlstand auch ohne Euro“, zusammenfallen zu lassen.

Aber die Zukunftsblindheit gegenüber dem Entwicklungs-Potential einer EU mit gemeinsamem Binnenmarkt und Währungsunion ist m. E. der am schwersten wiegende Einwand gegen die Thesen Herrn Sarrazins.

Wie kann Europa je ein gleichwertiger Partner der USA werden, wenn die Wirtschafts- und Währungsunion nicht vertieft und stabilisiert wird? Nur dadurch kann eine im Vergleich zum US-Binnenmarkt halbwegs effektive Integration der Güter-, Kapital- und Arbeits-Märkte erreicht werden.

Und vor allem braucht die unternehmerische Entfaltung in Europa den gemeinsamen Markt- und Währungsraum. Herr Jauch hat dies eindrucksvoll mit der europaweiten Produktions-, Investitions- und Vertriebstätigkeit der Firma Nordzucker belegt. Dies ist nur ein Beispiel für die europäische Dimension von Unternehmenspolitik. Im Fall der Nordzucker mit einem weitgehend standardisierten Produkt.

Noch wichtiger erscheint jedoch der gemeinsame europäische Wirtschafts- und Währungsraum für unternehmerische Innovations- und Wachstumsprozesse. Denn fast alle Produkt- und Verfahrensinnovationen beginnen ihren Weg auf dem heimischen Markt: von der Testphase mit ihrer Abhängigkeit von vielfältigen Vorleistungen, zur Markteinführung bis hin zur Wachstumsphase mit Kostendegression.

Und je größer und je berechenbarer dieser heimische Binnenmarkt integriert ist, je geringer daher Translokations-Kosten (z.B. Kosten für Transport, Information, Kommunikation) einschließlich der Währungsrisiken sind, um so größer sind die Chancen für Erfolg auch auf den Weltmärkten – gerade für neue Produkte.

Die USA sind das Parade-Beispiel für Weltmarkt-Führerschaften auf der Grundlage eines gewaltigen Binnenmarktes. Deshalb wurde von weit blickenden Politikern die europäische Integration voran getrieben. Helmut Schmidt, Giscard d`Estaing, Helmut Kohl und François Mitterand schufen den gemeinsamen Markt und die Währungsunion durch Pionierarbeit und Durchsetzungskraft.

Da nehmen sich die von Herrn Sarrazin gestern vorgetragenen Thesen klein, sehr klein aus. Eine rückwärts gewandte Analyse stellte er vor. Kein Wort zur transatlantischen und globalen Dimension heutiger Wirtschaft. Eine enge Sichtweise, die unsere europäische Zukunftsperspektive gar nicht im Blick zu haben scheint.

Dennoch darf die Debatte über solche Fragen auf keinen Fall in grün-autoritärer Manier unterdrückt werden. Denn Herr Sarrazin ist nicht der einzige Euro-Gegner, auch nicht der einzige Sozialdemokrat unter ihnen. In einer Zeit europäischer Krise und Unsicherheit ist diese Debatte des Einsatzes der Besten wert. Peer Steinbrück hat das verstanden. Unsere Forschungsinstitute und Institutionen politischer Bildung müssen sich jetzt engagieren.

*) Zitate von Herren Robbe und Trittin sowie von Frau Künast: s. nachrichten.t-online.de/thilo-sarrazin, 20.05.2012.

**) Joschka Fischer, Die rot-grünen Jahre, Knaur 2008, S. 49.

Anmerkung 9. Juni 2012: Herr Sarrazin äußert sich provozierend und verkaufsfördernd in allen Medien und Foren, die ihm verfügbar sind. Das ist zu akzeptieren. Wenn dann jedoch kritisch und gar ablehnend, gleichgültig oder abfällig kommentiert wird, wirft er mit dem Vorwurf um sich, man habe sein Buch nicht gelesen. Das ist anmaßend, Herr Sarrazin, man muss Ihr Buch nicht lesen. Es ist legitim, sich lediglich mit dem auseinander zu setzen, was sie öffentlich ausgeführt haben. Das reicht manchen Beobachtern. Dies müssen auch Sie akzeptieren.