Notwendige Erinnerung!

Die “Jugendsünde“ des Politikers Aiwanger — durch dessen sehr unangemessene Reaktion zum Skandal getrieben — ist gebotener Anlass für dieses Thema.

Sogar Bundeskanzler Scholz fordert Aiwanger auf, der sich nur lückenhaft an sein Fehlverhalten als Schüler erinnert, den „sehr bedrückenden“ Vorgang nach 35 Jahren “aufzuklären“. Hätte Scholz geschwiegen, weil er Wichtigeres zu tun hat, würde er jetzt nicht dem Hohn über seine eigenen Erinnerungs-Ausfälle zum cum-ex-„Skandal“ preisgegeben, der gerade mal 6 Jahre zurückliegt. *1)

Das wohl dem Wahlkampf in Bayern geschuldete Ausmaß der Aiwanger-Debatte dient kaum der defizitären Auseinandersetzung mit den Versäumnissen in der politischen Bildung und damit den unentschuldbar verbreiteten “Meinungsbildern“ über die Nazi-Herrschaft in unserem Land. Die Debatte um Aiwangers „Erinnerung“ an die Nazis ist eine Karikatur der bitter notwendigen Erinnerung an die Zeit der Massenmorde NS-Deutschlands.

Der Aufschwung der AfD in Umfragen auf 22 % zeigt den Ernst der Lage. Diese rechts-populistische Partei wende sich an „die Menschen in der Mitte der Gesellschaft mit Heilsbildern einer homogenen »Volksgemeinschaft der Deutschen«, mit Hass- und Zerrbildern einer »Überfremdung durch Immigration« und mit der Behauptung, dass »korrupte Eliten« das »Volk betrügen«.“ *2)

Die aktuellen Entwicklungen des Rechtsextremismus sollten unterstreichen, wie äußerst wichtig und dringend in unserem Land die Erinnerung an die Menschheitsverbrechen Nazi-Deutschlands ist.

Zu solcher Erinnerungskultur sind bedeutende öffentliche Beiträge geleistet worden, wie eine kleine Auswahl illustriert.

Am 17. April 2023, dem diesjährigen Yom HaShoah (Holocaust Remembrance Day) Israels, hat US-Außenminister Antony Blinken Gedanken zu der notwendigen Erinnerung ausgesprochen. Diese sollten gerade auch in Deutschland verbreitet werden: *3)

  • „An Yom HaShoah erinnern und ehren wir die sechs Millionen Juden und die Millionen anderer von den Nazis ermordeten Menschen. Benannt seien die Roma, LGBTQI+Personen, Slawen und behinderte Menschen.
  • Wir ehren nicht nur ihr Sterben, sondern auch ihr Leben, ihre Kämpfe, ihre Liebe. So wie wir den Reichtum und die Vielfalt ihrer Leben würdigen, so betrauern wir den Verlust der Traditionen, des Wissens, der Geschichten und der Familien.
  • In ihrem Gedenken finden wir die Kraft, allen Formen des Antisemitismus, des Hasses und des Fanatismus zu widerstehen und zu fordern, dass der Holocaust nicht nur erinnert wird, sondern auch Gegenstand sorgfältiger Lehre ist.
  • Der Massenmord an sechs Millionen Juden war keine unvorhersehbare, einzelne Handlung. Der Holocaust war vielmehr der Endpunkt zahlloser Schritte mit dem Ziel, die Opfer zu entwürdigen und zu entmenschlichen. Deshalb müssen wir erinnern — jetzt und für immer.

Die Vereinten Nationen hatten den 27. Januar 1945, Tag der Befreiung von Auschwitz, zum “Internationalen Holocaust-Gedenktag“ ausgerufen.

Daher gedachte am 27. Januar 2017 der Deutsche Bundestag der Opfer des NS-Staates und erstmals auch des „Euthanasie“-Programms.

Bundestagspräsident Norbert Lammert: „Zwischen ´Euthanasie` und dem Völkermord an den europäischen Juden bestand ein enger Zusammenhang. Als ´Probelauf zum Holocaust` gilt das Töten durch Gas, das zuerst bei den ´Euthanasie`-Opfern praktiziert und damit zum Muster für den späteren Massenmord in den NS-Vernichtungslagern wurde … Sigrid Falkenstein (wird) an ihre Tante Anna Lehnkering erinnern, die 1940 in der Anstalt Grafeneck ermordet wurde.“ *4)

Frau Sigrid Falkenstein, Autorin zur Erinnerungsarbeit über die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde“, fand verpflichtende Worte für uns Deutsche: „Es ist an uns Nachgeborenen, die Erinnerung wachzuhalten, denn es gibt kein Verständnis von Gegenwart und Zukunft ohne Erinnerung an die Vergangenheit“. *5)

Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Massenmorde und der Holocaust des NS-Staates fordern für immer von den Deutschen die Pflicht zur Erinnerung, zur wahrheitsgetreuen Forschung und Lehre. Und nicht zuletzt bilden die NS-Verbrechen eine Pflichtaufgabe für die schulische Bildung.

Dies belegt nicht nur der einleitend dargelegte Skandal, sondern dies verdeutlichen vor allem die Gewalt und die defizitären Resultate der Bildung an vielen unserer Schulen.

*1) „Wenn man einen Bundeskanzler hat, der sich an Vorgänge vor sechs Jahren nicht mehr erinnern kann, wo er eigene Akten dazu hat, wo er aktiv im Handeln war, dann sollte genau derjenige vorsichtig sein, Dinge einzufordern, die 35 Jahre her sind“, sagte Schweiger mit Blick auf Scholz‘ Äußerungen zu seiner Rolle im Steuerskandal bei der Hamburger Warburg-Bank. „Mit dem Finger auf andere zu zeigen und selbst Lücken offen zu machen, zeigt natürlich auch, wo der Wind her weht.“ Siehe: Fragen zur Flugblatt-Affäre. Aiwanger reagiert auf Söders Abgabefrist. Von dpa. Aktualisiert am 01.09.2023; https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/parteien/id_100235756/flugblatt-affaere-aiwanger-reagiert-auf-soeders-abgabefrist.html

*2) Andreas Zick, Beate Küpper (Hg.). Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21. Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Franziska Schröter. Bonn 2021. S. 24.

*3) Marking Holocaust Remembrance Day, Blinken urges stand against antisemitism. By TOI STAFF. 18 April 2023; https://www.timesofisrael.com/marking-holocaust-remembrance-day-blinken-urges-stand-against-antisemitism/ (Übertragung und Hervorhebungen RS).

*4) 27.01.2017. Parlament. Rede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert am 27. Januar 2017 zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus; https://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2017/002-490682

*5) Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkstunde im Deutschen Bundestag am 27. Januar 2017. Rede von Sigrid Falkenstein; https://www.bundestag.de/resource/blob/490396/97b4b8f30bfd514073082bf2483534c0/kw04_de_gedenkstunde_sfalk-data.pdf (Hervorhebung RS).