Monsterwellen.

Aus Wogen und Seegang der Ozeane können sie entstehen. Den normalen, den ausgleichenden, den benachbarten Wellen wird die Energie geraubt und eine steile Wasserwand, bis zu 40 m hoch, kann sich aufbauen. *1)

Wehe den Seeleuten, deren Schiff von solchem Brecher, „weiße Wand“ genannt, überrollt wird. Spitzenforscher untersuchen dieses Phänomen. Leider nur in den Naturwissenschaften.

Vor 90 Jahren zeigten sich die ersten Monsterwellen – vom Typ der „bösen Schwestern“ – in der Weimarer Republik. Nationalistisch gesinnte Kräfte in Justiz, Politik, Journalismus, „feinsten gesellschaftlichen Kreisen“ und rechter Terror wirkten zusammen. Ihre „Schmutzkampagne“ *2) zerstörten Amtsführung und Gesundheit des großen Sozialdemokraten Reichspräsident Friedrich Ebert.

Sein früher Tod 1925 brachte den Volkshelden und Erfinder der „Dolchstoßlegende“ Paul von Hindenburg *3) in direkter Wahl durch das Volk vom Ruhesitz in Hannover ins Amt des Reichspräsidenten. 20 Jahre später sahen Europa und die Welt die Ergebnisse der von Nationalisten und Gesindel erzeugten Monsterwellen.

Wer nun auf besondere Sensibilität gegenüber dem Amt des Staatsoberhauptes in der Bundesrepublik Deutschland – gerade in der Sozialdemokratie – zählte, lebte im Irrtum. Dies hat sogar mich mehrfach veranlasst, Position zu beziehen, trotz absehbar unfroher Kommentare. Aber von links kann ja kein Unrecht kommen …

Nun gibt es wieder Neues aus Hannover. Alles im Vergleich zur Weimarer Republik fraglos um Nummern kleiner. Aber immerhin betrifft es die Monsterwelle, Typ Kaventsmann, die den Bundespräsidenten Christian Wulff aus dem Amt warf. Auch hier war eine Hetzmeute unterwegs – Journalisten, politische Feinde Christian Wulffs und auch „feinste“ Kreise der Gesellschaft.

So feine Sozialdemokraten wie Herr Steinmeier und Frau Ministerpräsidentin Kraft hielten es für nötig, Herrn Wulff – dem wegen des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens zurückgetretenen Staatsoberhaupt – Ratschläge zu geben. Von niemandem erbetene Ratschläge zur Gestaltung des Abschieds (kein Großer Zapfenstreich!) und Bemerkungen zum Ehrensold etc. *4)

Wenige Ehrenwerte stellten sich dem unwürdigen Treiben entgegen. An ihre Haltung sei erinnert: Peter Altmaier, Götz Aly, Udo di Fabio, Kenan Kolat, Jürgen Koppelin, Andrea Nahles, Roland Nelles, Philipp Rösler, Dirk Rossmann, Michael Sommer – leider habe ich nur diese Persönlichkeiten wahrgenommen.

Der Journalist Heribert Prantl hatte zunächst auch bei diesem Vorgang den „moral highground“ besetzt, wie der Jäger den Hochsitz. Aber der Jurist Herr Prantl, ehemaliger Anwalt, Richter und Staatsanwalt, hatte auch die Staatsanwaltschaft in Hannover im Auge. Und er nahm letztlich in besonders verdienstvoller Weise Stellung.

Seinem von Gerhard Schröder, Bundeskanzler a. D., vor einigen Jahren verliehenen Ehrentitel „Dritter Senat des Bundesverfassungsgerichtes“ machte der Journalist Heribert Prantl alle Ehre. Hier sind seine Kernaussagen, in der Süddeutschen Zeitung nachzulesen:

„Die Unschuldsvermutung gilt für jeden, auch für Bundespräsidenten. Sie verlangt, einen Beschuldigten so zu behandeln, dass er nicht vor den Trümmern seiner Existenz steht, wenn sich seine Unschuld herausstellt. Das funktioniert oft nicht. Bei Christian Wulff funktioniert das überhaupt nicht.

Mit der Bejahung eines Anfangsverdachts durch die Staatsanwaltschaft hat sich bei ihm die Unschuldsvermutung in eine Schuldvermutung verkehrt. Seitdem steht Wulff vor den Trümmern seiner Existenz. Seitdem ist er de facto vorbestraft, obwohl er von keinem Gericht, sondern nur von der Medienöffentlichkeit verurteilt worden ist.

Bei kaum einem anderen Anfangsverdächtigen hat die Feststellung des Anfangsverdachts so gravierende Auswirkungen. Das erklärt die Akribie und Energie, mit der die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen betreibt. Der Aufwand entspricht einem Großverfahren der Wirtschaftskriminalität, obwohl es um eher läppische Vorwürfe geht.“ *5)

Mehr als fünf Monate sind seit diesem aufrüttelnden Kommentar Prantls ins Land gegangen. Vor wenigen Tagen lasen wir noch, dass der Staatsanwalt seine Drohungen gegen Herrn Wulff verstärkte. Am 7. März schrieb Hans Leyendecker, dass „gut zwanzig Ermittler mehr als ein Jahr lang jeden Stein umgedreht haben … So aufwendig wird in Deutschland manchmal nicht mal gegen die Mafia ermittelt. Im Fall des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff geht es am Ende um 400 Euro …“ *6)

Nun plötzlich lesen wir vom Angebot der Staatsanwaltschaft. Sie will offenbar nicht länger „auch noch den letzten Dreck zusammenkratzen“ (H. Prantl, a.a.O.). Im Lichte des dürftigen Ermittlungsresultats und des gigantischen Ermittlungsaufwands – etwa 100 Zeugen vernommen, fast 40 Telefonanschlüsse überprüft, drei ausländische Staaten um Rechtshilfe ersucht, so Herr Leyendecker – wie mag dies Angebot, das Verfahren einzustellen, bewertet werden?

Zunächst kann man die Schäbigkeit nicht fassen. Erstens, diese Staatsanwaltschaft scheut sich nicht, das ehemalige Staatsoberhaupt gemeinsam mit einem Geschäftsmann zu adressieren. Zweitens, im Stil des gewöhnlichsten „Koofmich“ wird geschachert: Für euch beide bis zu (!) 50 Mille.

Der Bürger möchte dem ehemaligen Bundespräsidenten, Herrn Christian Wulff, die Kraft wünschen, diesen Dreck zurückzuweisen. Aber was wäre die Alternative: Vielleicht jahrelanges Prozessieren wegen 400 Euro? Jahrelanger Rechtsstreit, ständige Medienhetze, die unser höchstes Staatsamt in Mitleidenschaft ziehen könnte?

Mögen weise, hochrangige Persönlichkeiten aus Staat, Politik und Gesellschaft eingreifen und für Christian Wulff, Bundespräsident a.D., sprechen. Damit er sich ohne öffentlichen Makel seinen Zielen und Aufgaben widmen kann, die er – wie man weiß – engagiert wahrnehmen will.

Und mögen qualifizierte Forscher untersuchen, welche sozialpsychologischen Gesetze und Einflussfaktoren die Monsterwelle aus Politik, Pöbel und Medien verursachten, die Herrn Wulff um sein Amt und um vieles mehr brachten. Damit aus der Geschichte gelernt wird – für unsere politische Kultur.

*1) Monsterwelle, Wikipedia.

*2) So der Historiker Walter Mühlhausen; s. Friedrich Ebert, Wikipedia.

*3) Das deutsche Heer, „im Felde unbesiegt“, sei durch Revolution  und Waffenstillstand „von hinten erdolcht“ worden. S. Paul von Hindenburg, Wikipedia.

*4) Dazu auf dieser Website der Blog „Selbstverständlichkeit“ vom 9. März 2012.

*5) Der vorbestrafte Ex-Präsident. Ein Kommentar von Heribert Prantl, Süddeutsche.de, 10. Oktober 2012.

*6) Unterm Strich geht es nur noch um 400 Euro. Von Hans Leyendecker, Süddeutsche.de, 7. März 2013.