Merkel: Mission vollenden!

Dies ist keine Aufforderung an die Regierungschefin. Das stünde mir nicht zu. Vielmehr ist dies die Bitte eines Staatsbürgers an die politische Klasse, die gewählte Bundesregierung jetzt regieren zu lassen.

Deutschlands kommende Aufgaben für die Europäische Ratspräsidentschaft ab Juli bis zum Ende dieses Jahres sind weit wichtiger als Thüringen, erst recht wichtiger als das Drängen einiger möglicher Kanzlerkandidaten auf schnelle Entscheidung über Merkels Nachfolge!

Sehr voreilig scheint das Urteil eines führenden Journalisten über die Leistung der Bundeskanzlerin in der laufenden Regierungsperiode: „Angela Merkel steht nicht nur einem Neuanfang der CDU im Weg, auch einen gesellschaftlichen Auf­bruch wird es mit ihr nicht geben können. Die Bundeskanzlerin hat mit ihrer Politik die eigene Partei, Deutschland und Europa gespalten. Sie ist schon lange nicht mehr die Lösung – sondern das Problem.“ *1)

Ob das europapolitische Erbe der “Ära Merkel“ als Spaltung der EU und als “vertane Zeit“ *1) zu werten sei, bleibt abzuwarten, bis Ende 2020 die deutsche EU-Ratspräsidentschaft beurteilt werden kann.

Ganz gewiss “vertut“ die Kanzlerin bei dieser vorrangigen Aufgabe nicht die Zeit. Ein eher seltenes öffentliches Gespräch, das die Kanzlerin über ihre strategischen Ziele und angestrebten Ergebnisse nicht nur im Allgemeinen, sondern gerade auch mit Blick auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft führte, lässt intensive Vorbereitung erwarten. *2)

Merkel hat drei strategische Ziele für Deutschland und die EU hervorgehoben: *2)

  • Deutschland und die EU im globalen Wettbewerb wirtschaftlich stärken.
  • Partnerschaftlicher Einsatz von Deutschland und der EU für Frieden und Zusammenarbeit in der multilateralen Weltordnung.
  • Die EU als Pol globaler Verantwortung in der multipolaren Welt positionieren.

Für die internationale Politik strebt Bundeskanzlerin Merkel daher an: *2)

  • Reform der Vereinten Nationen (UN) und der Welthandelsorganisation (WTO). Deutschland, viertgrößter Beitragszahler für den UN-Haushalt, wurde für den Zeitraum 2019-2020 als nicht-ständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat gewählt.
  • Partnerschaftliche Zusammenarbeit zum Nutzen aller Beteiligten, indem “Win-Win-Situationen“ aufgebaut werden (z. B. durch fairen Handel und Entwicklungspolitik).
  • Stärkung der transatlantischen Gemeinschaft des europäisch-amerikanischen “Westens“ als demokratische offene Gesellschafts- und Staatsordnung im internationalen “Systemwettbewerb“.
  • Zentrale Aufgaben dabei sind: die gemeinsamen demokratischen Grundlagen, das Menschenbild der Aufklärung, die Bedeutung von Fakten und Wissenschaft für die Politik zu festigen. Diese Errungenschaften in die heutige digitale Welt großer technologischer Umwälzungen zu übersetzen — „deshalb sind wir an einem sehr entscheidenden Punkt unserer Entwicklung“. *2)

Um die Wirtschaft von Deutschland und der EU für den globalen Wettbewerb zu stärken, sollte die deutsche EU-Ratspräsidentschaft beitragen: *2)

  • Den Mehrwert des Binnenmarkts zu nutzen und auch den digitalen Binnenmarkt zu schaffen.
  • Die Projekte der Banken- und Kapitalmarktunion sollten vorangebracht werden, um den freien Kapitalverkehr und den Wettbewerb in der EU zu ordnen.
  • Bevor jedoch deren Ziel einer Vergemeinschaftung von Finanzmarkt-Risiken möglich ist, müssten die “Risiken, die sich in den Banken verbergen“, in der Verantwortung eines jeden EU-Landes reduziert werden. „Marktwirtschaft kann nur mit klar zugeordneten Verantwortlichkeiten funktionieren.“  *2)

Bundeskanzlerin Merkel präzisiert für Deutschland und die EU zentral wichtige wirtschaftspolitische Leitlinien mit eindringlichen Worten:

  • Nicht nur für die Wirtschaft in der EU, sondern insbesondere für die deutsche Wirtschaft mit ihrem “hohen Anteil der Industrieproduktion an der Wertschöpfung (von) nach wie vor über 20 Prozent“ sei die Digitalisierung die für die Zukunft entscheidende, “die ganz große Herausforderung“. *2)
  • Die Digitalisierung gefährde nicht die Großkonzerne. Wohl aber “die vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen“: „Es reicht nicht mehr, nur ein Produkt zu verkaufen, sondern es müssen auch neue Produkte aus den Daten um die Produkte herum geschaffen werden.
  • Es müssen ganz andere Kunden-Produzenten-Beziehungen aufgebaut werden. In diese Kunden-Produzenten-Beziehungen drängen sich internationale Unternehmen als Intermediär, als Plattform, die zwischen Kunden und Unternehmen vermittelt, hinein.
  • Wenn unsere Unternehmen ihre Daten nicht selber managen, sondern irgendwo speichern, weil sie selber die Möglichkeiten dazu nicht haben, dann kann es passieren, dass wir in Deutschland immer mehr zur verlängerten Werkbank werden, weil wir an wesentlichen Teilen der neuen Wertschöpfung nicht teilnehmen.“
  • Deutschland und die EU müssten durch steigende Ausgaben für Forschung, Entwicklung und Bildung bei den wesentlichen technologischen Fähigkeiten aufholen, die derzeit von den USA und China beherrscht werden: „In der Europäischen Union müssen Chips hergestellt werden können, sie muss eigene Hyperscaler (RS: Webdienste der Verarbeitung und Speicherung von Daten sowie der Künstlichen Intelligenz) haben und es müssen Batteriezellen produziert werden können.“ *2)

Bundeskanzlerin Merkel betont ausdrücklich, dass “Europa auf manchen Feldern nicht ausreichend wettbewerbsfähig ist. Die EU-Staats- und Regierungschefs haben sich zum Beispiel im Jahr 2000 vorgenommen, dass jedes Land drei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung ausgibt. Das ist in vielleicht drei oder vier Mitgliedstaaten heute der Fall. Deutschland gehört dazu.“ *2)

Ganz offensichtlich besteht in der Analyse dieser Probleme und den Lösungsmöglichkeiten zwischen der Bundeskanzlerin und ihrem industrie- und europapolitisch besonders sachkundigen Wirtschaftsminister Peter Altmaier enge Übereinstimmung. Gemeinsam mit Ursula von der Leyen als Präsidentin der EU-Kommission sollten von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft entscheidende Impulse für die wirtschaftliche und geopolitische Zukunft der EU ausgehen. Für diese Erwartung spricht auch die  Übereinstimmung mit wichtigen europa- und wirtschaftspolitischen Zielen des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron.

Dann wird sich das unfreundliche Urteil “ÄRA MERKEL. Vertane Zeit“, das der bedeutende Journalist Christoph Schwennicke der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vorausschickte, als ebenso gehässig wie belanglos erwiesen haben.

*1) ÄRA MERKEL. Vertane Zeit. VON CHRISTOPH SCHWENNICKE am 26. Februar 2020; https://www.cicero.de/innenpolitik/angela-merkel-cdu-kanzlerin-nachfolger-annegret-kramp-karrenbauer-friedrich-merz-afd/plus

*2) Angela Merkel im Gespräch. Interview der Bundeskanzlerin mit der „Financial Times“. Donnerstag, 16. Januar 2020; https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundeskanzlerin/interview-merkel-ft-1712722 Bundeskanzlerin Angela Merkel. (Hervorhebungen RS).