Mare Nostrum.

Weltweit arbeiten Deutsche mit ihren Partnern für die Ziele deutsch-europäischer Entwicklungszusammenarbeit: „Deutschlands Rolle im Rahmen der EU … ist Teil der deutschen Verantwortung für eine Zukunft, in der alle Menschen ihr Recht auf Nahrung, Bildung und Gesundheit verwirklichen können.“ *1)

Und weltweit wird seit Jahren das Massensterben der Flüchtlinge im Mittelmeer und an Europas Küsten beobachtet. Was mögen die Partner Deutschlands denken, wenn sie immer wieder das Ensetzliche vor Europas Haustür mit dem Anspruch deutscher internationaler Zusammenarbeit und dem Nimbus deutscher Führung in Europa vergleichen?

Die Antwort ist leicht zu erraten. Die Textbausteine für beißend-zynische Kommentare werden der Welt frei Haus geliefert. Von den für Internationale Zusammenarbeit verantwortlichen Ministerien selbst.

Das BMZ: Deutschland und die EU — gemeinsame Handels-und Migrationspolitik, deutsche Verantwortung für Zukunft. *1)

Das Auswärtige Amt (AA): Die Union für den Mittelmeerraum wurde am 13. Juli 2008 durch einen feierlichen Gipfel in Paris gegründet … Ziel der Union für den Mittelmeeraum ist die Förderung der wirtschaftlichen Integration und demokratischer Reformen im euromediterranen Raum … (die) Säuberung des Mittelmeeres, Verbesserung der Verkehrsverbindungen auf Land und See … *2)

Dennoch sei den weltweiten Partnern deutscher Zusammenarbeit versichert: Es wird jetzt gehandelt werden. Verlasst Euch darauf! In der deutschen Öffentlichkeit brodelt Empörung.

Die Philippika des über alle Parteigrenzen einflussreichen Christdemokraten Heiner Geißler wird alsbald Wirkung zeigen *3):

Mit Ausnahme von Italien wirft Geißler allen europäischen Ländern Versagen vor, „einschließlich der deutschen Regierung.“

Dem Bundesministerium des Innern sei anzulasten, dass die von Italien entwickelte Marineoperation Mare Nostrum „zusammengestrichen wurde — mit dem völlig falschen Argument, dadurch würden die Schlepperbanden begünstigt“. Nach dem Ende des Programms habe die Zahl der Schlepperbanden nicht ab-, sondern zugenommen.

Wikipedia zufolge hat das Projekt Mare Nostrum der italienischen Marine und Küstenwache von Oktober 2013 bis Ende August 2014 Schleuserschiffe bekämpft und 80.000 Flüchtlinge in Sicherheit gebracht. Geißler vermisst offenbar eine vergleichbare Leistungsfähigkeit der EU nach der Beendigung des italienischen Mare Nostrum Programms im Oktober 2014.

Besonders hart weist Heiner Geißler Stimmen in der Union zurück, die wegen des Zulaufs zu Rechtsextremen eine zurückhaltende Flüchtlingspolitik empfehlen: „Welch ein Blödsinn. Christliche Demokraten sollten auf den Papst hören und nicht auf krude Parolen von Pegida oder NPD.“

Die weitere Debatte in der deutschen Öffentlichkeit wird wesentlich durch einen herausragenden Beitrag von Theo Sommer geprägt werden. Theo Sommer fordert vier Maßnahmen von der deutschen und europäischen Politik. *4)

Erstens: Unverzüglich sei die italienische Operation Mare Nostrum wieder in Kraft zu setzen. Mit „voller finanzieller und materieller Unterstützung der übrigen EU-Mitglieder.“

Zweitens: Für die Flüchtlinge sind in der EU einheitliche Schutz- und Asylkriterien sowie eine faire Verteilung auf die EU-Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

Drittens: In Nordafrika sollten für Asylsuchende Zentren eingerichtet werden, wo sie Schutz und eine schnelle Entscheidung über ihre Asylanträge finden. Würde der Antrag bewilligt, könnten die „Asylbegehrenden … im regulären Fährverkehr nach Europa reisen und wären nicht mehr auf gewissenlose Menschenschmuggler angewiesen.“

Viertens: Um „eine faire, menschenfreundliche und die kriminellen Schlepper ausschließende Lösung zu finden“ müsse „militärische Kontrolle über die libysche Mittelmeerküste“ herbeigeführt werden.

Theo Sommer plädiert eindringlich für Realismus: „Europa kann nicht Millionen aufnehmen … Die Tür ganz zuzuschlagen, würde hingegen unseren Humanitätsanspruch als reine Heuchelei enthüllen. Versuchen wir denn, den Spalt so weit zu öffnen, dass weder Menschen vor unseren rettenden Gestaden ertrinken noch unsere Demokratie in die Hände der Le Pens, Farages, Wilders‘ und deren Spießgenossen fällt.“

Kein verantwortlicher Politiker ist mir bekannt, der seine Informationsaufgabe gegenüber den Bürgern mit vergleichbarer Klarheit wahrgenommen hat. Das mag bedauert oder — wie Heiner Geißler es ausdrückt — als Versagen bewertet werden.

Umso bedeutender ragt der Beitrag Theo Sommers heraus, der die Sorgen der Bürger vor dem Flüchtlingsdrama im Mare Nostrum aufgenommen und uns durch eine realistische, illusionslose Lösungsperspektive orientiert hat.

Wenn Europa von Mare Nostrum, von unserem Meer, von unserem Mittelmeer spricht, dann sollte Europa auch Kants „Bedingungen der allgemeinen Hospitalität“ auf dem Mare Nostrum anerkennen. Und „da bedeutet Hospitalität das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; solange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen.“ *5)

Theo Sommer hat uns diesen Gedanken Immanuel Kants als menschenrechtliches Gebot gegenüber den Flüchtlingen auf dem Mare Nostrum überzeugend vermittelt.

*1) Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), Zukunftscharta Eine Welt — Unsere Verantwortung; https://www.zukunftscharta.de/zukunftscharta/de/journal/44335/post/96; 21.11.2014.

*2) Die Union für den Mittelmeerraum. Stand 17.04.2014; http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Europa/Aussenpolitik/Regionalabkommen EuroMedPartnerschaft_node.html. Wie gesagt: gelesen, gelacht, gelocht!

*3) Interview zum Mittelmeer-Drama. CDU-Veteran Geißler zur Flüchtlingspolitik: „Scharfmacherische faule Ausrede“. Dienstag, 21.04.2015, von FOCUS-Online-Korrespondentin Martina Fietz.

*4) FLÜCHTLINGE. Mehr Rettungsboote allein werden nicht reichen. VON THEO SOMMER, 21. April 2015, Fünf vor 8:00, zeit.de. „Was aber tut die Politik?“ lautet Theo Sommers Anfrage, die Heiner Geißlers Vorwurf des Versagens entspricht.

*5) Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden, Herausgegeben von Theodor Valentiner, Reclam, Stuttgart, 1961, S. 35 f.