Niedergang der Streitkultur?

Waren wir alle nicht wachsam genug, als vulgärste Brutalität im Meinungsstreit begann?

Die Politikerin Renate Künast, MdB, wurde 2019 in übelster Weise beleidigt. Unser Rechtsstaat bot Frau Künast jahrelang keinen Schutz. Als Politikerin hätte sie die “Angriffe“ im öffentlichen Meinungskampf hinzunehmen bzw. die “Kommentare“ hätten einen Sachbezug und seien damit von der Meinungsfreiheit gedeckt, hatten Fachgerichte geurteilt. *1) Erst die Verfassungsbeschwerde führte im Februar 2022 zum gerichtlichen Erfolg: *2)

  • „Die Fachgerichte haben unter Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Persönlichkeitsrechts die verfassungsrechtlich erforderliche Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht unterlassen.“
  • „Ein wirksamer Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgerinnen und Amtsträgern sowie Politikerinnen und Politikern (liege) … im öffentlichen Interesse … Denn eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft kann nur erwartet werden, wenn für diejenigen, die sich engagieren und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet ist.“

Frau Künast konnte Ende 2022 feststellen: „Wer sich in der Demokratie engagiert, ist nicht Freiwild derer, die die Demokratie systematisch zerstören wollen. Gerade in diesen Zeiten ein wichtiges Zeichen.“ *1)

Wer nach diesem Ergebnis zivilisierte Formen im öffentlichen Streit der Meinungen zumindest in gehobener Gesellschaft erwartete, sah sich bald getäuscht.

Im Februar 2023 schmierte der Ballettdirektor und Choreograph der Staatsoper Hannover der Kunstkritikerin der FAZ Hundekot ins Gesicht. Die Journalistin hatte über eine der Choreographien des Ballettdirektors einen kritischen Artikel veröffentlicht. Der Choreograph wurde wegen seines “impulsiven Verhaltens“ von der Staatsoper “suspendiert“. Gleichwohl versuchte er sein Verbrechen gegenüber der Journalistin mit “Geschäftsschädigung“ zu rechtfertigen.

Strafrechtliche Folgen für den Ballettdirektor seien notwendig. Das Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung urteilte: „Der Angriff auf die körperliche und psychische Unversehrtheit der Kritikerin ist zugleich ein Angriff auf das Recht zur freien Meinungsäußerung, geschützt in Artikel 5 des Grundgesetzes und in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Garantie, Kritik frei äußern zu können, ist notwendige Voraussetzung eines demokratischen Rechtsstaates.“ *3)

Waren es launige Artikel über den Dackel des Ballettdirektors oder dessen Einlassungen wegen “Geschäftsschädigung“, die dem eindrucksvollen Urteil der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung die öffentliche Wirkung raubten? *4)

Denn die unsägliche Attacke setzte sich Ende August 2023 gegenüber der AfD-Politikerin Beatrix von Storch, MdB, fort. *5)

Wer glaubt, die gewiss streitbare AfD-Politikerin sei “Freiwild“ für gewalttätige Übergriffe von “Demonstranten“, wird weder das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Persönlichkeitsrecht von PolitikerInnen, noch die Aussage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zur Meinungsfreiheit verstehen.

Unser Rechtsstaat ist gefordert, jegliche Form von gewalttätigen Angriffen auf oder Bedrohungen gegen politische Entscheidungsträger oder kritische Journalisten strafrechtlich zu ahnden.

Denn die Anzeichen eines Niedergangs unserer demokratischen Streitkultur sind bedrohlich genug:

Dem Tagesschausprecher Constantin Schreiber wurde bei einer universitären Podiumsdiskussion über den Islam eine Torte ins Gesicht geworfen, zudem erhielt er gewalttätige Drohungen. Nachdem Schreiber als „rassistisch und islamfeindlich“ diffamiert wurde, erklärte dieser angesehene Islam-Experte, er wolle „sich nicht mehr zum Islam äußern“. *6)

Wer glaubt nach den um sich greifenden Hass-Taten an die unverzichtbare Grundlage unserer Demokratie, an den Respekt vor der Meinungsfreiheit im Sinne Voltaires?

„Ich bin nicht einverstanden mit dem, was Sie sagen, aber ich würde bis zum Äußersten dafür kämpfen, daß Sie es sagen dürfen.“ *7)

*1) Kammergericht gibt Künast Recht: Doch noch voller Erfolg gegen Hass-Kom­men­tare, von Annelie Kaufmann. 08.11.2022; https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/kg-berlin-10w1320-renate-kuenast-hass-kommentare-facebook-falsches-zitat-kammergericht-bverfg-meinungsfreiheit-abwaegung/

*2) Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen fachgerichtliche Versagung der Auskunft über Bestandsdaten gegenüber einer Social Media Plattform. Pressemitteilung Nr. 8/2022 vom 2. Februar 2022. Beschluss vom 19. Dezember 2021. 1 BvR 1073/20; https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/bvg22-008.html;

*3) Stellungnahme zum Angriff auf die Kritikerin Wiebke Hüster. 20. Februar 2023; https://www.deutscheakademie.de/de/akademie/presse/2023-02-20/stellungnahme-zum-angriff-auf-die-kritikerin-wiebke-huester

*4) Kot-Attacke auf Kritikerin. Hannover: Kot und Schauspiel, von Peter Kunz. Datum: 14.02.2023; https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/kot-attacke-hannover-ballett-100.html

*5) Video. Protest gegen von Storch — AfD-Politikerin mit Fäkalien beschmiert. 26.08.2023; https://www.tagesschau.de/inland/regional/rheinlandpfalz/swr-protest-gegen-von-storch-afd-politikerin-mit-faekalien-beschmiert-100.html.

*6) Nach Drohungen und Tortenwurf. Constantin Schreiber will sich nicht mehr zum Islam äußern. „Tagesschau“-Sprecher und Islamkenner Constantin Schreiber will öffentlich nichts mehr zum Islam sagen. Dies begründet er mit Drohungen und öffentlichen Aktionen gegen ihn. 14.09.2023; https://www.deutschlandfunk.de/constantin-schreiber-will-sich-nicht-mehr-zum-islam-aeussern-102.html

*7) Zitat von Voltaire: https://gutezitate.com/zitat/101226