Meinungsfreiheit und der Fall Sarrazin.

Die fast 150 Jahre bestehende SPD hat sicher das besondere Verdienst und die besondere Bürde, eine demokratische, der offenen Debatte weiten Raum gebende Volkspartei zu sein. Gut so! Ist im Rahmen dieser offenen Streitkultur auch der Fall Dr. Thilo Sarrazin durch das Parteiordnungsverfahren angemessen behandelt worden?

Erinnert sei zunächst an Anekdoten der 1970er Jahre über Juso-Debatten. Z.B. was Gerhard Schröder im Mannesalter von Mitte Dreißig über „Staatsmonopolistischen Kapitalismus“ zum Besten gab. Und damit den maßvoller argumentierenden Ottmar Schreiner im Kampf um den Juso-Vorsitz beiseite gedrängt habe.

Es ist ja richtig: Der Nachwuchs für den Beruf des Politikers braucht eine Arena, in der das Wichtigste geübt wird, was ein Politiker lernen muss: Mehrheiten organisieren. Da erscheint es organisationspolitisch vernünftig, den Politik-Lehrlingen breitesten Raum zu lassen.

Das war wohl in der SPD Willy Brandts die vorherrschende Sichtweise. Nach meiner Erinnerung und zu meinem damaligen Bedauern flog nur einer über das Juso-Kuckucksnest: Klaus-Uwe Benneter, damals, obschon bereits Rechtsanwalt, auch Benni Bürgerschreck genannt. Und was für ein angesehener Sozialdemokrat ist er heute!

So gesehen, müssen die an der Lösung des Falls Sarrazin hochgekochte Kritik und Rücktrittsforderungen von Jusos, gerichtet an Generalsekretärin Andrea Nahles, nicht weiter beunruhigen. Meinungsfreiheit ist aber nicht nur Jusos zuzugestehen, sondern erst recht Spitzenpolitikern, die viel für unser Land geleistet haben. Das macht ja den Ausgang des Vorgehens gegen Wolfgang Clement so bedauerlich! Wenn Jusos einen Rede-Freibrief haben, warum dann nicht auch solche Persönlichkeiten?

Sarrazins Analysen und Meinungsäußerungen haben ungewöhnlich scharfe Kontroversen hervorgerufen. Das ging soweit, dass der Verbleib dieses durch Sanierung des Berliner Haushalts hochverdienten Finanzpolitikers in der Leitung der Deutschen Bundesbank in Frage gestellt wurde. Angeblicher Verstoß gegen das Gebot politischer Zurückhaltung und Mäßigung! Sein Rücktritt aus diesem Gremium sei von den höchsten Stellen des Staates, Bundespräsident und Bundeskanzlerin, als unvermeidlich angesehen worden.

Darüber hinaus wurde in der Öffentlichkeit eine politische Bewertung erwartet, ob die Aussagen Sarrazins mit den Grundsätzen der Sozialdemokratie vereinbar wären. In dieser Situation einer die SPD-Mitgliedschaft spaltenden Kontroverse hat Sigmar Gabriel Führung gezeigt und eindeutig Position bezogen.

Gegen die Mehrheitsmeinung in seiner eigenen Partei und erst recht in der Bevölkerung und Wählerschaft hat der SPD-Vorsitzende Thesen und Interview-Äußerungen Sarrazins scharf verurteilt. Dessen biologistisches Menschenbild verletze die Gleichheit und Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen und damit sozialdemokratische Grundwerte. Gegen vielfachen, sachlich und politisch-taktisch wohlbegründeten Rat ist er sehenden Auges das Wagnis eingegangen, durch ein Parteiordnungsverfahren prüfen zu lassen, ob Sarrazins Positionen mit der Mitgliedschaft in der SPD vereinbar sind. Darin ist Sigmar Gabriels Führungsleistung zu sehen: gegen den Strom!

Und Sigmar Gabriel musste wissen, dass dies Verfahren sehr wahrscheinlich nicht mit einem Parteiausschluss Sarrazins enden würde. Dass die auf Ausschluss gerichteten Erwartungen der öffentlichen Kritiker Sarrazins sich am Ende gegen ihn selbst mit dem Vorwurf richten könnten, ein Fiasko zu verantworten. Die Verteidiger Sarrazins würden ihm ohnehin verübeln, dass er dessen Kritik an jahrzehntelangen Versäumnissen der Integrationspolitik nicht positiv aufgreife. Und er musste von Beginn an wissen, dass er gegen die Gummi-Wand grün-kirchlicher Großheuchler laufen würde.

Am 6. September 2010 zeigte Reinhard Mohr (SPIEGEL, Sarrazin-Debatte bei „Anne Will“), was die SPD im Umfeld selbsternannter Moral-Eliten zu erwarten hat: Frau Katrin Göring-Eckardt, MdB, Vorsitzende der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), knüpfte an Stichwortgeber Klaus Wowereit – „erschreckendes Menschenbild“, „kollektive Verunglimpfung“ – an. Sie „… schob noch den ebenso unausweichlichen Terminus ´rassistische Äußerungen` hinterher. Ansonsten beschränkte sie sich auf jene klebrigen Sprechblasen der politischen Korrektheit, gegen die Kaugummi ein verlässlicher Baustoff ist: ´Es ist Sorge da draußen im Land` oder ´Ich finde Veränderung spannend`.“

Kurz, Simar Gabriel schob alle politische Taktik beiseite und nahm seine Verantwortung als Parteivorsitzender wahr, indem er ein klares Werturteil gegen Sarrazins Positionen fällte und das rechtsstaatlich transparente Parteiordnungsverfahren einleitete. Führung in einer „Loose-Loose-Situation … Pest oder Cholera?“ – so Politikberater Thomas Steg am 28.4. 2011 in dradio.de.

Wie schwierig die Situation der Sozialdemokratie gegenüber Herrn Sarrazin war, lässt sich an einigen Stellungnahmen angesehener Persönlichkeiten ablesen, die hier auszugsweise noch einmal zusammengestellt und zitiert werden sollen:

Thomas Steg: „Männer wie Helmut Schmidt oder Peer Steinbrück haben gesagt, so einen Mann müssen wir in unserer Partei ertragen.“ (a.a.O.)

Reinhard Mohr (a.a.O) zitiert Professor Dr. Norbert Bolz, Philosoph und Kommunikationswissenschaftler, mit der Feststellung: „Es gebe viele Parallelgesellschaften .. nicht zuletzt eine ´Parallelgesellschaft Politik`, die mit der Wirklichkeit im Lande nicht mehr viel zu tun habe. Die Auseinandersetzungen der vergangenen Tage seien ein wahrer ´Offenbarungseid` der politischen Klasse gewesen, die durch ihren ´ziemlich katastrophalen Umgang` mit der Causa Sarrazin einen ´unglaublichen Druck` aufgebaut und ´die Leute zum Narren gehalten` habe. Meinungsfreiheit heiße eben auch ´Respekt vor Andersdenkenden`.“

Majid Sattar (Schmerzvoller Abschied vom Multikulti, 8.9.2010, faz.net) würdigt Heinz Buschkowsky, Bürgermeister des Berliner Bezirks Neukölln. Er habe „… über Jahre die Probleme in seinem Bezirk beim Namen genannt: Parallelgesellschaften, Ausländerkriminalität, Bildungsverweigerung, Zwangsehen. Vielen Genossen war er deshalb ein Dorn im Auge, obwohl er es nie bei Kritik beließ, sondern Stadtteilinitiativen und Schulprojekte startete, Hausbesuche von Sozialarbeitern organisierte und auch stets auf Integrationserfolge verwies. Buschkowsky sei ´ein Sozialdemokrat` – dieses Wort Gabriels war seinerzeit auch eine Mahnung an seine Partei, doch bitte nicht jeden Querdenker sogleich als Abweichler zu brandmarken. Dass Buschkowsky in der Debatte über Thilo Sarrazin zwar dessen biologistische Thesen ablehnt, aber vor einem Parteiausschluss des früheren Berliner Finanzsenators warnt, hat mit seinen sehr persönlichen Erfahrungen mit den lieben Genossen zu tun.“

Christoph Heinemann ( dradio.de, 6.9.2010) führt ein Gespräch mit Klaus von Dohnanyi, der feststellt: „… Herr Sarrazin ist weder ein Rassist, noch hat er irgend etwas geschrieben oder gesagt, was einen Ausschluss aus der SPD rechtfertigen würde. Ich rate meiner Partei, anstatt einen solchen Ausschluss zu beschließen, Herrn Sarrazin erst mal anzuhören, mit ihm zu diskutieren und dann vielleicht im beiderseitigen Einverständnis festzustellen, dass es Missverständnisse auf beiden Seiten gab und dass man den Fall sozusagen dadurch beendet, dass man sich nun diesem Thema, nämlich einer besseren Integration von integrationswiderstrebenden Migrationsgruppen zuwendet.“ Herr von Dohnanyi hat die Konsequenz gezogen und seine Ankündigung wahr gemacht, die Verteidigung Dr. Sarrazins im Parteiordnungsverfahren zu übernehmen.

Professor Dr. Hans-Ulrich Wehlers (DIE ZEIT, Nr. 41, 7.10.2010, Ein Buch trifft ins Schwarze) Aussagen sollten mehrfach gelesen werden:

„Anstatt über Sarrazins Thesen zu diskutieren, erteilt die regierende Klasse dem Autor ein politisches Berufsverbot. Der Psychoanalytiker könnte von der repeat performance sprechen, einer zwanghaft wiederholten Realitätsverweigerung. Das ist jedenfalls der Eindruck, der sich in letzter Zeit öfters angesichts des Verhaltens der politischen Klasse in der Bundesrepublik aufdrängt.

Als der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck im Oktober 2006 auf die Problematik der deutschen »Unterschichten« hinwies, übertrafen sich Repräsentanten der politischen Klasse, und zwar unisono von rechts bis links, prompt mit der geradezu reflexartigen Behauptung, Unterschichten gäbe es im Land der Sozialpartnerschaft doch gar nicht mehr…

Noch eklatanter und folgenreicher wirkt die Blockade, mit der exponierte Persönlichkeiten dieser politischen Klasse auf Thilo Sarrazins umstrittenes Buch ´Deutschland schafft sich ab` mit einer geradezu klassischen Diskussionsverweigerung reagiert haben… Das war im Kern eine von politischen Machtträgern derart massiv vorgetragene Attacke gegen die Meinungsfreiheit und das von offener Diskussion zehrende Gemeinwesen, wie sie die Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten noch nicht erlebt hat. Insofern handelt es sich bei dieser Debatte in der Tat auch um die Grenzen von Freiheitsrechten….

Allein mit der Kritik an echten und vermeintlichen Schwachpunkten von Sarrazins Buch ist es offensichtlich nicht getan … Eine unbefangene, wohlberatene, kluge Diskussion hätte sich längst auf … lohnende Kritikpunkte konzentriert. Warum wird das Kapitel über soziale Ungleichheit (47 Seiten) nicht von allen Parteien endlich freimütig diskutiert? Warum wird das Kapitel über Bildungspolitik (67 Seiten) nicht erörtert? Warum wird das Kapitel über die demografische Entwicklung (60 Seiten), über die sich Biedenkopf, Miegel, Birg und andere Bevölkerungswissenschaftler seit Jahrzehnten die Finger vergeblich wund schreiben, nicht endlich auf die Diskussionsagenda gesetzt? Provozierend genug sind Sarrazins Befunde doch allemal formuliert. Das Zuwanderungskapitel (75 Seiten), in dem intellektuell und emotional die schärfste Kritik, der brisanteste Sprengstoff stecken, braucht sich nicht um mehr Aufmerksamkeit zu bemühen.

Jahrzehntelang hat die deutsche Einwanderungspolitik nicht auf Qualifikation, Sprachkenntnisse, Integrationswilligkeit geachtet, ganz im Gegensatz zu klassischen Einwanderungsländern wie den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien. Millionen wurden ohne Abwägung der sozialen Kosten gemäß der Maxime »Privatisierung der Gewinne« importiert. Jetzt steht unabweisbar die »Sozialisierung der Verluste« an, die nur in Milliardenhöhe kalkuliert werden können.

Anstatt die Zuwanderungsprobleme endlich ohne Scheu zu diskutieren, verstecken sich bisher die meisten Kritiker hinter der hohen Mauer ihrer Einwände gegen Sarrazins Rückgriff auf die Erbbiologie. Wer hat schon seine Sorgen im Hinblick auf die Zukunft der deutschen Gesellschaft bereitwillig anerkannt, wer für Sarrazins Kritik an schwerwiegenden Versäumnissen Verständnis geäußert, wer die Lesefreudigkeit eines Bildungsbürgers geschätzt, wer das Reformplädoyer eines geradezu leidenschaftlichen Sozialdemokraten gewürdigt?“

Mit Frank Schirrmachers profunder Stellungnahme („Frau Merkel sagt, es ist alles gesagt. Über die Kälte der Macht und die Aufkündigung einer Debatte“.. , faz.net, 20.9.2010) soll diese Rückschau zur Kontroverse um Dr. Sarrazin enden:

„Der Autor ist wegen der Buchkritik der Kanzlerin und des Bundesbankchefs und der Winke des Bundespräsidenten mittlerweile arbeitslos, gewiss das Maximum an Bestrafung in einer bürgerlichen Welt. Und jetzt, drei Wochen danach, erklärt die Bundeskanzlerin fast stolz, dass sie das Buch, um dessentwillen sie die Absetzung des Bankers betrieb und das ihr Staatsvolk zutiefst spaltet, immer noch nicht gelesen hat, sondern nur aus Vorabdrucken kennt…

Aber damit nicht genug: Auch der Bundesbankpräsident, der Dossiers zusammenstellen ließ und die Absetzung betrieb, rühmt sich, das Buch nicht gelesen zu haben. Auch wer Sarrazins Thesen nicht mag, wer seinen Biologismus für verfehlt, viele seiner Rezepte für indiskutabel hält, sollte sich Rechenschaft ablegen, ob es das ist, was er will…Auch der SPD-Vorstand stellte den Ausschlussantrag, ohne dass ein Einziger das Buch überhaupt kannte. Das ist alles, aber es hat nichts mehr mit Demokratie zu tun und es müsste jeden schaudern machen, der in Deutschland Bücher schreibt…Kritik an Büchern ist stets die Einladung an den Leser, sich selbst ein Bild zu machen. Sie ist, seit der Aufklärung, ein Instrument, um durch Zuspitzung dialektische Prozesse von Meinung und Gegenmeinung zu befördern, sie ist, mit Sternberger zu reden, im idealen Fall ein Prozess der Wahrheitsfindung.

Der Staat, bis hin zum Bundespräsidenten, der mitteilen lässt, man wüsste wohl hoffentlich in der Bundesbank, was nun zu tun sei, hat Kritik für seine Zwecke missbraucht. Was wäre in den Zeiten von Peter Glotz, Richard von Weizsäcker, dem Generalsekretär Kurt Biedenkopf – was wäre geschehen? Die Redaktionen hätten sich nicht retten können vor intellektuellen Einsprüchen, Widerlegungen, Korrekturen, Protesten, Debatten – und jetzt? Nur die Kälte der Macht, die nicht liest und nicht zu lesen gedenkt.

Wir schreiben nicht für Personalchefs und karrierebewusste Bundesbankpräsidenten, der Journalismus ist nicht dafür da, an den Rufmord grenzende Prozesse zu munitionieren, in denen die Ankläger sich nicht dazu herablassen, auch nur mit einem Wort Argumente zu widerlegen.

Einer hat es getan, wenn auch leider in der verkehrten Reihenfolge (nach dem angekündigten Parteiausschluss): Sigmar Gabriels Antwort auf Thilo Sarrazin ist hart, aber intellektuell, sie greift wichtige Einwände auf, und sie gibt dem Leser die Freiheit, die im Kern der Meinungsfreiheit steckt: sich selbst zu unterrichten. Gabriel hat, und das ist der Kern eines freiheitlichen Diskurses, die Deutschen aufgefordert, dieses Buch zu lesen.

Wer weiß, so viel Hoffnung muss erlaubt sein, vielleicht entpuppt sich der im Kern ganz falsche Parteiausschlussantrag als Mittel einer Debatte. Der Unterschied zwischen Gabriel und der Bundeskanzlerin liegt auf der Hand: Hier will einer Sarrazin nicht in seinem Klub haben, dort redet der Staat selbst. Und er redet so, als handelte es sich um einen Verwaltungsbeschluss der unteren Baubehörde: ´Haben Ihren Antrag abgelehnt, weil er nicht die formalen Kriterien erfüllt.` Unterschrift: unleserlich. Das sind mittlerweile die Bräuche in einem Land, das gleichzeitig von Bildung und der Autonomie des eigenen Kopfes faselt.“

Von diesen herausragenden Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft ist Sarrazins Beitrag sicher angemessen wahrgenommen worden.

Nun zum Abschluss des Partei-Verfahrens gegen Dr. Sarrazin! In der Sitzung des SPD-Parteivorstandes vom 13. September 2010 wurde Generalsekretärin Andrea Nahles die Aufgabe der Verfahrensbevollmächtigten im Parteiordnungsverfahren gegen Dr. Thilo Sarrazin übertragen. Mit Brief vom 26.4.2011 informiert Frau Nahles über das Ergebnis des Schiedsverfahrens:

„…Für einen Parteiausschluss gibt es ein vom deutschen Parteiengesetz festgelegtes faires und ergebnisoffenes Verfahren vor einer unabhängigen Schiedskommission. Ein solches Schiedsverfahren ist nicht gleichzusetzen mit einem Strafverfahren. Es dient auch nicht der Klärung politischer Kontroversen innerhalb der SPD. Ein Schiedsverfahren kann lediglich feststellen, ob ein Mitglied anhaltend gegen die Ordnung und die Grundsätze der Partei verstößt, d.h. sich außerhalb des gemeinsamen Wertekonsens bewegt, den eine politische Partei zwingend braucht.

Das Parteiordnungsverfahren gegen Dr. Thilo Sarrazin wurde am 21.04.2011 nach fünfstündigen Verhandlungen vor der Schiedskommission der SPD Charlottenburg- Wilmersdorf nach einer klarstellenden Erklärung von Dr. Thilo Sarrazin eingestellt.

Grundlage dafür waren ein Vorschlag zu einer gütlichen Einigung und der Textentwurf einer Erklärung seitens der Kreisschiedskommission. Eine solche Initiative der Schiedskommission kann nicht einfach ignoriert werden. Nach Meinung aller Anwesenden war dies unter den gegebenen Umständen eine kluge Entscheidung. Grundbedingung für eine solche Einigung war, dass sich Dr. Thilo Sarrazin von sozialdarwinistischen und diskriminierenden Äußerungen distanziert. Dies hat er mit der Unterzeichnung der Erklärung getan. Daraufhin zogen alle antragsstellenden Gliederungen – von der Ortsvereinsebene bis zum Parteivorstand – ihre Anträge zurück.“

Thilo Sarrazin hatte in seiner Erklärung unter anderem versichert:

„…Es entspricht insbesondere nicht meiner Überzeugung, Chancengleichheit durch selektive Förderungs- und Bildungspolitik zu gefährden; alle Kinder sind als Menschen gleich viel wert …

Ich habe mit meinem Buch keine selektive Bevölkerungspolitik verlangt; der Vorschlag, Frauen in akademischen Berufen und anderen gesellschaftlich hervorgehobenen Positionen Prämien zu gewähren, sollte diesen Frauen lediglich die Möglichkeit verschaffen, ihre Berufe und Tätigkeiten mit der Geburt eigener Kinder zu verbinden. Hiermit habe ich auch nicht die Vorstellung verbunden, diese Förderung lediglich Frauen mit akademischen Berufen oder mit bestimmter Nationalität oder Religion zukommen zu lassen …

Mir ging es also darum, schwerwiegende Defizite der Migration, Integration und Fehlentwicklungen der Demografie in Deutschland anzusprechen, eine fördernde Integrationspolitik und Demografiepolitik zu entwickeln und dafür insbesondere die vorhandenen Defizite des Bildungssystems zu überwinden…Bei künftigen Veranstaltungen und Auftritten in der Öffentlichkeit werde ich darauf achten, durch Diskussionsbeiträge nicht mein Bekenntnis zu den sozialdemokratischen Grundsätzen infrage zu stellen oder stellen zu lassen.“

Eine Folge dieses einvernehmlichen Abschlusses des Schiedsverfahrens war die „Berliner Erklärung“. Initiiert am 25.4.2011 von Herrn Aziz Bozkurt, und inzwischen von mehreren tausend Menschen unterschrieben, soll diese Initiative bis zum 25.10.2011 laufen. Die Erklärung enthält neben bekannten und allgemein geteilten Grundsätzen sozialer Demokratie den Vorwurf eines „Zickzackkurses“ an die SPD-Parteiführung. Das wird mit einer Entschuldigung an darüber enttäuschte und verletzte Menschen verbunden.

Dies wirft die Frage auf: Wozu überhaupt eine Entschuldigung für ein rechtsstaatlich und ordnungsgemäß abgeschlossenes Verfahren? Ein anderes Ergebnis hätte es, wie Fachleute sagen, vor keinem Gericht gegeben. Der Vorwurf von Herrn Bozkurt im Vorwärts-Interview vom 28.4.2011 erscheint nicht nachvollziehbar: „In diesem Moment, wo politische Führungskompetenz gefragt ist, hat unsere Parteiführung kläglich versagt.“

Hier scheint ein schwerwiegendes Missverständnis vorzuliegen: Das Schiedsverfahren einer Partei ist kein politischer Prozess. Im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens gibt es keine politische Führung, Herr Bozkurt, sondern nur die Herrschaft des Rechts!

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und die Generalsekretärin Andrea Nahles haben sich mit ihrer Positionierung zum Buch Thilo Sarrazins einer Situation zwischen „Scylla und Charybdis“ ausgesetzt. Sie haben nicht die Debatte treiben lassen. Sie haben auch keinen bequemen Deal hinter den Kulissen gesucht. Sie haben durch Einleitung eines rechtsstaatlichen Verfahrens Führung gezeigt und ein Ergebnis herbeigeführt. Das verdient Achtung und nicht Rücktrittsforderungen!