Obamas Bilanz – deutsche Tränen.

Über den Präsidenten der USA entscheiden Amerikas Wähler und das Electoral College Ende 2012.

Unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und zum amerikanischen Volk sollte nicht durch diese Entscheidung bestimmt werden. Dies gebietet der Respekt in der transatlantischen Partnerschaft.

Dennoch müssen wir zum politischen Wettbewerb in den USA nicht neutral stehen. Politische Präferenzen und Wetten zum Wahlausgang gehören zur Normalität der transatlantischen Beziehungen.

Dieser Beitrag widmet sich einigen Urteilen namhafter deutscher Einrichtungen und Medien über Präsident Obamas Bilanz. Die Überraschung: Analysen der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin, des General-Anzeiger, Bonn, des Spiegel, Hamburg, führen zu ähnlichen Schlussfolgerungen.

Einige SWP-Autoren (1) scheinen sich richtig betrogen zu fühlen. Auf der ersten Seite bereits sind Hoffnungen oder Erwartungen fünf Mal „enttäuscht“ worden. Herr Peter Rudolf urteilt: „Obamas Vorhaben sind praktisch tot.“ Da ist hervorzuheben, dass der Experte für Sicherheitspolitik, Oliver Thränert, die „Einladung der Nato an Moskau, sich am geplanten System (Raketenabwehrschirm, RS) zu beteiligen“, positiv wertet: „ein erster wichtiger Schritt“. Nach „Hoffnungen“ als Kategorie der Politikanalyse nun doch noch Nüchternheit.

Beim General-Anzeiger (2) fasst mich die Besorgnis, ein wenig, vielleicht sogar ziemlich gefühlskalt zu sein. War ich denn so unfähig zu der „Liebesaffäire, die Europa, gesondert Deutschland, damals mit dem künftigen ersten schwarzen Präsidenten der USA einging“? Der Autor beklagt den „Prozess des Entliebens … Von ´Hope`und ´Change`… nichts mehr zu hören .. ´Forward`heißt es auf den Plakaten.“ Gut, sage ich dazu nach den wortreichen Plakaten im NRW-Wahlkampf.

Die große Lyrikerin Mascha Kaléko wird wegen der Enttäuschung über Obama zweimal mit einem Gedicht zum „Abgesang auf eine große Liebe“ zitiert. Sie kann sich nicht dagegen wehren und ist nicht dafür verantwortlich, dass dies dem Korrespondenten nach einem – sicher gut bestückten – Empfang im Weißen Haus „in den Sinn kam“. Nachdem ich noch den politischen Missbrauch eines Gedichts zur Kenntnis nehme: „vielleicht kann keiner von uns zwein dafür“, greife ich hoffnungsvoll zum Pflichtblatt aus der Hansestadt, das angeblich moderaten Zynismus pflegt (3).

Schon das Titelbild „Schade“ mit einem Obama-Konterfei, als unterdrücke der das Schluchzen, hätte mich warnen müssen. Das „Entlieben“ muss den Spiegel-Autoren furchtbar zugesetzt haben. Der Spiegel „erhoffte sich ein friedfertiges, liberales, sozial gerechtes Amerika“ (S.3) in dreieinhalb Jahren von Barack Obama. Der „an der Siegessäule in Berlin die Menschen mit Worten der Hoffnung zu Tränen rührte.“ (S.89). Wie kann so was bloß angehn, pflegte man mal in Hamburg zu sagen.

Die Spiegel-Autoren haben nicht nur nah am Wasser gebaut. Sie scheinen auch etwas kälteempfindlich: „Wie muss er (Obama) sich fühlen, wenn ihm liberale Zeitungen heutzutage bescheinigen, im ´Krieg gegen den Terror` ein schlimmerer Krieger zu sein, als es George W. Bush je war? Es gelangen Details an die Öffentlichkeit, die frösteln lassen.“ (S. 89). Mitten im Juni.

Und mit tiefem Mitgefühl konstatiert der Spiegel: „innerhalb von vier Jahren ergraut“. Da sind  andere in Obamas Alter schlohweiß geworden, fragt mal Euren Friseur. Aber weiter: „Das Amt, der Dauerstress, die Last der Entscheidungen“ (S.89) und „dass er zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt ins Amt kam“ (S.88). Also graues Haar und falsche Amtszeit – jetzt wie in Berlin an der Siegessäule, raus mit dem Taschentuch.

Bald fängt sich der Spiegel wieder und vermerkt übel, dass Präsident Obama das Lager Guantanamo nicht aufgelöst hat. Ein starkes Stück deutscher Selbstgerechtigkeit! Denn der Spiegel 3/2009 hatte seine Auflage durch Interesse an einem offenen Brief steigern können, den Außenminister Steinmeier an Barack Obama, den gewählten Präsidenten, gerichtet hatte (4).

In diesem Offenen Brief bekundete der Außenminister Freude, „dass Sie das Gefangenenlager in Guantanamo schliessen möchten. Eine der schwierigsten Fragen dabei ist, was aus den dort Inhaftierten wird. Wenn Amerika auf andere zukommt, befürworte ich, dass die internationale Staatengemeinschaft und Europa die neue Administration bei dieser Aufgabe nicht im Stich lassen.“ Mir ist kein Wort der Kritik vom wohlinformierten Herrn Steinmeier darüber bekannt, dass in Guantanamo noch immer Gefangene einsitzen.

Der interessant zu lesende Spiegel-Artikel urteilt abschließend über die Präsidentschaft Obamas:

„Was hat Obama unternommen, um die vielen gravierenden Probleme seines großen Landes anzugehen? Nicht genug. Hätte er mehr leisten können, auch im Rest der Welt? Wahrscheinlich.“ (S.92).

Nun kann Präsident Obamas Leistung auch ganz anders gewürdigt werden. Zur Titel-Geschichte „Schade. Obamas missglückte Präsidentschaft“ hörte ich eine wirklich sachkundige (5) Persönlichkeit mit dem knappen Kommentar: „Schade, Spiegel!“

Wie sind diese recht einhelligen deutschen Urteile über die Leistungsbilanz des amerikanischen Präsidenten zu erklären? Vor allem wenn berücksichtigt wird, was der transatlantische Partner Europa zustande bringt? Was haben die Spiegel-Autoren unternommen, um ein abgewogenes Fazit zu ziehen? Vielleicht doch nicht genug? Fielen die Autoren eigenen, irrealen Erwartungen zum Opfer? Wahrscheinlich.

Den Schlüssel zu dieser Vermutung liefert ein Buch zweier Spiegel-Journalisten, einer davon, Herr Marc Hujer, ist Ko-Autor des „Schade“-Artikels (6). In diesem Buch finden sich „Sechs gute Gründe für den Präsidenten Barack Obama“ (S.289).

Unter anderem wird von einem Präsidenten Obama folgendes erwartet: Obama „verkörpert … das Amerika der ´soft power`“. „Barack Obama ist ein Realist im Gewand des Romantikers. Damit ist er den phantasielosen Veteranen des Metiers weit überlegen. Ihm sind überraschende Einfälle zur Weltpolitik zuzutrauen.“ Obama stehe für ein Ende des amerikanischen „Kulturkampfes“, des „Abklingens der Überpolitisierung“ und für ein Ende des „strikten Lagerdenkens“. Diese Haltungen der „Vergangenheit“ werden Hillary Clinton zugeschrieben. Und deshalb sei „Obamas Triumph über Hillary Clinton“ „wichtiger noch als der Sieg über John McCain“ (S.290).

Dass an solch „gute Gründe“ geknüpfte Erwartungen der politischen Realität 2009 – 2012 zum Opfer fielen, sollte indes nicht überraschen.

Lesen wir bei Obama selbst nach (7): „So lange Russland und China ihre eigenen riesigen Streitkräfte beibehalten und nicht vollständig den Instinkt abgelegt haben, ihr Gewicht überall einzusetzen – und solange eine Handvoll Schurkenstaaten bereit sind, andere souveräne Nationen anzugreifen, so wie Saddam Hussein 1991 Kuwait attackierte – so lange wird es Zeiten geben, da wir, wenn auch widerstrebend, wieder die Rolle des Weltpolizisten werden spielen müssen. Dies wird und sollte sich auch nicht ändern.“ (S.306; Übers. RS).

Zum Glück, werden nicht wenige Transatlantiker sagen, ist hier von außen- und sicherheitspolitischer Kontinuität die Rede, nicht von weltpolitischen Überraschungen.

In der Außen- und Sicherheitspolitik hat Präsident Obama denn auch Entscheidungen getroffen, die nicht nur zu Beginn klug erschienen, sondern sich auch im Rückblick als sehr klug erwiesen. Der hoch angesehene republikanische Verteidigungsminister unter George W. Bush, Robert Michael Gates, blieb wie vereinbart bis 2011 in seinem Amt. Nachfolger wurde Leon Panetta, ebenfalls eine ausgezeichnete Wahl. Hillary Clintons Berufung zur Außenministerin erwies sich als Glücksgriff. Ihre Zusammenarbeit mit Robert Gates wie mit Panetta wird als erfolgreich beurteilt im Hinblick auf eine Außen- und Sicherheitspolitik der USA aus einem Guss. Darüber hinaus gestaltet Hillary Clinton den internationalen Politikdialog mit einer Sachkunde und Überzeugungskraft, für die Transatlantiker dankbar sind.

Noch einmal zum „Schade“-Spiegel. Wie können die USA und die Welt nun mit der Enttäuschung über das ausgebliebene Ende des „Lagerdenkens“, des „Kulturkampfes“, der politischen Konfrontation, mit der verlorenen „Chance auf eine unverhoffte Aussöhnung mit der Vergangenheit“ ((6), S.289) fertig werden? Dieser Jammer erscheint besonders absurd.

Schon Ronald Reagan soll gesagt haben „it takes two to tango“. Gerade in der groß-koalitionären Politik-Kultur der Bundesrepublik ist dies jeden Tag mit den Händen zu greifen. Nun haben sich die Republikaner entschieden, Präsident Obama darzustellen als Sozialisten, der Amerika ruinieren werde. Daher sei sozusagen aus Notwehr die totale Konfrontation geboten. Das ist in einer Kultur des Wettbewerbs zu akzeptieren.

Deswegen erscheinen Obamas Wahlkampfstil und -strategie nur folgerichtig (8). Peggy Noonan hat ein Pressegespräch und eine Rede Obamas vor Journalisten von Anfang April 2012 so charakterisiert: „Die Rede war ein ungewöhnlicher, schonungsloser Angriff auf die Republikanische Partei … Da gab es kein gut gemeintes Versprechen, zusammenzuarbeiten oder common ground zu  finden … Die Rede strebte nicht nach Versöhnung, Überwindung von Differenzen oder nach Gemeinsamkeiten … Sie zielte auf die Mitte … aber ließ Ton und Geist der Mitte vermissen.“

Obamas Wahlkampfstrategie sei „schweres und pausenloses Bombardement … Zentralthema des Wahlkampfes: Die Republikanische Partei ist eine radikale und reaktionäre Kraft, um nur eine Gruppe zu verteidigen, die Reichen und Zufriedenen, während der Präsident und seine Partei kämpfen, um die Not leidende Mittelklasse zu schützen und die Zukunft Amerikas zu bewahren.“ (Übers., RS).

Spätere Reden Obamas bestätigen diese Einschätzung Peggy Noonans. Für die USA sei diese Konfrontationsstrategie „ungewöhnlich“. „Normalerweise“ trete ein amtierender Präsident im Wahlkampf zunächst „wohlwollend“ auf. Vor allem „in Krisen waren frühere Präsidenten fröhliche Schulterklopfer.“ Nicht Obama! Beim ihm sei es „us-versus-them“, „von Beginn an schroff und scharf abgegrenzt. Ist dies gute Politik? Es ist ungewöhnliche Politik.“ Die Wähler werden entscheiden.

Da mag die SWP beklagen, „dem ersten schwarzen Präsidenten der USA (ist es) nicht wie beabsichtigt gelungen, die Polarisierung … zu überwinden.“ Im Rahmen einer scharfen politischen Wahlkonfrontation wie in den USA erscheint schon solche Feststellung unsinnig, erst recht eine Art Vorwurf.

Wie ließe sich eine alternative Sicht auf Obamas Bilanz begründen?

Erstens: Präsident Obama habe durch entschlossenes Handeln zur Rettung wichtiger Institutionen des Finanzsektors wie Banken und Versicherungen eine katastrophale Eskalation der Finanzkrise ab 2009 verhindert. Ferner habe er durch erfolgreiche Kredithilfen zur Stützung der Automobilunternehmen General Motors und Chrysler die amerikanische Realwirtschaft vor dem Zusammenbruch einer Großindustrie mit zusätzlich zwei Millionen Arbeitsplätzen bei Zulieferanten bewahrt. (W. A. Galston, 9).

Zweitens: Obamas Bildungspolitik, u.a. das „Race to the Top-Programm“, habe auf Ebene der Staaten und Gemeinden positiven Wandel zu moderaten Kosten bewirkt (9). Als bei weitem wichtigste Initiative bewertet Professor Galston die Reform des Gesundheitswesens. Diese Reform sei lange unpopulär gewesen und sei es immer noch. „Aber dies bedeutet nicht, dass es schlechte Politik ist oder dass sie unpopulär bleibt. Vollständig umgesetzt, wird diese Gesetzgebung den Versicherungsschutz ausweiten und die schlimmsten Defekte des Systems beseitigen, wie etwa die Ablehnung des Versicherungsschutzes wegen Vor-Erkrankung.“ (9) Außerdem biete die Reform eine Bremse gegen die desaströse Kostenexplosion im Gesundheitswesen.

Experten der Gesundheitspolitik, wie der Demokrat Thomas Daschle oder der ehemalige Finanzminister Bill Clintons, Lawrence Summers, messen der Reform des Gesundheitswesens historischen Rang bei. Professor Summers sagt voraus: „Die historische Debatte wird sich einst darum drehen, ob diese Errungenschaften die bedeutendsten seit Lyndon Johnsons Reformen von 1965-1966 seien (Great Society-Armutsbekämpfung, RS) oder aber die bedeutendsten seit FDR`s Reformen (Präsident Franklin Delano Roosevelt) von 1933-1934.“ (10)

Drittens: Präsident Obama habe sowohl die transatlantischen als auch die transpazifischen Beziehungen gestärkt. Auch wenn es noch keine „klare road map für die Zukunft“ gebe, scheine Obama das Wichtigste gut zu verstehen: „eine graduelle Neu-Ausrichtung der amerikanischen Führungsrolle in der aufkommenden globalen Ordnung“ (11). In der konkreten Außen- und Sicherheitspolitik werden Erfolge anerkannt. Unter seiner Führung seien effektive Sanktionen gegen die Nuklearpolitik Irans organisiert worden. Im Irak sei der abgestufte Rückzug so erfolgt, „dass hart errungene Gewinne nicht aufs Spiel gesetzt wurden.“ (W. A. Galston (9)). In der Afghanistanpolitik sei ein Zeitplan entwickelt worden, der die zentralen, langfristigen Interessen Amerikas sichere. Die Politik gegenüber Libyen, dem „Arabischen Frühling“ und Syrien habe zu selten erlebtem „burden-sharing“ geführt. „Mehr als zufrieden stellend“ seien die Erfolge im Kampf gegen das internationale Terrornetzwerk Al Kaida zu bewerten. (W. A. Galston (9).)

Diese Erfolge in der Außen- und Sicherheitspolitik mögen die „dramatische Verbesserung des Ansehens der Vereinigten Staaten“ in der Welt erklären. Thomas Daschle führt dazu Erhebungen des „Pew Global Attitudes Project“ an (10). Ein Vergleich des Anteils positiver Einstellung zu den USA der Jahre 2008 – 2011 zeige: Deutschland (31% – 62%); Frankreich (42% – 75 %); Japan (50% – 85%).

Wo mag die Ursache für die verschrobene Haltung maßgeblicher deutscher Meinungsführer gegenüber Amerika zu suchen sein?

Meine Vermutung: Es ist die Größe der Dankesschuld.

Für die Hilfe nach dem Zweiten Weltkrieg. Für die Aufnahme in die internationale politische und wirtschaftliche Gemeinschaft des Westens. Für die Sicherheitsgarantie im Kalten Krieg. Für die Wiedervereinigung unseres Landes. Und wieder für Sicherheit durch die Führungsmacht des Westens in der globalen, interdependenten Welt mit den Bedrohungen durch den Terrorismus.

Es ist die unabweisbare Abhängigkeit von der einzigen zu globalem Handeln befähigten Führungsmacht des demokratischen Westens.

Da mag gelegentlich der Impuls übermächtig werden, die Hand zu beißen, die immer wieder gereicht wird.

(1) Die USA: Weltmacht im Wandel – Die Politik der Obama-Administration und die Wahlen 2012; swp-berlin.org/de/swp-themendossiers.

(2) Dirk Hautkapp,Talent in der Zwangsjacke, Der politische Erlöser scheint gescheitert: Barack Obama, Präsident der verzweifelten Staaten von Amerika; Wochenende, Das Magazin im General-Anzeiger, Samstag/Sonntag 16./17. Juni 2012.

(3) Schade. Obamas Missglückte Präsidentschaft. Ein Präsident der Enttäuschungen; Titelgeschichte von Ulrich Fichtner, Marc Hujer, Gregor Peter Schmitz; DER SPIEGEL Nr 24/ 11.6.12, S. 82 – 92.

(4) Steinmeier, Frank-Walter, Aussenpolitik Im engen Schulterschluss, Offener Brief …; spiegel.de, 12.01.2009.

(5) Verbürgt. Chatham-House-Rule ist strikt beachteter Blog-Grundsatz.

(6) Gerhard Spörl, Marc Hujer, Die wiedervereinigten Staaten von Amerika – Wie die USA die Spaltung nach George W. Bush überwinden, Frankfurt a.M. 2008.

(7) Barack Obama, The Audacity of Hope, New York 2006.

(8) Peggy Noonan, WallStreetJournal, April 6 2012.

(9) William A. Galston, Brookings Institution, economist.com/debate … 6-12-2012.

(10) Obama, Explained by James Fallows, The Atlantic, March 2012; theatlantic.com.

(11) Martin Indyk, Kenneth Lieberthal, and Michael O`Hanlon, Scoring Obama`s Foreign Policy; Foreign Affairs, May/June 2012.