NATO – Sommers Morgengrauen.

Theo Sommer ist herausragender Journalist, Transatlantiker und sicherheitspolitischer Experte.

Und ein besonders einflussreicher Multiplikator. Aber vielleicht eher Eule als Lerche.

Trifft diese Annahme zu, wäre Vorsicht für ihn geboten gewesen. Vorsicht, bevor eine Kolumne übernommen wird, die der ZEIT am 09.09.2014 rechtzeitig „Fünf vor 8:00″ abzuliefern war.

Trotz solidarischen Mitgefühls: Der von einem Experten wie Theo Sommer erwartete sachlich angemessene Kommentar zum NATO-Gipfel am 4. und 5. September in Newport/Wales wurde in Teilen Opfer des „Fünf vor 8:00″-Termindrucks.

Theo Sommer wertet die Abschlusserklärung der Staats- und Regierungsführer *1) als „monströs“, als „Wust“, da 24 einzeilig bedruckte Schreibmaschinenseiten mit 113 Unterpunkten umfassend. Könnte dies nicht eher als Ausdruck einer besonders umfassenden globalen sicherheitspolitischen Agenda und damit als respektable Leistung des Gipfels gesehen werden?

Zur NATO-Analyse von Bedrohungslagen in der unmittelbaren Nachbarschaft der Europäischen Union – nicht der Amerikas – von Nordafrika, Syrien, Irak, Westbalkan, bis zur Ukraine und den baltischen Ländern steuert Sommer bei: „amerikanische Sicherheitsmanie“.

Theo Sommer hätte etwas genauer über die wachsende Gefahr europäischer Sicherheit durch „hybrid warfare threats“ nachdenken sollen. *1) Ziffer 13. Diese Form der Bedrohung hat uns die russische Aggressionspolitik gegenüber der Ukraine vorgeführt. Dort wurde die „hybrid warfare threat“ praktisch erprobt: als „Mischung eines breiten, hoch integrierten Musters offener und verdeckter militärischer, paramilitärischer und ziviler“ Instrumente der Intervention gegen den europäischen Staat Ukraine.

Sommers Urteil, eine russische Aggression gegenüber „den osteuropäischen Nato-Mitgliedern“ sei „mehr als unwahrscheinlich“, also so gut wie ausgeschlossen, erscheint im Lichte des Ukraine-„hybrid warfare“ durch Putin als leichtfertiges Fehlurteil. Er hätte benennen sollen, um welche NATO-Mitglieder es sich handelt: Estland und Lettland. *2) Sagte Putin nicht: Russland ist, wo Russen leben?

Putins Ukraine-Intervention desavouiert zunehmend die gegenüber Estland und Lettland von Bündnispartnern immer wieder vorgetragene Bitte, in den russischen Minderheiten eine loyale Brücke zum Nachbarn Russland zu sehen. Herr Trittin, MdB, beschuldigte gestern in einer Phönix-TV-Diskussion speziell Lettland der „Ausgrenzung“ seiner russischen Minderheit. Dieser Wink Trittins an Putin bedürfte eines historischen Exkurses über die sowjetische Annexions-Politik und die gezielte Ansiedlung ethnischer Russen in Lettland und Estland. Dies würde jedoch den Rahmen dieses Beitrags sprengen.

Zurück zu Theo Sommers „Würdigung“ des NATO-Gipfels. Eine Folge der gemeinsamen Bedrohungsanalyse für die euro-atlantische Sicherheit war die Einigung, über einen Zeitraum von immerhin zehn Jahren zu niedrige Verteidigungsetats von NATO-Mitgliedern auf einen Richtwert („guideline“) von 2% des Bruttoinlandsprodukts zu bringen. Ebenso sollte über die Dekade ein Richtwert für Investitionen in Ausrüstung, einschließlich Forschung und Entwicklung, von 20 % dieser Mittel aufgebaut werden (*1, Ziff. 14). Weiterhin sei stärker koordinierte Planung und Zusammenarbeit in der Rüstungsindustrie der NATO-Mitglieder und -Partner notwendig.

Für den Fachmann Theo Sommer ist diese Vereinbarung nicht nur „amerikanische Sicherheitsmanie“, sondern „Abnicken“ einer „Milchmädchenrechnung“. Weil für Sommer der hohe Wehretat der USA – die ohnehin in den Konfliktherden der EU-Nachbarschaft immer wieder die Kastanien aus dem Feuer holen müssen (z.B. IS-Angriff!) – „heller Wahnsinn“ und „jedenfalls nicht nachahmenswert ist“. Diese Wertung ist absurd, zumal der mehr als maßvoll (in 10 Jahren!) terminierte 2%-Richtwert eher bei der Hälfte der heutigen US-Quote liegt.

Gleichwohl finde ich Sommers Stellungnahmen immer lesenswert. Im Unterschied zu uns sicherheitspolitischen Laien steckt er offenbar so tief in der Materie, dass gelegentlich polemische Kommentare wohl verständlich sind. Und am Ende hat er Recht: Deutschlands Stärke bei der Antwort auf Konflikte liegt in der Suche nach dem „politischen Prozess“ und in der harten Entscheidung, ob man den „begleitet“ oder auch nicht.

Theo Sommer weiß eben besser als die Verantwortlichen, dass die in Wales vereinbarte 2%-„guideline“ über die Frist einer Dekade für NATO-Mitglieder mit defizitären Verteidigungsetats „jedenfalls der falsche Ansatz (ist). Der richtige Ansatz wäre, zunächst einmal zu fragen, was uns eigentlich an Fähigkeiten fehlt; dann im Kreis der Bündnispartner zu klären, wer was am besten beisteuern kann und wie die Kosten zu verteilen wären.“

Hätte allerdings dieser Ansatz Sommers die Tagesordnung des NATO-Gipfels bestimmt, hätte wohl die Veranstaltung mindestens bis Weihnachten dauern müssen.

Uns Laien wurde mit der „Wales Summit Declaration“ ein großer Dienst erwiesen. Die übersichtlich gegliederte Fassung der „Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Nordatlantikvertrags-Organisation Brüssel“ zum NATO-Gipfel 2014 ist auch besonders hilfreich. *3)

Denn diese Erklärungen zeigen die Bürgernähe der NATO, „die Anstrengungen im gesamten Bündnis, die Bindungen zwischen unseren Streitkräften und den Gesellschaften, denen sie entstammen, zu erhalten und zu stärken.“ *3a).

Ebenso begrüßen wir Bürger den von den Staats- und Regierungschefs glasklar formulierten Zweck des NATO-Gipfels:

„Wir, die Staats- und Regierungsführer der Mitgliedsländer der Nord-Atlantischen-Allianz, sind in einem für die euro-atlantische Sicherheit zentralen Zeitpunkt in Wales zusammen gekommen. Russlands aggressive Maßnahmen gegen die Ukraine haben unsere Vision eines in Frieden geeinten, freien Europa fundamental in Frage gestellt. Unsere Sicherheit wird auch gefährdet durch die zunehmende Instabilität in unserer südlichen Nachbarschaft, vom Mittleren Osten bis Nordafrika, und durch transnationale, vielfältige Bedrohungen. Dies alles kann langfristige Folgen für Frieden und Sicherheit im euro-atlantischen Raum und für die globale Stabilität haben. Unsere Allianz bleibt wesentliches Fundament für Stabilität in dieser unberechenbaren Welt.“ (*1, Ziff. 1, 2. Übers. RS)

Zunehmend erkennen die Menschen die Bedrohungen, die von Aggressorstaaten und vom internationalen Terrorismus ausgehen – nicht nur für sichere Grenzen, auch für unsere elementare menschliche Sicherheit und für wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern der Welt.

Das Ende der Illusionen ist gekommen. Wir müssen uns dieser gefährlichen Zeit sicherheitspolitisch gewachsen zeigen. Durch Förderung von Demokratie und gerechter ökonomischer Entwicklung weltweit. Gleichzeitig durch mehr Mitteleinsatz und Zusammenarbeit für die Verteidigung unserer Werte und demokratischen Institutionen. Im Rahmen unserer Allianz, der NATO!

*1) NATO. Wales Summit Declaration. Issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Wales. Press Release (2014) 120. Issued on 05 Sep. 2014.

*2) Anteil ethnischer Russen in Estland etwa 26 %, in Lettland rd. 30%. Vgl. Matthias Golbeck, Russland, die baltischen Staaten und ihre Minderheiten. Instrumentalisierung des Menschenrechtsschutzes? http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/arbeitspapiere/Arbeitspapier_FG5_Golbeck_Russland_Balt_Staaten_Minderheiten_2013.pdf. S. 7.

*3) Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Nordatlantikvertrags-Organisation Brüssel. NATO-Gipfel in Wales 2014. *3a) Erklärung von Wales zu den Streitkräften. *3b) Erklärung von Wales zu Afghanistan. *3c) Erklärung von Wales zum transatlantischen Bund. *3d) Gemeinsame Erklärung der NATO-Ukraine-Kommission.