Martin Schulz: Siemens-Bashing.

Allen Nachkriegsregierungen der Bundesrepublik Deutschland war der soziale Friede und die sozialpartnerschaftliche Zusammenarbeit von Unternehmen und Gewerkschaften wichtig und wurde durch gesetzliche Rahmenbedingung gefördert. Das gilt insbesondere für die Regierungen von Willy Brandt und Helmut Schmidt in den 1970er Jahren. Von deren Errungenschaften für industrielle Kooperation aus sei auf den heutigen SPD-Vorsitzenden geblickt.

Im Deutschen Bundestag und auf öffentlichen Plätzen führt Martin Schulz eine Sprache gegen die Führung eines der bedeutendsten deutschen Unternehmen, für die das Urteil „nicht seriöses Siemens-Bashing“ (MdB Pfeiffer, CDU) *1) noch zurückhaltend formuliert ist.

Arbeitsplatzverluste — Sicht der Führung von Siemens.

Die Aktivitäten des weltweit tätigen Unternehmens können hier nur als kurzer Überblick beschrieben werden: *2)

  • Die Siemens AG beschäftigt über 380 Tausend Menschen, davon 115 Tausend in Deutschland.
  • Über 5 Mrd. Euro gab das Unternehmen für Forschung und Entwicklung aus, davon mehr als 3 Mrd. € in Deutschland.
  • Von den fast 3 Mrd. € für Investitionen in Fertigungen und Sachanlagen sei rd. eine Mrd. € in Deutschland erfolgt.
  • Zukunftsfelder seien für Siemens vor allem die Bereiche der Erneuerbaren Energien, der Mobilität (z. B. Zugsparte wie ICE) und der Gesundheit.
  • Erfolgsentscheidende Innovationen bilden für Siemens und seine Kunden: die additive Fertigung — also der 3D-Druck —, die Künstliche Intelligenz, datenwirtschaftliche Blockchain-Anwendungen und Energiespeicher-Technologien.
  • Mit einem Gewinn nach Steuern von 6.2 Mrd. € wachse Siemens auch profitabel. Das hervorragende Geschäftsergebnis 2017 liege sogar über dem historischen Erfolg des letzten Jahres.

Innovation treibe die Digitalisierung, und die Digitalisierung treibe die Innovation, so Joe Kaeser, Vorstandsvorsitzender der Siemens AG. *2)

Siemens habe allerdings auch strukturelle Probleme zu lösen:

  • Dies betrifft vor allem die „Division Power and Gas“, die „seit längerem mit sehr schwierigen Marktverhältnissen und strukturellen Herausforderungen“ kämpfe.
  • Kaeser: „2010 prognostizierten alle einen zukünftigen Markt auf einem Niveau von 300 Großen Gasturbinen … Prognosen zufolge wird der Markt voraussichtlich in einer Größenordnung von ungefähr 110 verharren.“
  • Die Überkapazitäten seien dramatisch: „Siemens Power and Gas inklusive Power Services beschäftigt derzeit 47.000 Mitarbeiter weltweit, darunter 16.000 in Deutschland“.
  • In den vergangenen drei Jahren seien in Deutschland an Großen Gasturbinen bestellt worden: „ganze zwei!“ (Kaeser) *2)
  • Daher müsse Siemens „jetzt handeln, unsere Kapazitäten anpassen und zugleich in innovative Zukunftstechnologien investieren.“ *2)

Die Arbeitsdirektorin Janina Kugel umreißt die Aufgabe der „Kapazitätsanpassung bei Power and Gas (PG): Massive Kostensenkungen „reichen leider nicht aus, um dem strukturellen, also langfristigen Wandel in der Branche erfolgreich zu begegnen. Konjunkturelle Schwankungen in einzelnen Geschäften können wir üblicherweise ausgleichen. Bei strukturellen Veränderungen — wie wir sie bei PG sehen — müssen wir entsprechend reagieren … Defizitäre Geschäfte dauerhaft zu subventionieren, wäre verantwortungslos. Das würde über kurz oder lang dem gesamten Unternehmen schaden — und all unseren Mitarbeitern weltweit. Deshalb sind wir gezwungen, über weitere Schritte nachzudenken — übrigens weltweit.“ *2)

Inzwischen habe Siemens die Arbeitnehmervertreter des Betriebsrates im Rahmen eines „außerordentlichen Wirtschaftsausschusses“ über Einschnitte und die Möglichkeit betriebsbedingter Kündigungen in der Kraftwerkssparte PG informiert.

Arbeitsplatzverluste — Sicht der Industriegewerkschaft Metall (IGM).

Nach Mitteilungen der IG-Metall sollen bei PG die Turbinenwerke Görlitz und Leipzig geschlossen werden. Ferner würden in der Sparte „Process Industries and Drives“ (PD) am Standort Berlin 870 Stellen gestrichen: „Als ´Tiefschlag für die Mitarbeiter wertet der Wirtschaftsausschuss, was das Management heute endlich offen auf den Tisch gelegt hat. Weltweit stehen knapp 7.000 Stellen im Visier, die Hälfte davon in Deutschland.“ *3)

Gesamtbetriebsrat und IG-Metall: „Siemens (hat) trotz aller Appelle und Absprachen die seit langem absehbaren strukturellen Probleme nicht angepackt. Außer Stellenabbau ist nie etwas in dieser Hinsicht geschehen, jetzt sollen ein weiteres Mal die Beschäftigten die Zeche begleichen.“ *3) IG-Metall, Betriebsräte und Belegschaften erwarten, dass „betriebsbedingte Kündigungen und Standortschließungen“ entsprechend der langjährig geltenden „Vereinbarung zur Standort- und Beschäftigungssicherung“ ausgeschlossen werden.

Arbeitsplatzverluste — Martin Schulz über das Siemens-Management.

SPD-Chef Martin Schulz, MdB, im Deutschen Bundestag: *1)

  • Bei Siemens heißt es vonseiten der Konzernleitung, es solle – ich zitiere – „die Auslastung der Werke gesteigert, die Effizienz vorangetrieben und Kompetenzen durch die Bündelung von Ressourcen ausgebaut werden“.
  • Man könnte auch sagen: Wir schmeißen die Leute raus, das steigert den Gewinn. – Das ist nicht das Verhalten eines verantwortungsbewussten Managements.
  • Die Entscheidung ist unverantwortlich, weil sie ohne jede Rücksichtnahme auf das Leben der Beschäftigten und ihrer Familie getroffen worden ist.
  • Und nicht zuletzt ist sie unverantwortlich, weil dies zu schweren Schlägen gegen die Wirtschaft in Regionen unseres Landes führt, die Stabilität brauchen und nicht Verantwortungslosigkeit von Arbeitgebern.
  • Dieser Vertrauensbruch wiegt umso schwerer, weil sich damit ein wichtiger Arbeitgeber vor allen Dingen aus dem Osten unseres Landes zurückzieht, aus Regionen, die den Rückzug von Siemens eben nicht leicht auffangen können.
  • Ich komme noch einmal zu den Managementfehlern. Wenn sich bestimmte Betriebssparten kompliziert entwickeln, man aber in anderen Betriebssparten zugleich Riesengewinne erzielt, dann kann man sie doch nutzen, um die Schwierigkeiten abzufangen.
  • Nein, stattdessen wird zu einem alten Mittel gegriffen, das kapitalistische Unternehmen immer haben: Wenn es hart wird, muss am Ende die Belegschaft bluten.

Versuch einer abschließenden Stellungnahme.

1. Ich kann mich recht gut an die SPD-Vorsitzenden seit Mitte der 1950er Jahre erinnern: Eine derartige Attacke gegen ein deutsches Unternehmen erinnere ich jedenfalls nicht. Woran ich mich dagegen gut erinnere ist, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder den Finanzminister Lafontaine wegen seiner Auftritte gegenüber der Wirtschaft aus dem Kabinett geworfen hat.

2. Folgt man Martin Schulz, dann ist Siemens ein unverantwortliches, Vertrauen brechendes kapitalistisches Unternehmen, das für Management-Fehler die Belegschaft bluten lässt. *1)

Folgen wir auch dem Hinweis Joe Kaesers auf eine Umfrage von 2017 des Forbes Magazine, das 15.000 Menschen aus 60 Ländern zum Ansehen der 2000 „Global 2000 companies“ befragt hat. Die Kriterien für das Urteil waren: Vertrauenswürdigkeit und Ehrlichkeit; soziales Engagement; Ansehen als Arbeitgeber; Qualität und Performance der Produkte und der Dienstleistungen. Ergebnis: Siemens landete auf Rang 1 der Unternehmen mit der höchsten Reputation weltweit. *2)

3. Selbstverständlich sind gewerkschaftlicher und politischer Protest über harte Standortschließungen oder Arbeitsplatzabbau ebenso zu verstehen wie die Forderung, solche Maßnahmen “sozialverträglich“ zu gestalten, was der Siemens-Chef Kaeser auch zugesagt habe: „Den von Stellenstreichungen bedrohten Mitarbeitern stellte er eine Weiterbeschäftigung in anderen Konzernbereichen in Aussicht.“ *4)

4. Das „Siemens-Bashing“ von Schulz mag in Bezug auf politische Angemessenheit verglichen werden mit dem Appell des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Michael Müller (SPD), „für Standorte in Ostdeutschland eine Perspektive zu schaffen. Es sei offensichtlich geplant, nicht nur Arbeitsplätze bei Siemens abzubauen, sondern komplette Standorte zu schließen. ´Das wäre natürlich ein erheblicher Einschnitt insgesamt in die Industrielandschaft Ostdeutschlands`, sagte Müller. Er sehe das Unternehmen in der Pflicht, sich des Problems bewusst zu sein.“ *5)

5. Sicher ist hier ein Konflikt festzustellen zwischen der Führung des Unternehmens Siemens und der IG-Metall, den Betriebsräten und der Belegschaft, ein industrieller Konflikt. Eine Lösung dieses Konfliktes ist anzustreben.

6. Dies wird auch gelingen. Denn gerade durch die sozialdemokratischen Regierungen der Vergangenheit, mit den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt, sind in der Bundesrepublik Deutschland solche Konflikte „aus dem politischen System ausgelagert … (und) zu einem hohen Grade institutionalisiert … Konflikte am Arbeitsplatz werden aufgrund des Betriebsverfassungsgesetzes geregelt, Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer sind im Mitbestimmungsgesetz festgelegt.“ Für die Bundesrepublik ist festgestellt worden, „dass kooperative Gewerkschaften an einer Verrechtlichung industrieller Konflikte großes Interesse hätten. Die Verrechtlichung verbiete die Politisierung industrieller Konflikte und ermögliche sozialpartnerschaftliche Politik.“ *6)

7. Wenn aber in Deutschland die Verrechtlichung industrieller Konflikte deren Politisierung verbietet und damit sozialpartnerschaftliche Politik ermöglicht, dann sollten die verantwortliche Unternehmensleitung und die Arbeitnehmer-Vertreter und Gewerkschaften darauf setzen. Die verantwortlichen Sozialpartner von Siemens sollten im Rahmen des Mitbestimmungsgesetzes über Maßnahmen verhandeln, wie der Strukturwandel „sozialverträglich“ gestaltet wird. Sie mögen Auftritte ignorieren wie die des SPD-Vorsitzenden Schulz, weil der Siemens öffentlich als „unverantwortliches, Vertrauen brechendes kapitalistisches Unternehmen, das für Management-Fehler die Belegschaft bluten lässt“ diffamiert hat. *1)

8. Siemens-Chef Kaeser hat zu den Anwürfen des SPD-Chefs Schulz in einem Offenen Brief Stellung bezogen.

„Was den Weg nach vorne angeht, so möchte ich Ihnen zusichern, dass wir mit großer Sorgfalt und Respekt an die Lösung des Strukturwandels in der fossilen Energie­erzeu­gung herangehen. Die Einbindung unserer Mitarbeiter im Rahmen der Betrieblichen Mitbestimmung ist für uns ein hohes Gut. Wir sprechen auch lieber miteinander statt übereinander und suchen nach Lösungen auf der Basis von Fakten. Dazu muss aber der Dialog zwischen den Arbeitnehmer- und den Unternehmensvertretern umgehend aufgenommen werden. Der öffentliche Wettbewerb in Populismus und Kampfparolen und die Verweigerung des Dialoges helfen den wirklich Betroffenen nicht weiter, höchstens unseren Wettbewerbern.“ *7)

Als Sozialdemokrat beschämt mich, dass sich der SPD-Vorsitzende durch sein maßloses „Siemens-Bashing“ eine solche verdiente Abfuhr einhandelte.

*1) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 2. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2017. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD. Arbeitsplatzverlust bei Siemens vermeiden — Neue Perspektiven für Beschäftigte schaffen. Rede von Martin Schulz und Debattenbeitrag von Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU).

*2) München, 9. November 2017. Jahrespressekonferenz Geschäftsjahr 2017. Ziele erreicht – ein weiteres herausragendes Jahr für Siemens.

Joe Kaeser, Vorstandsvorsitzender, Siemens AG. Janina Kugel, Personalvorstand, Siemens AG. Ralf P. Thomas, Finanzvorstand, Siemens AG.

https://www.siemens.com/press/pool/de/events/2017/corporate/2017-Q4/2017-q4-rede.pdf.

*3) 16.11.2017. Kampfansage des Managements; https://www.dialog.igmetall.de/artikel/datum/2017/11/16/titel/kampfansage-des-managements/.

*4) Aktualisiert: 15.11.17. STELLENABBAU DROHT. IG Metall droht Siemens bei Kündigungen Widerstand an;

https://www.merkur.de/politik/ig-metall-droht-siemens-bei-kuendigungen-widerstand-an-zr-9365232.html.

*5) „MÖGLICHST SOZIALVERTRÄGLICH“. Siemens schließt zwei Standorte — und streicht deutschlandweit 3300 Jobs. Aktualisiert: 16.11.17. Stunde der Wahrheit bei Siemens: Im Wirtschaftsausschuss des Konzerns kamen am Donnerstag die geplanten Jobkürzungen auf den Tisch. Die IG Metall bekräftigte ihre Kritik.

https://www.merkur.de/wirtschaft/siemens-schliesst-zwei-standorte-streicht-deutschlandweit-3300-jobs-zr-9367666.html.

*6) Pipers Wörterbuch zur Politik. Band 2. Herausgegeben von Dieter Nohlen. Westliche Industriegesellschaften. Herausgegeben von Manfred G. Schmidt. Artikel Industrielle Beziehungen. Von Klaus Armingeon. S. 151 f.. München, Zürich 1983. (Hervorhebung RS).

*7) Miteinander reden statt übereinander: Mit Fakten. Siemens ist viel an einer Versachlichung der aktuellen Restrukturierungsdebatte gelegen. Deswegen finden Sie hier Fakten, Fragen & Antworten rund um die Pläne, den strukturellen Wandel der Märkte der Divisionen PG und PD aktiv selbst zu gestalten und so die Geschäfte zukunftssicher aufzustellen.

Offener Brief. Offener Brief an Martin Schulz, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. 22. November 2017.

Man beachte auch Kaesers Hinweis an Schulz auf die Notwendigkeit struktureller Anpassungen: „Siemens hat Anfang des Jahrtausends seine Wurzeln, das Telekommunikations­geschäft, unrühmlich aufgeben müssen, weil es sich den Realitäten verweigert hat. Am Ende brachte der Niedergang des Telekommunikationsgeschäftes bei Siemens die ganze Firma ins Wanken. Das darf uns nicht wieder passieren — das sind wir den über 98 % der Kolleginnen und Kollegen, die vom Strukturwandel im Energiegeschäft nicht direkt betroffen sind, schuldig. Denn wir haben mehr zu verlieren als eine Wahl.“