Stalin-BILD: geschichtsvergessen.

Das „Infotainment“ der BILD-Zeitung hat Weltklasse. Ich nutze es fast täglich.

Deshalb wird hier eine Entgleisung gegenüber Maßstäben journalistischer Professionalität thematisiert, die in Deutschland geachtet werden sollten.

Es ist für eine deutsche Zeitung des Ranges und des Einflusses der BILD unvertretbar, in solch abschätzigem Ton über Stalin zu schreiben. *1)

„Suff, paranoid, jämmerlicher Tod, Trunkenbold, wüste Saufgelage; erbärmliches Ende eines grauenvollen Tyrannen, der Wein aus seiner georgischen Heimat soff; miserable körperliche Verfassung“ – ist schäbige journalistische Sensationsmache.

Schäbige Beilage zur anschließenden Unterstellung der BILD, in der Russländischen Föderation blühe die Stalin-Nostalgie: „Auch 60 Jahre nach seinem Tod hat Stalin noch immer eine stattliche Anhängerschaft … Einer aktuellen Umfrage zufolge hat der sowjetische Diktator, der Millionen Menschen den Tod brachte, in den vergangenen Jahren als historische Figur bei der Bevölkerung deutlich an Beliebtheit gewonnen.“ *1)

In Deutschland hat man Grund genug, sich an die eigene Nase zu fassen.

Die von BILD zitierten Umfragen mag es ja geben. Aber die erste Frage, die sich Journalisten aus Deutschland stellen sollten, lautet: Welche historische Verantwortung dafür trägt Deutschland?

Stehen Millionen Opfern, die Historiker der Stalin-Diktatur zurechnen mögen, etwa nicht Abermillionen russische Opfer des deutschen Angriffskrieges gegenüber?

Sind die Deutschen etwa nicht glimpflich davongekommen – im Vergleich zu dem, was die Menschen in der Sowjetunion durch den deutschen Verbrecherkrieg leiden mussten?

Viele deutsche Soldaten im Russlandfeldzug haben die große Tapferkeit und Fähigkeit zur Entbehrung anerkannt, mit der die Soldatinnen und Soldaten der UdSSR ihre Heimat verteidigten.

Welches Schicksal hatten die Nazi-Führung und ihr gehorsames Militär den Völkern der Sowjetunion zugedacht?

Angesehene deutsche Historiker verwenden zunehmend den Begriff „Vergangenheitspolitik“ *2). Dieses Forschungsgebiet widmet sich der Frage, wie die Politik und die Gesellschaft eines Landes die Verantwortung wahrnimmt, die aus seiner Vergangenheit erwächst.

Dass ein Blatt vom Einfluss der BILD die gebotenen Maßstäbe für deutsche Vergangenheitspolitik gegenüber einem heute befreundeten Nachbarland wie der Russländischen Föderation so ignoriert, ist wahrlich kein Ruhmesblatt!

*1) BILD, Der Suff brachte Stalin den Tod, 11.03.2013.

*2) Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann; Das Amt und die Vergangenheit; 1. Auflage, München 2010. Vgl. z.B. das Kapitel „Die Vergangenheit als außenpolitische Herausforderung“, S. 570 ff. Der Vorzug des Begriffs „Vergangenheitspolitik“ besteht in seiner Abgrenzung gegenüber dem Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“. Dieser wurde in der Nachkriegszeit und sogar bis in die Gegenwart in allzu vielen heuchlerischen Sonntagsreden missbraucht. Wie das o.a. Buch zum Auswärtigen Amt nachweist, auch im politischen Handeln und in der Personalpolitik. Indem z.B. einerseits der Nationalsozialismus rhetorisch verdammt, andererseits eine Schar belasteter Nazi-Täter mit staatlichen Posten versorgt wurde.