Nicaragua schmerzt.

Mitte Juli 2018 protestierten „Intellektuelle, sozial engagierte Aktivisten und Wissenschaftler“ vor allem aus Lateinamerika gegen die staatlich gelenkte Gewalt in Nicaragua. Der international angesehene ecuadorianische Politiker und Ökonom Alberto Acosta ist führender Initiator der „DECLARACIÓN URGENTE POR NICARAGUA“ *1).

Der Aufruf richtet sich gegen die Eheleute Daniel Ortega (Präsident) und Rosario Murillo (Vizepräsidentin), die Nicaragua beherrschen. Über 350 Tote und Tausende von Verletzten sind zu beklagen, allein zwischen April und Juli 2018 — eine böse Bilanz der Repression gegen die Menschen des kleinen Landes.

Antonio Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, forderte ein Ende der Gewalt durch Polizei, Streitkräfte, paramilitärische Gruppen und brutalisierte Anhänger des Präsidentenpaares. *2)

Furien der Antike gleich, so hetzte die Vizepräsidentin Rosario Murillo ihre Büttel auf die Demonstranten: „¡No Pasarán!“ („Sie werden nicht durchkommen“). Murillo scheute sich nicht, mit diesem Ausruf die Erinnerung an die legendäre Kommunistin „La Pasionaria“, Dolores Ibárruri, des spanischen Bürgerkriegs gegen die Franco-Faschisten zu missbrauchen.

„No han pasado y no pasarán … el terrorismo no va a gobernar Nicaragua, los diabólicos no podrán nunca gobernar Nicaragua“. *2) Diabolische Terroristen! Da gehorchte der Polizeichef der Rebellenhochburg Masaya: „Den Befehl unseres Präsidenten und der Vizepräsidentin, die Straßen zu säubern, werden wir befolgen. Gleichgültig zu welchen Kosten!“ *2) Mehr als 350 Menschen kostete der „Befehl“ der rabiaten „primera dama“ das Leben.

So endet eine einst weltweit geteilte Hoffnung, die in Nicaragua im Juli 1979 mit dem Sturz des Diktators Somoza begann. Die „Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN)“ setzte populäre Reformen durch; ihr Vorsitzender Daniel Ortega wurde im November 1984 mit 63 % der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Gegen diesen politischen Wandel hatten Anhänger Somozas mit Unterstützung der USA den sogenannten Contra-Krieg geführt. Die große internationale Solidarität mit den Sandinisten wird damals eine Invasion Nicaraguas durch die USA verhindert haben.

Nach langen Oppositionsjahren errang Daniel Ortega ab 2007 erneut die Regierungsmacht. Die hat er seitdem nicht mehr abgegeben: Nicht zuletzt mit dubiosen Änderungen der Verfassung, die seine mehrfache Wiederwahl ermöglichten. Und durch Manipulation von Wahlen, bei denen unabhängige Wahlbeobachter nicht zugelassen wurden.

Die Regierung Ortega/Murillo hatte allerdings auch durch pragmatische Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds IWF und der Weltbank wirtschaftliche Stabilität in Nicaragua erreicht. Eine IWF-Mission stellte fest: Die Wirtschaftsleistung lag 2017 über dem Erwarteten. Die Aussichten für 2018 sind günstig. Um Risiken für Rückschläge zu minimieren, muss Nicaragua die politischen Rahmenbedingungen festigen durch: beschleunigte Umsetzung internationaler Besteuerungsabkommen, durch verminderte steuerfinanzierte Ausgaben, durch ökonomisch rationalere Subventionen und durch eine umfassende Reform der Sozialen Sicherung … *3)

Nicaragua 2018 — Beispiel eines Landes mit jahrelang stabilem Wirtschaftswachstum, gesunkener Armut und vergleichsweise geringer Gewalt. Und plötzlich brechen im April 2018 Unruhen aus wegen der seit langem notwendigen Reform der Sozialversicherung, die das Ortega-Regime bankrott gewirtschaftet hatte. Unterdrückte Konflikte eskalierten, als Beiträge zur Sozialversicherung erhöht und Rentenansprüche gekürzt wurden.

Fachleute hatten den Umgang der Ortega-Regierung mit der Sozialversicherung seit Jahren kritisiert: Als Ortega 2007 an die Regierung kam, habe er eine Sozialversicherung übernommen, die finanziell saniert war und einen Einnahmeüberschuss aufwies. „Nach elf Jahren ineffizienter Verwaltung durch die Sandinisten ist die Institution bankrott und hat ein Defizit von mehr als 71 Mio. US-Dollar“. *4) Ursache des Bankrotts seien riesige Verwaltungskosten, weil die Sozialversicherung zu übertriebener Beschäftigung von Parteigängern missbraucht wurde. Die Investitionen aus Beiträgen des kapitalgedeckten Systems seien Personen zugeflossen, die dem Präsidenten Ortega nahestehen, dadurch sei statt Rendite Verlust entstanden — auch zu Lasten von Leistungen der Krankenversicherung.

In einem der ärmsten Länder Lateinamerikas waren Strukturprobleme, Erwartungsdruck und Ausgaben-Kürzungen für finanzpolitische Stabilität politisch nicht mehr kontrollierbar — sogar weite Teile der Unternehmerschaft des Landes schlossen sich den Protesten gegen die Regierung an. Das Ortega-Regime mag die Fähigkeit und Bereitschaft zum Konflikt in der Jugend und in der Mittelklasse Nicaraguas unterschätzt haben.

Aus Sicht der Demonstranten hatte die Ortega/Murillo-Regierung durch jahrelange Korruption und Selbstbedienung für die eigene Familie und die Anhänger der Regierungspartei jeden politischen Kredit verspielt, der für Konsens, Zusammenarbeit und politische Stabilität notwendig ist.

Zurecht urteilt der eingangs erwähnte Aufruf *1): „Kein schlimmerer Raub als der politische Betrug an der Hoffnung der Menschen. Kein schlimmerer Imperialismus als der interne Kolonialismus, der seine gewalttätige Unterdrückung in anti-imperiale Rhetorik kleidet. Dies alles geschieht in Nicaragua. In dem Land, das Ende der 1970er Jahre zum fruchtbaren Symbol emanzipatorischer Hoffnung wurde.“

Der Argentinier Claudio Katz schreibt: „Nicaragua duele“ — Nicaragua schmerzt. *5)

*1) DECLARACIÓN URGENTE POR NICARAGUA. 17 de julio de 2018. Enviar adhesiones a: declaracionurgentepornicaragua@gmail.com. (Übersetzung RS).

*2) NICARAGUA. Ortega ataca Masaya, el gran bastión de la resistencia en Nicaragua. Entre 1.500 y 2.000 personas armadas, entre ellas militares, policías y fuerzas de choque leales al presidente, asedian la ciudad rebelde.

CARLOS SALINAS. Managua 17 JUL 2018; http://www.laprensa.com.ar/466579-Nicaragua-Ortega-ataca-Masaya

Salinas schreibt: „Die Regierungen der USA, von 13 lateinamerikanischen Ländern und vor allem der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, ersuchten die Regierung Ortega, sofort die Gewalt zu beenden. Guterres wies sogar auf die zumindest indirekte Verantwortlichkeit des Regierungschefs.“ (Übers. RS).

*3) Nicaragua: Staff Concluding Statement of an IMF Staff Visit. February 6, 2018; https://www.imf.org/en/News/Articles/2018/02/06/ms020618-nicaragua-staff-concluding-statement-of-an-imf-staff-visit.

Der IWF konstatiert eine gesamtwirtschaftlich stabile Situation im Jahre 2017: „Das reale Bruttoinlandsprodukt (RS: BIP, jährliche Wirtschaftsleistung) stieg um 4.9 Prozent, vor allem durch starke Exporte von Agrarprodukten, durch Tourismus und Überweisungen von Einkommen aus dem Ausland. Die Kern-Inflation steht bei 4.1 Prozent, wenn auch — unter Berücksichtigung temporär steigender Öl- und Nahrungsmittelpreise — insgesamt 5.7 Prozent zu verzeichnen sind. Das Defizit der Leistungsbilanz ging scharf zurück auf 6.1 Prozent des BIP (nach 8.6 Prozent des BIP in 2016), und die internationalen Währungsreserven stiegen um US-$ 297 Mio. auf US-$ 2.59 Mrd., was die Deckung von Importen über 4.2 Monate sicherstellt.“ (Übertragung RS).

*4) Vgl.: Ocho heridos en las protestas contra la reforma de la Seguridad Social en Nicaragua. Ortega establece un recorte del 5% a las pensiones y aumenta las contribuciones de la patronal y los trabajadores. Las cámaras empresariales rechazan la reforma. CARLOS SALINAS. Managua 19 ABR 2018; https://elpais.com/internacional/2018/04/19/america/1524095967_183633.html. (Übersetzung RS).

*5) Nicaragua duele. Claudio Katz: Escribir sobre Nicaragua es tan doloroso y triste como indispensable. Los recuerdos de la revolución sandinista todavía están vivos en la generación que conoció esa gesta. El silencio sería una afrenta a los que participaron en esa memorable insurrección contra Somoza. 26. Julio 2018; https://katz.lahaine.org/nicaragua-duele/.

Der linksgerichtete argentinische Ökonomieprofessor Katz hat sich dem von Acosta initiierten Aufruf *1) angeschlossen. Seiner Analyse zu Nicaragua kann weitgehend gefolgt werden.

Allerdings erscheinen einige abgrenzende Hinweise zum Denken von Prof. Katz notwendig.

  • Katz betont in seinem Beitrag „Nicaragua duele“ den Unterschied der Lage in Nicaragua gegenüber Venezuela. Katz sieht im venezolanischen Regime des verstorbenen Hugo Chavez und seines Nachfolgers Nicolás Maduro einen Prozess „bolivarianischer Emanzipation“, der von der CIA/USA destabilisiert und sabotiert werde. *5) Eine Hyperinflation, die auf 1 Mio. Prozent zusteuert, Hunderttausende, die das Land verlassen — solche Misswirtschaft der CIA zuzurechnen und nicht dem Maduro-Regime, ist wohl nur mit Hass auf die USA erklärbar. Der Name der Website von Katz scheint Programm: katz.lahaine.org; la haine, der Hass auf französisch.
  • Auch zur Stabilisierungspolitik der Troika (IWF, Europäische Zentralbank, EU-Kommission) mit Griechenland hat Katz sein Urteil gefällt: Ministerpräsident Tsipras sei gegenüber der Troika eingeknickt. „Für Veränderungen bedarf es tapferer Führer wie Fidel (Castro) oder Chavez.“ (Grecia con ojos latinoamericanos. Claudio Katz. 19. Julio 2015; https://katz.lahaine.org/seccion/economia-internacional/).

Nicht wenige Linke Lateinamerikas scheinen noch heute der fatalen Devise deutscher Sozialisten der 1920er Jahre zu folgen, die zum Untergang der Weimarer Republik beitrug: „Demokratie, das ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel.“