“Merkel`s Blunder“?

Wer meint, was Politiker in Wahlkämpfen reden, sei belanglos, der hat sich getäuscht. Was Bundeskanzlerin Merkel in einem Bierzelt in Bayern Ende Mai 2017 von sich gab, hat die transatlantischen Beziehungen, insbesondere das Verhältnis zwischen den USA und Deutschland, nachhaltig belastet.

Gewiss waren der NATO-Gipfel am 25.05.2017 in Brüssel und der G7-Gipfel in Taormina/Sizilien (26./27.05.2017) nach Streit mit dem erst vier Monate amtierenden US-Präsidenten Trump nicht eben angenehm und ergebnisreich verlaufen. Verteidigungsausgaben, Klima-, Migrations- und Handelspolitik — Präsident Trumps „Rüpelhaftigkeit“ (DER SPIEGEL) im Umgang mit diesen Themen und seinen Partnern brach mit der Harmonie und Feierlichkeit, die gewöhnlich diese Treffen prägt.

Dies mag erklären, warum Bundeskanzlerin Merkel am 28. Mai 2017 im Bierzelt in Trudering beim gemeinsamen Wahlkampf mit Ministerpräsident Seehofer die folgende Bilanz dieser Gipfeltreffen zog:

„Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. Das habe ich in den letzten Tagen erlebt. Und alles, was ich sagen kann, ist, wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen … Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen — natürlich in Freundschaft mit den Vereinigten Staaten, in Freundschaft mit Großbritannien und als gute Nachbarn, wo immer das geht, auch mit Russland, auch mit anderen Ländern. Aber wir müssen wissen, wir müssen selber für unser Schicksal kämpfen.“ *1)

Leider habe ich im Unterschied zu Redakteur Heinrich Maetzke vom Bayernkurier die transatlantische Tragweite dieser Aussage der Kanzlerin nicht erkannt. Mir erschien der europäische Appell Merkels vertretbar. Deshalb sollen jetzt Merkel-kritische Sichtweisen vor allem aus Großbritannien (das Merkel wegen des Brexit schon nicht mehr in “Wir Europäer“ einschloss) aufgegriffen werden.

Der bedeutende britische Journalist Gideon Rachman beklagte „Angela Merkel`s Blunder“ (Blunder sei freundlich mit „Fehler“ übersetzt, RS). *2)

Rachman warf Merkel unverantwortliches Benehmen bei ihrem Bierzeltauftritt vor. Trotz vorsichtiger Ausdrucksweise drohe ihre Aussage die gefährliche transatlantische Kluft zu einem permanenten Bruch auszuweiten.

Rachman verwarf Merkels Bierzeltrede aus Gründen, die auch von anderen sicherheitspolitische Fachleuten geteilt werden. *2)

  • Es sei ein Fehler, bereits nach vier Monaten Amtszeit des US-Präsidenten Zweifel an der transatlantischen Allianz zu äußern, die in Europa 70 Jahre Frieden gesichert habe. Merkel habe mit diesem Zweifel Trumps Versäumnis, sich zu Artikel 5 (NATO-Beistandsgarantie) zu bekennen, noch unangemessen verschärft. (In der Nationalen Sicherheitsstrategie 2017 der USA wird Artikel 5 NATO-Vertrag ausdrücklich bekräftigt, RS).
  • Schließlich treffe die Kritik des US-Präsidenten zu, dass die meisten europäischen NATO-Partner ihre Verpflichtungen zu militärischen Ausgaben nicht einhalten. So monierte auch Wolfgang Ischinger, dass Merkel nicht sage, was ihre Aussage bedeute: „In den USA, aber auch in Europa entsteht der Eindruck: Die Deutschen sind die weltbesten Trittbrettfahrer. Sie haben den Handelsüberschuss, tun aber nichts für die Sicherheit der Handelswege.“ Trump zwinge „uns zu der Erkenntnis, dass es nicht geht, dass 500 Millionen Europäer ihre Sicherheit für mehr als 70 Jahre ´outsourcen`, unter Missachtung ihrer Würde und ihres Stolzes.“ *3) Somit urteilt Rachman zu Recht, es sei ein wenig unverschämt („cheeky“), wenn ausgerechnet die Regierungschefin des „weltbesten Trittbrettfahrers“ (Ischinger) den USA vorwerfe, ein nicht verlässlicher Bündnispartner zu sein.
  • Besonders „unweise und unfair“ habe sich Merkel in der Bierzeltrede gegenüber Großbritannien verhalten, bedauert Rachman. Merkel habe das Vereinigte Königreich (UK) nicht ihrem „Wir Europäer“-Aufruf, sondern den USA  zugeordnet. Das sei deshalb „unweise und unfair“ gegen das UK, weil es anders als US-Präsident Trump mit der EU am Pariser Klimaabkommen und, ausdrücklich von der Premierministerin Theresa May hervorgehoben, an der NATO-Beistandsverpflichtung des Artikels 5 festhalte. Damit hat Merkel nicht nur einen schlechten Geist für die Brexit-Verhandlungen gestärkt und einen dauernden Konflikt zwischen dem UK und der EU riskiert. Angesichts des opferreichen Kampfes Großbritanniens für die Freiheit Europas im Krieg gegen Nazi-Deutschland zeigt Merkel eine durchaus uneuropäische „Taubheit gegenüber den Echos der Geschichte“ (Rachman).

Diese Vorwürfe gegen Bundeskanzlerin Merkel wirken bis heute nach.

Der britische Journalist Roger Boyes sieht in „frömmelnd-scheinheiliger“ Art Merkels im Umgang mit US-Präsident Trump einen weiteren Faktor für die „Belastung der westlichen Allianz“ *4):

Als Trump gewählt wurde, habe Merkel nach einigem Abwarten angeboten, was in den USA als „bedingte Loyalität“ verstanden wurde. Sie habe Trump eine Zusammenarbeit offeriert auf der Grundlage gemeinsamer Werte, die sie obendrein „helpfully“ erläutert habe: Demokratie, Menschenrechte, keine Diskriminierung wegen Rasse, Geschlecht etc. etc..

Wie diese Belehrung im Weißen Haus ankam, erhellt die Frage eines dortigen Mitarbeiters: „Does she … hand the same list to the Saudi and Russian leaders?“ *4)

Zurück zu Rachmans Kritik an Merkels Bierzelt-Rede als “Taubheit gegenüber den Echos der Geschichte“: Dass ein deutscher Regierungschef „in einem bayerischen Bierzelt eine Trennung von Großbritannien und den USA ankündige und obendrein die Beziehungen zu diesen beiden Ländern auf eine Stufe mit Russland stelle, sei verstörend.“ Die „traurige Realität sei, dass Frau Merkel anscheinend wenig Interesse habe, für den Erhalt der westlichen Allianz zu kämpfen.“ *2)

Gute Beziehungen mit den USA, Großbritannien und Russland … einem Russland des Präsidenten Putin, der die Krim geraubt hat, bis heute Krieg in der Ostukraine führt *5) und sich in Syrien an unbeschreiblichen Kriegsverbrechen beteiligt.

Der US-amerikanische Diplomat und Präsident des Council on Foreign Relations, Richard N. Haass, sagt zu Putins Syrienkrieg: „Es ist Ironie — vor 10 Jahren herrschte als große Idee in den internationalen Beziehungen die humanitäre Intervention, die sogenannte Schutzverantwortung. Nun sehen wir die ausländische Intervention in Syrien. Was macht sie? Sie verübt Gräueltaten („atrocities“)“. *6)

Und hier drängt sich noch einmal Rachmans Wort von Merkels „Taubheit gegenüber den Echos der Geschichte“ auf.

Mitte Mai 2018 reiste Merkel zu Putin nach Sotschi. Man müsse miteinander reden, gute Beziehungen aufbauen — immer wieder diese breitgetretenen Phrasen. Dazu Richard N. Haas: „a good relationship with Russia. You can always have a good relationship with another country if you’re not focusing on what the terms of the relationship is“. *6)

Nach Landraub, Völkerrechts- und Kriegsverbrechen, bedrohlichen Aufmärschen an den Grenzen unserer baltischen Bündnispartner … wer all das hinnimmt und trotzdem an guten Beziehungen mit Alleinherrscher Putin arbeitet, der wird auch für Putin, den Iran und den Schlächter Assad den Wiederaufbau Syriens bezahlen. Der wird auch Putin glauben, dass dann die geflüchteten Syrer zur Herrschaft des Massenmörders Assad zurückkehren.

  

Und somit rühmt sich Merkel bei Putin in Sotschi im Mai 2018: „Deshalb ist mein Ansatz in diesen Zeiten, in denen viel übereinander geredet wird, dass man alle Möglichkeiten ausloten sollte, miteinander zu reden, und damit ist dies heute wieder ein Baustein in einer, glaube ich, sehr wichtigen Zeit. Insofern ist der Termin vielleicht nicht schlecht gewählt.“ *7)

Sogar gut gewählt, Frau Bundeskanzlerin, von wem auch immer … Vor 50 Jahren im Mai 1968 verkündete Alexander Dubček die Reformen des „Prager Frühlings“, eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. In Frankreich wird dessen gedacht. An diesem Tag der gemeinsamen Presseerklärung von Merkel und Putin: 18. Mai 2018. *8)

Noch besser war der Termin für das zweite Treffen mit dem UdSSR-Nostalgiker und Kriegsherrn Putin in Meseberg gewählt, Frau Bundeskanzlerin: 19. August 2018 … Zwei Tage vor der 50. Wiederkehr des Tages, als am 21. August 1968 der „Prager Frühling“ von der Sowjetunion (UdSSR) gewaltsam niedergeschlagen wurde.

„Merkel`s Blunder“ — „Taubheit gegenüber den Echos der Geschichte“?

*1) Auftritt mit weltpolitischem Echo im Bierzelt in Trudering: Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsident Horst Seehofer. Angela Merkel. Ein Satz mit Nachhall. Heinrich Maetzke. Redakteur.Montag, 29.05.2017; https://www.bayernkurier.de/ausland/25439-ein-satz-mit-nachhall/.

*2) Angela Merkel’s Blunder. By Gideon Rachman. May 30, 2017; https://www.realclearpolitics.com/articles/2017/05/30/merkels_blunder_donald_trump__the_end_of_the_west_134038.html. (Übertragung RS).

Hinweis (Wikipedia): Gideon Rachman (born 1963) is a British journalist. He became the chief foreign affairs commentator of the Financial Times in July 2006. In 2016, he won the Orwell prize for political journalism. In the same year he was also named as commentator of the year at the European Press Prize awards.

*3) Ischinger: Merkel klärt Bürger nicht genügend über ihre Politik auf. DTS-Meldung vom 10.08.2018, 14:33 Uhr. Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vorgeworfen, die Bürger über die neuen Anforderungen an die deutsche Sicherheitspolitik und deren Risiken im Unklaren zu lassen.

*4) ROGER BOYES. Angela Merkel is making a big mistake with Trump. Friction between the US and Germany is largely the fault of the sanctimonious chancellor. August 7 2018; https://www.thetimes.co.uk/article/angela-merkel-is-making-a-big-mistake-with-trump-. (Übertragung RS).(Roger Boyes ist ein britischer Journalist und Buchautor. Von 1993 bis ins Jahr 2010 berichtete er als Korrespondent der britischen Tageszeitung The Times aus Deutschland. Wikipedia)

Seit Jahren weist übrigens die geschätzte Kommilitonin aus Hamburg auf Merkels „Frömmelei“ …

*5) Verdächtige Manöver im Donbass. Erstmals hat die OSZE-Beobachtermission im Donbass eindeutige Filmaufnahmen über nächtliche Transporte von Russland in den Donbass veröffentlicht. Kiew und Washington sehen darin den Beweis für die Konfliktbeteiligung Moskaus. Dies ist allerdings ein offenes Geheimnis. Paul Flückiger, Warschau. 15.8.2018, 08:00 Uhr; https://www.nzz.ch/international/verdaechtige-manoever-im-donbass-ld.1411523.

*6) ‚A World in Disarray: American Foreign Policy and the Crisis of the Old Order‘. Past Event — January 9, 2017 6:00pm EDT. Global. Defense and Security. Politics and Government. Speaker Richard N. Haass, President, Council on Foreign Relations. Presider David J. Remnick, Editor, New Yorker, from CFR Fellows‘ Book Launch; https://www.cfr.org/event/world-disarray-american-foreign-policy-and-crisis-old-order. (Übersetzung RS).

*7) Mitschrift Pressekonferenz. IM WORTLAUT. Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Sotschi. Freitag, 18. Mai 2018; https://www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2018/05/2018-05-18-pk-merkel-putin-sotschi.html. (Hervorhebung RS).

*8) Réécouter Mai 68 : l’éphémère printemps de Prague. 18/05/2018; https://www.franceculture.fr/emissions/le-magazine-de-la-redaction/mai-68-lephemere-printemps-de-prague.

„Le Printemps de Prague“ rappelle l’introduction du „socialisme à visage humain“ et une certaine libéralisation. Mais ce Printemps 68 a été gommé dans l’Histoire tchèque par l’invasion des chars russes dans la foulée. Retour en République Tchèque cinquante ans plus tard, avec Nadine Epstain.