Migrationsdebatte: Das Undenkbare denken?

Was meinte der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck, als er dem Satz zustimmte, man müsse „bisher Undenkbares denken“? *1)

Gauck forderte, „in der Frage der Zuwanderung auch unbequeme Maßnahmen zu ergreifen“, weil wir „an den Grenzen unserer Leistungsfähigkeit angekommen“ sind.*1)

Das heißt, die zugewanderten Menschen können nicht mehr integriert werden, weil u. a. Sprach- und Qualifizierungskurse, Kitas, Schulen, Wohnungen für eine große Zahl der Geflüchteten nicht mehr angeboten werden können.

Das Undenkbare denken? Es ist bereits gedacht. Die Universität Frankfurt hat 2019 ein Gespräch zur Flüchtlingspolitik zwischen den Politikwissenschaftlern Prof. Dr. Egbert Jahn und Prof. Dr. Nicole Deitelhoff publiziert. *2)

Von Joachim Gauck ermutigt, das “bisher Undenkbare zu denken“, wird zunächst die bisher “undenkbare“ Position von Prof. Dr. Egbert Jahn referiert. *2)

Jahns Sichtweise zur EU-Migrationspolitik (Stand 2019) sei vereinfacht in drei Punkten zusammengefasst: *2)

  1. Die Migration werde ständig zunehmen und sei nicht durch Bekämpfung der Fluchtursachen kontrollierbar. Seine Begründung: zu große wirtschaftliche und soziale Unterschiede zwischen der EU und den Herkunftsländern von Migranten, ferner bestehe dort eine hohe Wahrscheinlichkeit von Kriegen.
  2. Je mehr Flüchtlinge in der EU aufgenommen werden, desto stärker werde der Nationalpopulismus, der als zentrales politisches Ziel massenhafte Einwanderung ablehnt. Deshalb scheitere eine gerechte Verteilung der Geflüchteten innerhalb der EU am Widerstand von Mitgliedsstaaten. Zumal deren Wählerschaften mehrheitlich über die Einwanderungspolitik selbst bestimmen wollen, weil sie zur nationalstaatlichen Souveränität gehöre.
  3. Derzeit sei die europäische Flüchtlingspolitik insofern nicht human, als viele zehntausend Menschen bei dem Versuch die EU zu erreichen, im Mittelmeer ertrinken, in der Sahara verdursten, in Flüchtlingslagern Libyens, Jordaniens, Kenias, oder Bangladeschs perspektivlos um bloßes Überleben kämpfen müssen.

Auf diesen Wahrnehmungen Jahns beruht seine Position, wie eine humanere EU-Flüchtlingspolitik zu gestalten sei: *2)

  • Bildung von Flüchtlingssiedlungen (“Refugien“) durch die EU für diejenigen Flüchtlinge, die nicht in der EU asylberechtigt sind und die “Europa nicht aufnehmen will“. Sozialleistungen und Ernährung würden den Geflüchteten ausschließlich in den “Refugien“ gewährt. „Also bleiben sie in den Lagern“, habe Jahn in dem CDU-Werkstattsgespräch zur Flüchtlingskrise erklärt. *3)
  • Als Ziel sollte die EU anstreben, dass diese „Refugien entwicklungspolitische Mustersiedlungen mit Schulen, Hospitälern, Ausbildungsplätzen, digitalen Arbeitsplätzen und Elementen demokratischer Selbstverwaltung werden könnten“. Selbst wenn es auch unter EU-Verwaltung vorkommen werde, dass Flüchtlinge schlecht behandelt würden, sei diese Lösung gegenüber den oben unter Punkt 3. benannten Problemen vorzuziehen.
  • Die von der EU zu errichtenden “Refugien“ hätten gemäß dem Ziel von  “entwicklungspolitischen Mustersiedlungen“ nicht den Charakter „militärisch bewachter Internierungs-, d.h. Haftlager“. *2)
  • Zum einen könnten „die Flüchtlinge jederzeit in ihre Heimat zurückkehren und bekämen dafür kostenlose Rückreisegutscheine.“ Zum andern böten die “Refugien“ den Geflüchteten „einen privilegierten Zugang zu den Arbeitsplätzen (z. B. als Handwerker, Kranken- und Pflegepersonal, Hausärzte auf dem Land), für die z. B. Deutschland auch Nicht-EU-Bürger anwerben will.“ *2)
  • Die Refugien sollten von der EU „auf exterritorialem Gebiet innerhalb oder außerhalb Europas errichtet werden, am besten auf einer unbewohnten, aber bewohnbaren Insel, notfalls auch in einem abgelegenen Gelände“.
  • Grenze ein “Refugium“ an einen europäischen Staat, solle „die Grenze nicht anders aussehen als die bestehenden europäischen Grenzen an Land wie in Bulgarien oder Spanien (Ceuta und Melilla).“ Liege das “Refugium“ „auf einer Insel brauche man überhaupt keinen Stacheldraht.“

Heute stehen wir vor wachsender Migration in die EU — aus Not wegen Staatsversagen, Kriegen oder verheerender Auswirkungen der Erderhitzung, durch Schleusungen gerade auch seitens Putins und Lukaschenkos, durch Suche der Flüchtlinge nach Arbeit und einem besseren Leben in der EU.

Kann Prof. Jahns Vorschlag gelingen und humanitäre Behandlung Geflüchteter gewährleisten?

Frau Prof. Deitelhoff hat in der Diskussion mit Prof. Jahn Bedenken vor allem zu den “Refugien“ dargelegt. Diese könnten „sich in der Realität als humanitäres und politisches Desaster erweisen, aber als eines, mit dem die 27 EU-Mitgliedsstaaten lange gut leben können, weil es so einfach ist, die Verantwortung auf die jeweils anderen zu schieben bzw. effektiv Verantwortungsdiffusion zu betreiben.“ *2)

Sie forderte deshalb 2019 sehr dringend von der EU, „ein nachhaltiges EU-Flucht- und Migrationsregime zu entwickeln, das eine faire Lastenverteilung zwischen den Mitgliedsstaaten ermöglicht und sich an den Zielen der EU und den geltenden völkerrechtlichen Verträgen orientiert.“ *2)

Prof. Deitelhoff warnt die EU und die Mitgliedsstaaten: „Wenn es jetzt in der Flucht- und Migrationsfrage nicht gelingt, Kooperation zu erzeugen, wird das ausstrahlen auf immer mehr Politikfelder, bis die EU vollständig handlungsunfähig ist.“ *2)

Derzeit erlebt Europa dramatisch anwachsende Flüchtlingsströme mit bedenklichem Aufwuchs der AfD (22 % Zustimmung in Umfragen) im Zielgebiet Deutschland. Und dennoch schwelt der Streit über die EU-Asylreform und die EU-Krisenverordnung.

Sollte es zwischen Europäischer Kommission, Rat der Europäischen Union und Europäischem Parlament zu keiner Einigung über das “Asylpaket“ kommen, „dann könne man den Rechtspopulisten bei der nächsten Europawahl (rs Juni 2024) auch gleich die Hälfte der Stimmen schenken“. *4)

Die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssen sich gegenüber den gewiss wachsenden Fluchtströmen als handlungsfähig erweisen oder die europäischen Bürgerinnen und Bürger werden dem EU-Staatenverbund die Legitimation entziehen.

*1) Einwanderung. Gaucks deutliche Warnung. Von t-online, cc. Aktualisiert am 18.09.2023; https://www.tonline.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_100244954/joachim-gauck-zu-deutscher-migrationspolitik-ein-kontrollverlust-.html

*2) Im Gespräch. Wie lässt sich die Flüchtlingspolitik humaner gestalten? 17.05.2019; https://aktuelles.uni-frankfurt.de/gesellschaft/im-gespraech-wie-laesst-sich-die-fluechtlingspolitik-humaner-gestalten/ . Prof. Dr. Egbert Jahn war Professor für Politikwissenschaft und Politische Soziologie. Prof. Dr. Nicole Deitelhoff ist Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungspolitik. Die Fragen stellte Dirk Frank.

*3) Egbert Jahn. Uni Frankfurt streicht Professor nach Flüchtlings-Thesen aus System. 27.03.2019; https://www.focus.de/politik/deutschland/uni-frankfurt-verwirrung-um-dozenten-uni-streicht-professor-nach-fluechtlings-thesen-aus-system_id_10502709.html

*4) Bundesregierung will zustimmen. Darum geht’s bei der EU-Asyl-Krisenverordnung. 28.09.2023; https://www.zdf.de/nachrichten/politik/migration-eu-asylreform-krisenverordnung-verhandlungen-100.html