Krise und Grundgesetz.

In Krisen bewähren sich Regierungen oder zerfallen und stürzen. Bevor es soweit ist, wird um Gesetze gestritten oder gar am Grundgesetz gefummelt. Alles mit dem Ziel oder Vorwand, Stabilität zu sichern.

Die „Leute“ (Politikerjargon) sind zum Glück klug genug, selbst für stabile politische Verhältnisse zu sorgen — unterstützt durch die vielfältigen „checks and balances“ *1) im Rahmen unserer politischen Ordnung.

Die politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland belegt dies.

Die schwerste Zeit der Bundesrepublik war sicher die Gründungsphase 1949 bis Mitte der 1950er Jahre.

Konrad Adenauer als der erste Kanzler der Bundesrepublik hatte sich zwei zentrale Aufgaben gestellt: Die Bundesrepublik als im Volk fest verankerte, stabile Demokratie aufzubauen, und diesen jungen Staat in die Partnerschaft des westlichen Bündnisses zu führen. Die Westdeutschen — „in Sorge über die Zukunft … akzeptierten die neue Lage als Notwendigkeit.“ *2)

Bundeskanzler Adenauer konnte von 1949 bis 1963 regieren.

Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte 1977 als erster Regierungschef die kritische Sicherheitslage erkannt, die aus dem massiven Aufbau und dem Drohpotential durch sowjetische Mittelstreckenraketen entstanden war. Schmidt forderte die NATO auf, im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses dieses militärische Übergewicht auszugleichen. *3)

Im Herbst 1981 kam es über diese Frage zu Großdemonstrationen. Die eigene Partei, die SPD, fiel dem Bundeskanzler Helmut Schmidt in den Rücken. 1982 endete seine Kanzlerschaft durch Koalitionswechsel der FDP zur Union und durch ein konstruktives Mißtrauensvotum (Artikel 67 Grundgesetz), das Helmut Kohl zum Bundeskanzler machte.

Helmut Kohls Regierung durchstand den linken Aufruhr um den NATO-Doppelbeschluss, stabilisierte mit Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg die aus dem Ruder gelaufenen öffentlichen Finanzen und schuf so wesentliche Grundlagen für die Bewältigung der deutschen Einheit.

Kohls Kanzlerschaft dauerte von 1982 bis 1998, als Gerhard Schröder die Bundestagswahl gewann.

Bundeskanzler Gerhard Schröder erkannte 2003, dass die Krise der Massenarbeitslosigkeit von über 6 Mio. Menschen durchgreifende Reformen erforderte, die mit der Agenda 2010 in Kraft traten. Dieses große Reformwerk, an dem Wolfgang Clement als Wirtschafts- und Arbeitsminister wesentlichen Anteil hatte, stützt bis heute den hohen Beschäftigungsstand in Deutschland.

Gewerkschaften und weite Teile der SPD verkannten diese Reformleistung und fielen, wie im Falle des Kanzlers Helmut Schmidt, Gerhard Schröder und Wolfgang Clement in den Rücken.

2005 war Schröders Kanzlerschaft vorzeitig am Ende. Bundeskanzlerin Merkel übernahm die Regierungsführung.

Bundeskanzlerin Merkel hat eine Reihe schwerer und noch andauernder Krisen bearbeitet: Die internationale Finanzkrise (Folge des Zusammenbruchs der US-Investmentbank Lehman Brothers 2008), die anschließende Weltwirtschaftskrise, die Staatsschuldenkrise, die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine, die Griechenlandkrise und nun die Flüchtlingskrise, verschärft durch mörderische Bürgerkriege in Syrien und Teilen Afrikas.

Seit 2005 regiert Bundeskanzlerin Merkel, die letzte Bundestagswahl gewann sie gegen Peer Steinbrück. Klassisch ist ihr Wort an die Wähler: „Sie kennen mich.“

Dieser kurze Rückblick auf Krisenzeiten in der Bundesrepublik belegt: Die entscheidende Ursache der politischen Stabilität in der Bundesrepublik Deutschland sind bisher die von der „politischen Klasse“ so genannten „Leute“ gewesen. Mit ihrem durch Erfahrung begründeten Urteil über die Qualität der Regierungsführung, des Spitzenpersonals und — nicht zuletzt — der Verlässlichkeit von Regierungsparteien.

Das Vertrauensvotum der Bürgerinnen und Bürger hat dadurch in schweren Zeiten — vor allem nach dem verheerenden Zusammenbruch 1945 und auch nach dem Fall der Mauer 1989 — stabile politische Verhältnisse gesichert.

Und nun kommt ausgerechnet jetzt, in einer neuen, noch unabsehbar schwerwiegenden Krise, Wolfgang Clement, ehemaliger Ministerpräsident und Bundesminister, mit einem Vorschlag für eine Änderung unseres Grundgesetzes: „Er will eine Begrenzung der Kanzlerschaft: zwei Amtszeiten – mehr nicht, fordert Clement.“ *4) Dazu liefert der SPIEGEL auch gleich ein angebliches Meinungsbild: 65 % Unterstützung.

Der manipulative Umgang beim SPIEGEL mit Umfragen zeigt sich in dessen „Vote-Auswertung Kanzlerschaft. Soll die Zeit der Regierungschefs in Deutschland begrenzt werden?“ Dem Clement-Vorschlag wurden bei der Befragung offensichtliche Nonsense-Optionen beigefügt: Warum nicht Merkel auf Lebenszeit? Oder: Mir reicht schon eine Amtszeit. Oder: Warum öffentliche Ämter nicht verlosen? Oder schließlich: Mir ist schon alles egal. Kein Wunder also, wenn der SPIEGEL Herrn Clement 65 % Unterstützung für seine Initiative signalisiert.

Dies haben die Wählerinnen und Wähler der Bundesrepublik nun wirklich nicht verdient! Die Deutschen haben die Bundesrepublik politisch stabilisiert, indem sie aus wohlerwogenen Gründen in Krisenzeiten ihr Vertrauen langfristig in geeignete Spitzenpolitiker und die sie tragenden Parteien investierten.

Ein Politiker, Herr Clement, und eine Umfragen manipulierende SPIEGEL-Redaktion fummeln nun mitten in der tragischen Flüchtlingskrise an unserem Grundgesetz herum, damit Frau Merkel eine erneute Kanzlerschaft per Gesetz ohne Rücksicht auf Wählervoten verwehrt werden könnte. Solcher Unfug legte den Keim zu politischer Instabilität in Deutschland, würde er umgesetzt.

Und dies leistet sich ein ehemals hochrangiger Sozialdemokrat, dessen SPD als notorischer “Intrigantenstadel“ *5) noch jeden ihrer Bundeskanzler zur Strecke brachte; ein angesehener Vertreter des öffentlichen Lebens wie Wolfgang Clement, der als Herausgeber des Buches „Das Deutschland-Prinzip“ 178 bedeutende Persönlichkeiten als Autoren gewinnen konnte. Wie passt dazu sein prinzipienloser *5) Vorstoß, unser Grundgesetz zu ändern, damit Vertrauen der Wähler in einen Bundeskanzler per Gesetz begrenzt werden kann?

Nun sind die Chancen für eine gesetzliche Begrenzung der Kanzlerschaft derzeit gleich null. Überdies hat sich Wolfgang Clement mit diesem Vorstoß zur krisenhaften Unzeit ohnehin diskreditiert.

Täuschen wir uns jedoch nicht: Der Vorschlag Clements kommt aus der Mitte der Berliner Party-Politik-Kreise. Aus der Mitte unserer sogenannten gesellschaftlichen Eliten. Clement bedient die Anti-Merkel-Ressentiments von Leuten, die mit dem Anspruch auftreten, die politischen Debatten in Deutschland zu orientieren.

*1) „Checks and Balances (amerik.: Hemmungen und Gleichgewichte) US-amerikanisches Verfassungsprinzip, das verlangt, dass überall da, wo politische oder andere Machtpotenziale entstehen und Macht ausgeübt wird, die Möglichkeit zur Bildung und zur Ausübung von Gegenmacht vorhanden sein muss. Das Prinzip der c. a. b. zielt damit auf den Ausgleich unterschiedlicher Interessen, unterstützt die Tendenz zum Gleichgewicht und zur gesellschaftspolitischen Stabilität.“ Siehe http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/17288/checks-and-balances.

*2) Turk, Eleanor L., The history of Germany, Greenwood Press, Westport, CT, USA, 1999, S. 146.

*3) Siehe: Historische Debatten (9): NATO-Doppelbeschluss ; https://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse18/a08/25482592_debatten09/200098. (Hinweis: Der NATO-Doppelbeschluss von Dezember 1979 zielte 1. auf Modernisierung der US-Raketensysteme in Europa und bot 2. der Sowjetunion an, über die gegenseitige Begrenzung von Raketensystemen zu verhandeln, RS). 

*4) SPIEGEL-ONLINE, Zwei Amtszeiten. Clement fordert Begrenzung der Kanzlerschaft, 15. August 2015, sowie: Vote-Auswertung. Kanzlerschaft. Soll die Zeit der Regierungschefs in Deutschland begrenzt werden? Stand: 27.08.2015. (Hervorhebung RS).

*5) Vielleicht ist Clement ein Verehrer von Franz-Josef Strauß. Zu dieser Vermutung passt ein FJS-Zitat zu dessen 100. Geburtstag, für das wir dem Phoenix-TV Moderator Dr. Klaus Weidmann danken: „Grundsätze muss man haben. Aber nur wenige. Die aber so hoch hängen, dass man notfalls drunter durch schlupfen kann.“ Zum „Intrigantenstadel“ SPD, auch Clement mag zu dessen Opfern zählen, ein Zitat von Michael Naumann: „Die Strategen im Willy-Brandt-Haus, die gegen Peer Steinbrück mit dem Hinweis intrigieren (eine sozialdemokratische Spezialität) …“ (Michael Naumann, Berlin. Die rätselhaften Winkelzüge der Angela Merkel, Cicero Online Magazin für politische Kultur, 23. August 2011).