Leben mit Čechov.

„Lesen bildet für Dein ganzes Leben, wenn es ein gutes Buch ist“.

Gute sechs Jahrzehnte später denkt der, an den sich diese Worte richteten: „Gutes Buch“ klingt interessanter als „Gute Arbeit“.

Damals fuhr Frau Hieronymus fort: „Hier ist ein sehr lehrreiches Büchlein zur Heimatkunde, das auch Dein Klassenlehrer, Herr Koch, empfiehlt“. Tiefer Seufzer und dann: „Was gibt es zu Seemänner und Abenteuer?“

Nun seufzte Frau Hieronymus. Aber von Herzensgüte durchdrungen, suchte sie in der wenig besuchten Leihbücherei. Die leitete die angesehene Buchhändlerin in Hohenhausen ehrenamtlich. Und sie fand „Kapitän Bontekoes Schiffsjungen“ – den Volltreffer. Schon wegen der malaiischen Wendungen, mit denen die liebe Oma Olga alsbald traktiert wurde.

Denn jene fernen Länder hatte an Bord von S.M.S. Moltke, Gneisenau und Derfflinger der legendäre Opa gesehen – „Dein treuer Ernst“ sind Grüsse aus Tsingtao unterschrieben. Loyal und kaisertreu konnte er nach dem Ersten Weltkrieg in Wilhelmshaven-Rüstringen seine kleine Familie ernähren.

Zum Arzt, einem Marinekameraden, war er 1924 gegangen, um ein Mittel zu besorgen, weil seine Olga an Ohrenschmerzen litt. Der Doktor behielt ihn gleich da; kurz darauf starb Ernst plötzlich an verschleppten Kriegsfolgen.

So früh verwitwet, suchte Frau Olga, gelernte Konditorin, Erfolg als Hausschneiderin und hielt sich und Tochter Eva mit Qualitäts- und Maßarbeit, Fleiß und Sorgfalt über Wasser. Selbst Klavierunterricht sprang für´s schöne Töchterchen dabei heraus. Nur für ihre Familie lebte sie. Ihr härtester Tadel gegen den manchmal randalierenden Enkel: „Das hat man nun von seiner Gutheit!“

Damit und mit einem weiteren Seufzer nähern wir uns geduldig dem Thema. „Ach ja“, so wegen seiner sorgfältig dosierten Schwermut und Sprunghaftigkeit der gern erinnerte Freund: „Ach ja, du weisst ja, wie die russischen Frauen sind.“

Meiner Treu, habe die Ehre, wie das? Selbst in der Erinnerung lebt die Verblüffung. Nie habe ich eine russische Dame näher gekannt. Der Kummer des Freundes erlaubte nur verständnisvolle Geste. Aber ein Versäumnis lässt auf Dauer nicht ruhen, nicht mich! Was könnte der Freund gemeint haben? Leider kann Frau Hieronymus nicht mehr weiterhelfen. Wo und wen fragen?

Natürlich den größten, den am tiefsten verehrten, den Meister Anton Čechov!*) „Poprygun`ja“ – wie dieses Wort schon klingt – zeigt uns ein junges russisches Ehepaar. Frau Olga Ivanovna und den Arzt Osip Stepanyč Dymov.

Von Herrn Dymov erfahren wir am Ende der Erzählung: „Er diente der Wissenschaft und an der Wissenschaft ist er gestorben. Und gearbeitet hat er wie ein Ochse, Tag und Nacht, keiner hat ihn geschont …“ (S. 107).

Nichts, gar nichts davon ahnte Frau Olga. Sie konnte es auch nicht wissen. Nichts ist ihr vorzuwerfen; denn – es sei so treu wie möglich nacherzählt (S. 80-84) – wenn sie gegen elf Uhr aufstand, spielte sie Klavier oder malte. Kurz nach zwölf musste sie zur Schneiderin. Die Anprobe war der härteste Teil des Tages. Danach ging es zu einer Schauspielerin. Neues vom Theater und Karten für die nächste Premiere. Sodann ins Atelier eines Künstlers, zu einer Vernissage, schließlich Treffen mit vor allem neuer, ständig wechselnder Prominenz. Und überall herrschte Freude, wenn Frau Olga erschien.

Nach vier Uhr Mittagessen mit Herrn Dymov. „Seine Einfachheit, sein gesunder Verstand und seine Gutmütigkeit“ rührten ihr Herz. „´Dymov, du bist ein kluger und edler Mensch … aber du hast einen schwerwiegenden Fehler. Du interessierst dich überhaupt nicht für die Kunst. Du lehnst sowohl die Musik wie die Malerei ab.`“ (S. 82).

„´Ich verstehe nichts davon`, sagte er sanft, … ´ich hatte keine Zeit, mich für die Künste zu interessieren.`´Aber das ist doch entsetzlich, Dymov!`´Warum denn … Ich verstehe nichts davon, aber nicht verstehen heißt noch nicht ablehnen.`Frau Olga gerührt:´Komm, lass mich deine ehrenwerte Hand drücken!`“

Nach dem Mittagessen Termine für Frau Olga bei Bekannten, im Theater, im Konzertsaal – bis Mitternacht. Tag für Tag. Mittwochs gab Frau Olga kleine Abendgesellschaften. Der Sänger sang, der Schauspieler deklamierte, der Maler zeichnete. Und jede neue Berühmtheit stellte Frau Olga strahlend vor „Das ist er!“ Außer der unentbehrlichen Schneiderin waren Damen nicht geladen: zu „langweilig und fade“.

Niemand dachte an Dymov. „Doch pünktlich um halb zwölf öffnete sich die Tür, die ins Esszimmer führte, Dymov erschien mit seinem gutmütigen, sanften Lächeln … :´Meine Herren, ich bitte zu einem Imbiß.`“

Und Frau Olga rief begeistert: „Mein lieber maȋtre d´hôtel! … Du bist einfach bezaubernd … Meine Herren, schauen Sie hin: das Gesicht eines bengalischen Tigers, aber der Ausdruck ist gut und lieb wie bei einem Hirsch. Uh, du Lieber!“ Schnell war Dymov wieder vergessen. Und dennoch: „Die jungen Ehegatten waren glücklich…“ (S. 83f.).

Habe ich nun meinen alten Freund verstanden? Kenne ich nun die russischen Frauen? Zweimal Frau Olga, sicher polare Beispiele, aber überall vorstellbar, in Varianten diesseits, jenseits, hier und da – im unendlichen Panorama menschlicher Vielfalt.

Wie sind die russischen Frauen? Wie sind die Menschen? Für die Fragenden, die Neugierigen dieser Welt hat der Arzt Anton Čechov geschrieben. Ganz leicht, wie ein Vogel singt.**)

*) Anton Čechov, Meistererzählungen, Zürich 1989, Diogenes Taschenbuch; Flattergeist, S. 78 -108.

**) Vgl., a.a.O.; Nachwort von W. Somerset Maugham, S. 247.