Missbrauch

mit dem Namen Willy Brandts durch den „Willy-Brandt-Kreis“ (WBK)? *1) Dessen „Erklärung“ vom 21. Juli 2015 weckt diesen Verdacht. Über einige Punkte mag sinnvoll debattiert werden. Der Missbrauch kann jedoch in der absurd schiefen Sicht der „Erklärung“ gesehen werden.

Hier will uns der WBK „erklären“, warum die Zeit „für einen neuen europäischen Umgang mit der Ukraine-Krise“ dränge, ein „Neustart der Beziehungen mit Russland“ geboten sei, „bevor es für Alle und Alles zu spät ist“.

Die schiefe Sichtweise des WBK beginnt schon mit dem Begriff „Ukrainekrise“, der Präsident Putins verbrecherischen Krieg und Landraub gegen die Ukraine umdeutet.

Putin hat die europäische Friedensordnung, das Völkerrecht und grundlegende Verträge wie das Budapester Abkommen von 1994 gebrochen. Bekanntlich hat dies Abkommen mit Unterschrift der Russländischen Föderation die territoriale Integrität und die Unabhängigkeit der Ukraine garantiert.

Und Russland hat mit seiner Unterschrift zugesichert, sich jeglicher Bedrohung oder wirtschaftlichen Drucks gegen die Ukraine zu enthalten, nachdem die Ukraine ihre Atomwaffen an Russland abgegeben und damit auf den Status und die Verteidigungsmacht eines Nuklearstaates verzichtet hatte.

Wer derart bedenkenlos die europäische Friedensordnung zerbrochen hat wie Putin, der überdies die baltischen Staaten und die westlich orientierte Republik Moldova bedroht, der ist ständige Destabilisierungsgefahr und strategischer Gegner Europas.

Auf diese anhaltende Bedrohung reagiert der WBK mit der Forderung: „Die tieferliegenden Ursachen der russisch-europäischen Entfremdung gehören auf die politische Tagesordnung europäisch-russischer Gipfelgespräche.“ Ferner: „Gerade in Krisenzeiten bedarf es besonders engmaschiger Kommunikation. Daher sollten die G7 Russland sofort wieder einbeziehen, der NATO-Russland-Rat muss seine Arbeit schnellstmöglich wieder aufnehmen.“

Nun ist die NATO wie die Vertragspräambel *2) betont, eine Allianz, die demokratischen Werten verpflichtet ist. Ausdrücklich verpflichtet Artikel 1 die NATO-Mitglieder, „jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, daß der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.“ Ferner müssen sich NATO-Mitglieder „in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung .. enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind.“ *2)

Ein Friedens- und Völkerrechtsbrecher, als der sich Russlands Präsident Putin entpuppte, hat in der Wertegemeinschaft NATO, gleich unter welcher Form der Einbeziehung, nun gar nichts zu suchen.

Das gleiche gilt erst recht für die G7-Gipfelgemeinschaft. *3) Nach 16-jähriger Mitgliedschaft wurde Putins Russland Ende März 2014 aus dieser Wertegemeinschaft ausgeschlossen; ein konsequenter Schritt nach der militärischen Annexion der ukrainischen Krim.

Dabei sollte es bleiben. In einer Zeit, in der die „Welt aus den Fugen geraten ist“ (Bundesaußenminister Steinmeier), haben die G7-Repräsentanten von Freiheit und Demokratie viel zu wichtigen Beratungs-, Koordinierungs- und Handlungsbedarf, um sich einen gegen ihre Werte destruktiv gesinnten Tischgenossen wie Putin zu leisten.

Gegen die dreiste Zumutung des WBK, die Ostpolitik Willy Brandts für ihre Zwecke in Anspruch zu nehmen, hilft der Blick auf die Analyse eines unserer kenntnisreichsten Historiker des mittel- und osteuropäischen Nachbarschaftsraumes. *4)

Karl Schlögels Position sei in seinen eigenen Worten zusammengefasst, um hier eine Alternative großer Urteilskraft im Vergleich zum Text des WBK hervorzuheben:

„In mein Leben fallen zwei glückliche Ereignisse, das war ’68 und dann ’89 — und das ist mehr an Gelingen, als einer Generation gewöhnlich zuteil wird …

Auch ein Jahr nach dem Schock des Angriffs auf die Ukraine fällt es mir schwer, eine Sprache dafür zu finden. Dieses Fertigwerden mit einer Situation, auf die man überhaupt nicht gefasst war, lähmt mich geradezu …

Man hat Feindbilder abgebaut. Hat sich geöffnet. Hat die andere Seite verstanden. Also Entspannung, neue Ostpolitik, Perestroika. Ich lebe ja als Angehöriger dieser Generation stark aus dieser Erfahrung …

(Dass Putin) frontal den Leuten einfach die Unwahrheit sagt, ist etwas, worauf man in der politischen Kultur, die sich herausgebildet hatte im Ost-West-Konflikt, nicht gefasst war …

Obwohl (Putin) die Aggression begangen hat, vermag (Putin) sich als Opfer zu stilisieren. Der ganze russische mediale Aufmarsch geht ja nicht um das, was auf der Krim und in der Ost-Ukraine passiert, sondern es ist eine Abrechnung mit der amerikanischen und westlichen Politik … Obwohl (Putin) selbst die Spielregeln mit Gewalt diktiert, sich als Opfer hinzustellen, das gehört auch zur Eskalationsdominanz …

(Putin) hat einfach den Tisch umgeworfen. Und dieses Den-Tisch-Umwerfen, an dem man saß, auch die alte Ost-West-Diplomatie, bedeutet eine so tiefe Herausforderung unserer Welt, unserer mentalen und lebensweltlichen Verfasstheit — das ist wirklich das Ende der Nachkriegszeit. Sich das einzugestehen, ist die Selbstvergewisserung, vor der Europa jetzt steht …

Man kann zu den Sanktionen gegen Russland stehen, wie man will — die eigentliche Frage dahinter ist: Bringen die Europäer noch die Kraft auf, etwas zu entscheiden und durchzustehen? Wenn sie sich schon von der militärischen Option verabschiedet haben, bleiben ihnen noch die Sanktionen. Sind sie wenigstens dazu noch fähig?“

Eines ist sicher, der Unterzeichnerkreis des WBK war zu einer Analyse solchen Ranges nicht fähig. Was seine Erklärung uns „erklären“, besser, weismachen will, wirkt im Lichte der Gedanken Schlögels schief und fast dürftig. An der Grenze zum Missbrauch des Namens und des ostpolitischen Erbes von Willy Brandt.

  

*1) Sperrfrist: 21. Juli 2015, 12.00 Uhr! Erklärung des Willy-Brandt-Kreises. Zum bedrohten Frieden – für einen neuen europäischen Umgang mit der Ukraine-Krise.

*2) Nordatlantikvertrag vom 4. April 1949; www.nato.diplo.de/Vertretung/nato/de/04/Rechtliche Grundlagen Nordatlantikvertrag.

*3) Der „Gruppe der Sieben“ (G7) derzeit wirtschaftlich bedeutenden Demokratien gehören an: Die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada, Großbritannien, Japan, Frankreich, Italien, Deutschland.

*4) RUSSLANDS AMBITIONEN. Der Westen ist im Formtief. Und Putin weiß es. In Putins propagandistischer Welt ist alles gleich falsch und gleich wahr. Um dieser Bedrohung zu begegnen, müssen wir in den Kampf um die Wahrheit selbst eintreten, sagt der Historiker Karl Schlögel; welt.de, 25.02.15. Der WELT gebührt Dank für dieses herausragende Interview!