Linke Regierung – nie wieder?

Heute fragt mich eine geschätzte Kommilitonin, was ich von der These im Focus halte, die Linken kämen nie mehr an die Macht *1). Besichtigen wir diese gewagte Behauptung.

Zunächst möchte ich dem Autor, Herrn Dönch, zugeben, dass das linke Lager bei dieser Bundestagswahl mit den verteilungs- und steuerpolitischen Schwerpunkten etwas neben der Mitte der Wähler lag. Das hat aber nichts mit seiner Langfrist-Vorhersage zu tun. Sein Hinweis auf das Problem der „Trittbrettfahrer und Sozialschmarotzer“ zeigt mangelnde Kenntnis der überschaubaren quantitativen Bedeutung des Problems sowie der Instrumente zuständiger Behörden, damit fertig zu werden, und stützt seine Aussage keineswegs.

Wäre Dönchs Behauptung in der heutigen delikaten politischen Wetterlage nicht so unangemessen polemisch, lohnte es nicht, darauf einzugehen. Doch so gravierende Verstöße gegen politische Kultur in Qualitäts-Medien sollten derzeit nicht hingenommen werden.

Deshalb möchte ich zunächst den Kern der These von einem anderen Blickwinkel bearbeiten, indem ich Gedanken eines der von mir verehrten Intellektuellen der vergangenen Jahrzehnte aufgreife. Professor Ralph Dahrendorf, der große Liberale, hatte in den 1980er Jahren die These vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ geprägt. *2)

Dabei ging er allerdings mit hohem Respekt gegenüber den historischen Leistungen der Sozialdemokratie vor. Dahrendorf gelangte dann zu seiner These, indem er nachzeichnete, dass die sozialdemokratischen Politik-Innovationen inzwischen von allen maßgeblichen politischen Kräften übernommen worden seien. Insbesondere gelte dies für die konjunkturelle Globalsteuerung, die Struktur- und Wachstumspolitik, die Politik sozialen Ausgleichs, die wissenschaftliche Begleitung der Politik und die internationale Friedenssicherung.

Ralph Dahrendorf anerkannte, dass diese sozialdemokratischen politischen Instrumente wesentlich zu nie gekanntem allgemeinem Wohlstand und zu vielfältigen Chancen für den Einzelnen beigetragen hätten. Nur wäre das jetzt Allgemeingut. Not und Ungerechtigkeit seien weitgehend überwunden, die sozialdemokratischen Ziele also verwirklicht, und damit gehe das sozialdemokratische Zeitalter seinem Ende entgegen.

Die Historikerin Professor Susanne Miller, herausragende Repräsentantin der Sozialdemokratie, hatte seinerzeit Dahrendorfs Analyse weitgehend zugestimmt. Allerdings hielt sie ihm die tiefgreifenden Programmreformen sozialdemokratischer Parteien entgegen, mit denen obsoletes Gedankengut überwunden und erneuerte Regierungskompetenz erarbeitet worden sei.

Das entscheidende Argument Susanne Millers gegen Dahrendorfs These ist jedoch: Den Erfolg auch sozialdemokratischer Parteien bestimmt das öffentliche Ansehen des Führungspersonals und damit das Urteil der Wähler über die voraussichtliche Qualität der Regierungsführung durch konkurrierende Parteien.

Ein Jahrzehnt, nachdem Susanne Miller diese Kritik der These Dahrendorfs in einem Vortrag für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Washington entwickelt hatte, wurden ihre Gedanken durch Gerhard Schröder eindrucksvoll bestätigt. Gerhard Schröder gewann bekanntlich die Bundestagswahl 1998 gegen Helmut Kohl gerade mit seinem Kernsatz: Ich will nicht alles anders, aber manches besser machen.

Verlassen wir diese zeitgeschichtliche Ebene und urteilen über den erwähnten Focus-Artikel zum angeblich ewigen Ende linker Regierungsmacht so: außergewöhnlich kurzsichtig, politische Myopie von mindestens minus dreißig Dioptrien.

*1) Uli Dönch, Warum es die Linken nie mehr an die Macht schaffen, 01.10.2013, 06:30, www.focus.de/finanzen/doenchkolumne/koalitionskampf …

*2) Dazu ist im „Transatlantischen Dialog für soziale Demokratie“, Abschnitt 2.2., auf dieser Website kurz eingegangen worden.