Neustart Ukraine.

Überlassen wir die aktuellen, gefährlichen Themen den politisch berufenen Akteuren. Suchen wir nach Fakten, die uns ein Urteil über das Potential der Ukraine für den eigenen Weg aus der Krise erschließen.

Dazu muss die Ukraine sich wirtschaftspolitisch auf Export und finanzpolitisch auf Sparen orientieren. Damit sie ihren internationalen Zahlungsverpflichtungen nachkommen und notwendige Importe bezahlen kann.

Deshalb sei eine Antwort auf die Frage versucht, was leistet die ukrainische Wirtschaft im internationalen Handel? Diese Frage ist keineswegs leicht zu beantworten. Denn seit 2008 leiden auch europäischen Länder unter der wirtschaftlich-finanziellen Krise. Und die Rückkehr zur Normalität scheint gerade für die Ukraine in den letzten Jahren durch die bis zum Aufstand sich auswachsenden internen Spannungen behindert worden zu sein.

Hier wird deshalb an qualifizierte Forschung aus der Zeit vor der Krise der Jahre ab 2008 angeknüpft, um Aufschluss über die Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftskraft der Ukraine zu gewinnen.

1. Warenhandel seit dem Wende-Schock.

Als die Ukraine 1990 eigene Staatlichkeit und Unabhängigkeit errang, konzentrierten sich die Exporte wie die Importe der Ukraine noch zu über 80 % auf die UdSSR.

Die Ukraine exportierte hauptsächlich Maschinen und Ausrüstungsgüter sowie Eisen und Stahl in die anderen Sowjet-Republiken und importierte von diesen ebenfalls Maschinen und Ausrüstungsgüter sowie Chemikalien. Ausfuhren in die übrigen Länder der Welt (üLW) waren Steinkohle (32 % der Ausfuhr in die üLW) , Maschinen und Ausrüstungsgüter (28 %), Metallprodukte (18 %) und Chemikalien (8 %). Eingeführt wurden aus den üLW Maschinen und Ausrüstungen (50 % der ukrainischen Importe aus den üLW), Textilien und Bekleidung (14 %) und Chemikalien (10 %). Nahungsmittelexporte aus oder Energieimporte von den üLW gab es nicht. *1)

Diese Ausgangslage für den Start der Ukraine in die Wendezeit der 1990er Jahre ist zu beachten, um zu verstehen, welchen Schock die Menschen in der Ukraine durchlebten, als die UdSSR zusammenbrach, mit ihr die Rubelzone und die wirtschaftlichen Beziehungen mit den sozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas. 1993 waren die in US-Dollar bewerteten Aus- und Einfuhren der Ukraine auf ein Sechstel ihres Wertes von 1990 geschrumpft.*1)

Das folgende Jahrzehnt war durch harte Entbehrungen für die Ukraine bestimmt.

Die folgenden vorläufigen Ergebnisse des erzwungenen Anpassungsprozesses im ukrainischen Außenhandel bis etwa 2004 können festgehalten werden. Dies ergibt die Analyse, die Olga Pindyuk vorgelegt hat:

1) Die ukrainische Warenausfuhr sei durch Güter mit einem relativ geringen Verarbeitungsgrad geprägt; deren Exportanteil übersteige 2004 60 %.

2) Kostenvorteile zunehmender Produktionsmenge würden unzureichend realisiert. Auch der Einsatz des vorhandenen qualifizierten Humankapitals in der Produktion sei gering.

3) Zwischen 1996 und 2004 bestimmten vor allem Eisenmetalle das Wachstum der Exporte.

4) Die Ukraine habe den exzessiven Verbrauch von Energieressourcen (Öl, Gas; 35 % der Importe des Landes) nicht zurückführen können. Die Ukraine lasse sich im Verbrauch als das „energieintensivste Land“ Europas, selbst Osteuropas bezeichnen (*1), S. 23).

Wurden die von Olga Pindyuk herausgearbeiteten vier Schwachpunkte im internationalen Warenhandel der Ukraine bis 2012 überwunden? Dies mag man bezweifeln, wenn die Rückschläge durch die wirtschaftlichen Krisenjahre von 2008 bis 2010/2011 berücksichtigt werden.

Für 2012 gibt die WTO (World Trade Organisation) für den Warenhandel der Ukraine die prozentualen Anteile der drei Warengruppen am gesamten Warenexport bzw. -import an. Industrieerzeugnisse: 60 % des gesamten Warenexports; 56 % des gesamten Warenimports. Treibstoff und Bergbau (Kohle, Metalle): 13 % Warenexportanteil; 33 % Warenimportanteil. Landwirtschaftliche Produkte: 27 % Exportanteil; 10 % Importanteil.

Diese Warenstruktur des ukrainischen Außenhandels sieht – es sei wiederholt, sicher auch wegen der schweren Weltwirtschaftskrise ab 2008 – nicht nach erfolgreichem Regierungsbemühen um politischen Wandel aus. Wandel und Reformen, die von der Weltbank z. B. 2005 dringend angemahnt wurden. Reformen mit dem Ziel von „a major upgrade of government capacity for investment and export promotion … that facilitate integration into the world economy and provide benefits to private sector participants“ *2)

2. Regionale Neuorientierung im Warenhandel.

Wie ist der Ukraine die Umorientierung auf neue Handelspartner nach dem Zerfall der UdSSR gelungen?

Nach 15 „Transitionsjahren“ lässt sich für das Jahr 2007 – dem Jahr vor der Krisenzeit – eine erste Zwischenbilanz erkennen. *3) Der Wandel in der regionalen Struktur des ukrainischen Warenhandels erscheint nicht weniger als dramatisch gegenüber der Ausgangslage zur Wendezeit.

Die große Leistung regionaler Diversifikation des Warenhandels, die von ukrainischen Unternehmen und ihren Arbeitern erbracht wurde, verdeutlichen die prozentualen Salden der Bilanz des Warenhandels gegenüber verschiedenen Regionen, die unter *3) ausführlich erläutert werden. Sie illustrieren die Exportstärke bzw. Importabhängigkeit der Ukraine in bezug auf die regionalen Partner im Warenhandel.

Die Prozentwerte sind für 2007 ermittelt.

EU 15: minus 30.23 % (s. *3) unten), das Defizit im Warenhandel der Ukraine mit der EU 15 erreicht 30 % des Gesamthandels (Warenexport + Warenimport) der Ukraine mit der EU 15. Das ist doppelt so hoch wie das relative Defizit im Warenhandel mit Russland. Ein Indiz dafür, dass – neben einem überbewerteten Wechselkurs der Hrywnja – nicht-traditionelle Exporte mangelhaft gefördert werden.

EU 12: minus 10.34 %; Russische Föderation: minus 15.3 %; CIS: minus 17.2 %; Asien: plus 15.2 %; Afrika: plus 60 %; Amerika: minus 6.7 %. Der Warenhandel der Ukraine mit den „anderen EU-Ländern“ (*3) und dem Rest der Welt ist ausgeglichen.

3. Herausforderung für die ukrainische Wirtschaftspolitik.

Die dargestellten relativen Handelsabhängigkeiten illustrieren die ökonomischen Realitäten, vor denen die Ukraine steht. Möglichkeiten für Warenexporte in den EU-Markt werden zu wenig genutzt. Trotz des eindrucksvollen regionalen Wandels in der Handelsstruktur ist die Ukraine noch immer stark von den Importen aus Russland und den CIS-Ländern abhängig.

Wegen der Größenordnung der Importe ist diese Importabhängigkeit etwa ebenso stark wie die Importabhängigkeit von sämtlichen EU-Ländern (EU 15 plus EU 12). Allerdings ist im Vor-Krisen-Jahr 2007 die Abhängigkeit der ukrainischen Warenexporte von den Absatzgebieten Russland und CIS deutlich stärker, um fast ein Drittel, als gegenüber dem ukrainischen Exportmarkt EU 27. Und durch die Wirtschaftskrise hat sich diese Lage nicht wesentlich geändert, wie WTO-Statistiken aus 2012 belegen.

Mindestens ein Jahrzehnt haben die Regierungen Julia Timoschenkos und Viktor Janukowitschs einen wirtschafts- und handelspolitischen Wandel aus innenpolitischem Machtkalkül verschoben.

Wobei man Timoschenko noch zugute halten sollte, dass 2008 der Beitritt zur WTO gelungen ist. Allerdings kam es im gleichen Jahr zum Abbruch der Beziehungen mit dem IWF. Und auch in der WTO gab die Ukraine nicht selten Anlass zu Beschwerden wegen Praktiken des Protektionismus gegen Importe oder des Dumping, um Exportvorteile zu erzielen.

Jedenfalls schienen vor allem seit 2008 Machtpolitik und Korruption der ukrainischen Regierungsführung wichtiger als eine immer wieder von IWF/Weltbank angemahnte neue Exportorientierung, die finanz- und geldpolitische Solidität voraussetzt.

Die Weltbank *4) konstatiert im Februar 2014: „2012 und 2013 gab es Null-Wachstum für die Ukraine, weil schwerwiegende gesamtwirtschaftliche und strukturelle Schwächen nicht angegangen wurden. Die Kombination einer Wechselkurspolitik, die den Währungskurs de facto fixierte, mit einer unsoliden Fiskalpolitik, die wiederum mit beträchtlichen quasi-fiskalischen Subventionen für den Energiesektor verbunden war, hat den Staatshaushalt aufgeblasen und das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht verschärft.“ Die Zukunft der Ukraine sei deshalb nachhaltig gefährdet worden.

Die Versäumnisse der bisherigen Regierungen lasten schwer und langfristig auf einem demokratischen Neubeginn in der Ukraine. Eine sorgfältig durchdachte Wirtschafts- und Handelspolitik ist jetzt angezeigt. Denn das Land hätte bei einiger Opferbereitschaft, die mit einem Neustart und neuen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verbunden ist, mittelfristig sehr gute Exportchancen für landwirtschaftliche Produkte und die Agroindustrie. *4)

Deshalb darf jetzt bei der EU-Hilfe gar nichts „schnell gehen“, wie der Meister im Ausgeben von Mitteln Dritter, Martin Schulz, fordert. „2 bis 3 Mrd. Euro“ – so Martin Schulz wieder einmal – bot er als EU-Soforthilfe an. 1 Mrd. Euro mehr oder weniger spielt bei ihm offenbar keine Rolle.

Dafür jedoch bei unserem sozialdemokratischen Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Der schätzte – so Medienberichte – den europäischen Anteil an Soforthilfe auf 1 Mrd. Euro. Um den Staatsbankrott abzuwenden, damit die demokratische Ukraine fälligen Schuldendienst und unabweisbar notwendige Importe bezahlen kann.

Vertrauen wir dem Sachverstand der Experten von IWF und Weltbank. Dem Urteil der Bundeskanzlerin Merkel, des Außenministers Steinmeier und – last but not least – des Präsidenten der USA Barack Obama. Das sind die fünf Säulen, auf die wir EU-Bürger vertrauen, wenn wir uns auf Solidarität mit einer demokratischen Ukraine einstellen.

*1) Ukraine: Foreign trade and industrial restructuring. By Olga Pindyuk. INDEUNIS (´Industrial Restructuring in the NIS. Experiences of and lessons from the new EU Member States‘, an international research project (No 516721) funded by the EU Sixth Framework Programme; www.wiiw.ac.at and www.cordis.lu); February 2006, S. 4 f.

*2) Ukraine’s Trade Policy: A Strategy for Integration into Global Trade. Authors: World Bank. Published: June 2005. Abstract.

*3) Dieses prozentuale Verhältnis des Saldos im Warenhandel (z.B. gegenüber einer bestimmten Region wie der EU) zur Summe der Warenausfuhr und -einfuhr bezeichnet das Statistische Bundesamt als „Normierte Außenhandelsbilanz“. Vgl. Statistisches Bundesamt; Export, Import, Globalisierung – Deutscher Außenhandel, 2011; www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/; S. 29.

Die ermittelten Prozentzahlen können nur annähernd genau sein, da die Export- und Importwerte (in Mrd. US-Dollar) nach Augenmaß aus einer Grafik der Autorinnen (*3) Fig. 4.1, S. 8) geschätzt wurden.
Siehe dazu die Analyse: The EU-Ukraine trade liberalization: How much do the costs of tariff elimination matter? By Miriam FREY (University of Regensburg, Institut für Ost- und Südosteuropaforschung), Zoryana OLEKSEYUK (University of Duisburg-Essen); https://www.gtap.agecon.purdue.edu/resources/download/5702.pdf. (RS: Publ.datum: 2011/12 ?)

Auf Seite 23 dieses Beitrags, Appendix, Table A.1, sind die zu Regionen zusammengefassten Partner für den Warenhandel der Ukraine definiert. EU 15: Austria Belgium Denmark Finland France Germany Greece Ireland Italy Luxembourg Netherlands Portugal Spain Sweden UK. EU 12: Estonia Latvia Lithuania Czech Republic Hungary Poland Slovakia Slovenia Cyprus Malta Bulgaria Romania. Other Europe: Bosnia and Herzegovina Croatia Macedonia Serbia Switzerland Norway Albania. Russian Federation. CIS (Community of Independent States): Armenia Azerbaijan Belarus Georgia Kazakhstan Kyrgyzstan Moldova Tajikistan Turkmenistan Uzbekistan. Asia: China India Indonesia Iran Israel Japan Lebanon South Korea Syria Turkey United Arab Emirates Vietnam Jordan Malaysia Pakistan Singapore Thailand Saudi Arabia. America: Argentina Brazil Canada USA Mexico Br. Virgin Islands. Africa: Algeria Egypt Tunisia Libya Ghana Marocco Nigeria.

Die Bilanz des Warenhandels der Ukraine mit diesen Regionen (a.a.O., Fig. 4.1. S. 8) für das Vor-Krisen-Jahr 2007 ist hier in Schätzwerten (Mrd. US-Dollar) dargestellt. EU 15: Ukrainischer Warenexport (X) nach EU 15: 7,5 (Mrd. US-Dollar), ukrainischer Warenimport (M) aus EU 15: 14 (Mrd. US-Dollar); EU 12: X 6.5, M 8; Russ. Föderation: X 12.5, M 17. CIS: X 6, M 8.5; Asien: X 9.5, M 7; Afrika: X 2, M 0.5; America: X 1.75, M 2; Other Europe: X 1, M 1; Rest of the World: X 2.5, M 2.5.

Die „normierten regionalen Außenhandelsbilanzen der Ukraine“, dh. der Saldo des Warenhandels gegenüber einer Region (z. B. EU 15: minus 6.5) dividiert durch die Summe aus Warenausfuhr und Wareneinfuhr (z.B. EU 15: 21.5), lassen sich nun leicht (in Prozent) ermitteln (z.B. EU 15: minus 30.23 %). Sie können als Indikator die Exportstärke gegenüber bzw. die Importabhängigkeit der Ukraine von der betreffenden Handelsregion illustrieren (z.B. EU 15: Das Warenhandelsdefizit der Ukraine erreicht 30.23 % des gesamten Warenhandels (X + M) der Ukraine mit der Region EU 15.)

*4) Ukraine Overview, Feb 17, 2014; http://www.worldbank.org/en/country/ukraine (Übers. RS).