Krisenpolitik oder Krisenphilosophie?

Zwei große, wenn auch gescheiterte Initiativen Sigmar Gabriels verdienten Hochachtung politisch engagierter Bürger.

Als der SPD-Vorsitzende ein Parteiverfahren gegen Herrn Sarrazin einleitete wegen des Buches „Deutschland schafft sich ab“. Mit nobler Begründung und dennoch absehbarem Scheitern vor Augen.

Dann der Versuch Sigmar Gabriels, ein Verfahren zur Wahl von Kandidaten für hohe Wahlämter und den Kanzlerkandidaten durchzukämpfen. Danach hätten neben SPD-Mitgliedern auch Bürger abstimmen können, die der SPD nicht angehören. Dieser Beitrag zur Öffnung und Modernisierung der Partei lief das hohe Risiko, an der bekannten vereinspolitischen Beschränktheit zu scheitern. So kam es, und so war dann einiges an borniertem Triumph aus Parteikreisen zu vernehmen.

Mut zeichnet den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel aus. Nicht alle seine Politikinitiativen und politischen Äußerungen scheinen zu gelingen. Man mag sie mutig nennen.

Nun hat Frank-Walter Steinmeier im Deutschen Bundestag das Amt des Oppositionsführers. Dann sollte er es sein, der maßgeblich die Oppositionspolitik führt und koordiniert. Opposition zur Politik der Bundesregierung ist die Aufgabe des parlamentarischen Zentrums der Sozialdemokratie. Die oft überraschenden Initiativen zur eigenen Profilierung durch den SPD-Vorsitzenden haben gelegentlich den Effekt, das politische Profil der großen Oppositionspartei SPD zu verwischen.

In sehr kritische Zeit für Europa fällt das neueste Beispiel für eine mutige Innovation Sigmar Gabriels. Wenn die FAZ (03.08.2012) richtig berichtet hat, wird das Regierungsprogramm der SPD „nicht mehr im ´closed shop` geschrieben, sondern im Austausch mit Wissenschaftlern und Intellektuellen.“ So schildert die FAZ das „neue Verfahren“: „Sigmar Gabriel, der Vorsitzende der SPD, hatte Jürgen Habermas besucht und ihn um einen Beitrag für das Regierungsprogramm seiner Partei gebeten. Später gesellten sich der Philosoph Julian Nida-Rümelin und der Ökonom Peter Bofinger hinzu.“

Ergebnis ist ein „Essay“ der drei Persönlichkeiten, dankenswert von FAZ gedruckt: „Kurswechsel für Europa – Einspruch gegen die Fassadendemokratie“. Neben bekannter Darstellung der Probleme in der Eurozone wird u.a. gefordert: „Ohne einen Strategiewechsel wird die Währungsunion nicht mehr lange überleben. Es bedarf eines neuen Kurses. Er muss die Rolle Europas im Rahmen der Weltpolitik definieren.“ Solide Staatshaushalte, Wirtschaftsreformen für Beschäftigung und Wettbewerb, zu profan, das reicht nicht. Höchste Ebene, Groß-Diskurs, darunter geht es nicht bei solch großen Persönlichkeiten …

Mit diesem weltpolitischen Ziel sollte – so die drei Essayisten – die „Bundesrepublik, als Repräsentantin des größten ´Geberlandes` im Europäischen Rat, die Initiative zu einem Beschluss über die Einberufung eines Verfassungskonvents ergreifen … Mit einem positiven Ausgang der Referenden könnten die europäischen Völker die Souveränität, die ihnen von ´den Märkten` längst geraubt worden ist, auf europäischer Ebene wiedergewinnen.“ (FAZ, a.a.O.)

Diese mutige Initiative Sigmar Gabriels führte zu absehbarer Polemik aus den Regierungsfraktionen: Als gemeingefährlicher „Schuldensozialismus“ wurden die Überlegungen der Essay-Autoren zur künftigen Gestaltung der Eurozone kommentiert.

Die Fraktionsführung der SPD im Bundestag reagierte durch den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und Finanzexperten Joachim Poß (Pressemitteilungen, 06.08.2012, Nr. 840): „Die Schreihälse aus dem Koalitionslager sollen die Kirche im Dorf lassen. FDP und CSU müssen erst einmal ihre eigene Haltung zur Zukunft Europas und des Euros klären.“ Und wir „brauchen noch mehr substanzielle Strategievorschläge und Zukunftsentwürfe wie den von Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin, den Sigmar Gabriel zu Recht begrüßt.“ Die Stellungnahme durch Herrn Poß, MdB: subtil-meisterliche Archivierung des Europa-Essays. Herr Stoiber hätte gesagt: gelesen, gelacht, gelocht.

Der Präsident des Europäischen Parlaments, der Sozialdemokrat Martin Schulz, wie Herr Poß an vorderster Front europäischer Krisenpolitik, urteilt mit ihm eigener Deutlichkeit über den Essay-Vorgang: „Er kritisiert vor allem die Diskussion um eine politische Union in Krisenzeiten: ´Das ist ein dramatischer Fehler`, sagte Schulz. ´Ich kann nicht akzeptieren, dass wir uns in der aktuellen Situation in Theorie-Debatten verlieren.` Ein Umbau der Europäischen Union stehe im Moment nicht an. ´Mir kommt das so vor, als säße man in einem Flugzeug, das sich in schweren Turbulenzen befindet, und im Cockpit wird über die Verbesserung der Motoren diskutiert.`“ (SPIEGEL ONLINE, 01.09.2012).

Martin Schulz setzt sich intensiv auf EU-Ebene dafür ein, dass in Griechenland mit EU-Recht kompatible Sonderwirtschaftszonen eingerichtet werden. Um Investitionen und wirtschaftliches Wachstum in Hellas zu fördern, eng abgestimmt und durch EU-Fachleute begleitet. So fordert Martin Schulz „den Aufbau einer ´Wachstumsagentur`, bei der europäische und griechische Beamte gemeinsam förderwürdige Projekte identifizieren. ´Das ist ein Stück Kontrolle, aber auch gegenseitige Vertrauensbildung`, so Schulz. Der griechische Staat müsste akzeptieren, dass EU-Beamte auf griechischem Boden Reformen umsetzen. ´Aber die sind keine feindliche Besatzungsmacht, sondern Hilfsinstrument.`“ (www.sueddeutsche.de/; 01.09.2012).

Das ist Krisenpolitik statt Krisenphilosophie.