Metaphysische Watte.

In allen wichtigen Einrichtungen der Diplomatie wird die Lage in Deutschland aufmerksam beobachtet. Das wissen auch die Spitzen der Berliner Koalitionsregierung — und orientieren …

Der Vizekanzler Sigmar Gabriel, SPD, habe die Zustimmung seiner Partei zum Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada, Ceta, bekommen, weil er „den Parteikonvent gerockt hat“ hat (EU-Parlamentspräsident Martin Schulz). *1)

So „gerockt“ hat Gabriel die SPD-Linke, dass er anschließend Putin aufwarten musste. Um in Moskau zu versichern, dass „die nach der Krim-Annexion verhängten Sanktionen auch schrittweise aufgehoben werden können, und zwar in genau dem Maße, in dem es belastbare Fortschritte bei der Umsetzung des Minsker Abkommens gibt.“ Seine „klare Mission: ein Ende der ´Eiszeit`“. *2) Während Putin und Assad in Syrien morden lassen.

Aufschlussreich mag auch eine Feststellung des Bundesinnenministers Thomas de Maizière, CDU, sein:

„Obwohl es uns ökonomisch so gut geht wie selten zuvor, sind wir uns unserer selbst, unserer Identität nicht sicher genug. Wir wissen nicht mehr genau, wer wir sind und sein wollen. Was uns als Deutsche ausmacht. … Es ist einiges, von dem wir vergessen haben, dass es zu Deutschland gehört: ein aufgeklärter Patriotismus, den wir eigentlich erst mit der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in einer gelassenen Heiterkeit wiedergelernt haben.“ *3)

Ganz eindeutig erscheint jedoch die Orientierung durch die Chefin der Exekutive, Bundeskanzlerin Angela Merkel: Über 80 Prozent der Menschen forderten laut Umfragen, den Kurs in der Flüchtlingspolitik zu korrigieren. Dazu die Bundeskanzlerin am 19. September 2016 im TV (Pressekonferenz):

„Wenn ich wüsste, was damit gemeint ist, würde ich darüber nachdenken … Immer mehr Menschen sind für Fakten nicht mehr erreichbar. Es heißt, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Nur noch Gefühle bestimmen die Leute.“ Deshalb spreche sie jetzt auch auf der Gefühlsebene: „Mein Gefühl sagt mir: Wir kommen aus dieser komplizierten Phase besser heraus, als wir hineingegangen sind. Deutschland wird sich in den Grundfesten nicht erschüttern lassen.“ *4)

Blickwechsel von politischen Fakten zur Fiktion — in dieser Lage wurden geheime Protokollnotizen aus der Politischen Abteilung einer europäischen Botschaft bekannt. Die Diplomaten hätten für ihre Berichterstattung Kernsätze zur deutschen Politik aus der einschlägigen Qualitätspresse erörtert. Diese Kernsätze, Urteile über die deutsche Politik, seien hier wiedergegeben:

▪ „Junge Deutsche — völlig desillusioniert von den Institutionen in Berlin.“

▪ „Weit verbreitete Entfremdung zwischen Wählern und ihren Regierungen.“

▪ „Wenn der Steuerzahler glaubt, dass sein Geld nicht vernünftig verwendet wird, meint er, dass auch seine Stimme so gut wie verschwendet wurde.“

▪ „Plädoyer für eine Handelsachse Berlin-Moskau (… finde) in manchen Kreisen Beachtung.“

▪ „In wachsendem Maße beunruhigt die antidemokratische Einstellung von links und rechts.“

▪ „Die Koalition sollte verstehen, dass nur eine wirklich starke Führung … zur Einigung Europas beitragen kann.“

Vom führenden Sachkenner besagter Politischer Abteilung sei die folgende Überlegung zu Aussagen deutscher Politiker bekannt geworden:

„Was ist es, was den Jargon der deutschen Politik, sogar noch in der Übersetzung, so völlig unwirklich macht?“ Und dies „war der Ausdruck, den er letzte Nacht in seinem Telegramm benutzt hatte, und er war sehr zufrieden damit: Metaphysische Watte.“ *5)

Jahrzehnte alte Erkenntnis: So werden wir Bürger eingewickelt — in Metaphysische Watte.

*1) Birgit Baumann aus Berlin, 21.9.2016, derstandard.at/2000044673133/Berlin-wartet-auf-Offenbarung-von-Merkel-und-Gabriel.

*2) VIZEKANZLER REIST NACH RUSSLAND. Gabriel trifft Putin in Moskau. Freundliches Händeschütteln für die Kameras: Gabriel zu Besuch bei Putin. 21.09.2016 – 14:01 Uhr; bild.de.

*3) Migration und Integration Asyl und Flüchtlingsschutz. Interview. 01.09.2016. „Wir wis­sen nicht mehr, wer wir sind“. Der Stern vom 01.09.2016 (Interview führten: Jens König und Axel Vornbäumen). Interview mit Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière über nationale Identität, christliches Selbstbewusstsein und Burka-Verbot.

*4) Merkel: Vertrauen zurückgewinnen – mit tragfähigen Lösungen, Schritt für Schritt. https://www.cdu.de/artikel/merkel-vertrauen-zurueckgewinnen-berlin-mv. 19.09.2016, Video. (RS: Notiert nach Übertragung in Phoenix TV).

*5) Hier finden sich die angeführten Protokollnotizen und Informationen aus der Politischen Abteilung (statt Bonn wurde Berlin verwendet, Hervorhebung RS): John le Carré, Eine kleine Stadt in Deutschland, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1972, S. 22 f..

Le Carrés Beobachtung über eine “kleine Stadt“ in Deutschland erschien 1968, vor fast einem halben Jahrhundert! Ob Le Carrés “kleine Stadt“ auch die Millionen-Stadt Berlin kennzeichnet, sei hier dahingestellt …

Wie 2016 wurde 1968 die Bundesrepublik Deutschland von einer Großen Koalition (CDU/CSU, SPD) regiert; bis zur nächsten Bundestagswahl damals wie heute: ein Jahr.