Ordnungsruf.

Der Ordnungsruf ermöglicht dem Bundestagspräsidenten oder seinen Stellvertretern, „unparlamentarisches“ Verhalten (z.B. Beschimpfungen, unflätige Zwischenrufe oder Störung eines Redners) von MdBs zu rügen. Manchmal jedoch unterbleibt ein vom TV-Zuschauer gewünschter Ordnungsruf.

Dies war der Fall in der Aktuellen Stunde am 07.11.2018 zu den Cum-Ex- und Cum-Cum-Steuer-„Gestaltungen“. *1) Die Fraktion „Die Linke“ hatte diese Aktuelle Stunde verlangt. Es kam zu den bekannten Vorwürfen des Steuerraubs (mutmaßlich 31 Mrd. € Steuerverlust für Deutschland). Recherchen angesehener Journalisten wurden zitiert, dass die Steuern hinterziehenden Machenschaften in modifizierter Form anhalten.

Das ist sicher kein angenehmes Thema für die Bundesminister der Finanzen seit 2002, als diese Steuer-„Gestaltungen“ wohl erstmals ruchbar wurden. Auch dem derzeitigen Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) wurde Wegschauen in seinem Amt als Erster Bürgermeister Hamburgs unterstellt.

Scholz ließ sich in der Aktuellen Stunde von der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen, Chris­ti­ne Lam­brecht, SPD-MdB, vertreten.

Der Kameraführung bei Phoenix TV schien aufzufallen, dass Frau Staatssekretärin Lambrecht als Regierungsmitglied auf der Regierungsbank des Bundestags vor allem Redebeiträge kritischer MdBs mit Mienen und Gebärden nonverbal kommentierte.

Offenbar hatte sie eine feste Meinung zum Thema der Debatte: Denn wie ein MdB in der Aktuellen Stunde die Staatssekretärin Lambrecht aus dem Finanzausschuss zitierte, hätte Lambrecht dort pauschale Vorwürfe gegen die Medien erhoben und „alles fürchterlich substanzlos“ befunden. Eine angesichts der Milliarden-Größenordnung des von anerkannten Wissenschaftlern berechneten kriminellen „Steuerraubs“ seltsame Bewertung der Sozialdemokratin. Vor allem, wenn die Dunkelziffer und die inzwischen eingetretenen Verjährungen der kriminell abkassierten Mehrfach-Erstattungen von jeweils pro Aktien-Dividenden-Geschäft nur einmal abgeführter Kapitalertragsteuer berücksichtigt werden.

Etwas verstohlen, jedoch erkennbar genug, ließ Frau Staatssekretärin Lambrecht ein Spektrum nonverbaler Missbilligung gegen kritische Reden von MdBs erkennen: Von Widerwillen, mokierender Ablehnung, geringschätzig erscheinenden Handbewegungen zum Kopf (fast endete dies bei der bekannten Scheibenwischer-Geste), bis hin zum Anschein der Verachtung.

Dies alles haben die Kameraleute als besonderen Ausdruck der „Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlament“ im Rahmen ihrer Berichts- und Dokumentationspflicht festgehalten. *1) Dafür sollte der Staatsbürger danken. Gerade wenn ihn Ärger erfasste angesichts des „größten Steuerraubs in der Geschichte Europas“ (so einige MdBs), der nur besonders begüterten Netzwerken mit Beratern gelingen konnte.

Ärger auch über eine seit 20 Jahren als MdB verdiente Politikerin wie Staatssekretärin Lambrecht. Von ihr sollte als Vertreterin des Bundesfinanzministers erwartet werden, dass sie den Parlamentsdebatten und den Reden der MdBs mit dem gebotenen Ernst und Respekt beiwohnt. So wie wir es im Allgemeinen von Bundeskanzlerin Merkel oder Vizekanzler Scholz gewohnt sind.

Selbstverständlich erhielt sie keinen Ordnungsruf vom Präsidium des Bundestags, schon weil sie außerhalb von dessen Blickrichtung auf der Regierungsbank saß.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hatte kürzlich aus unerfreulichem Anlass zur „Würde“ des Verfassungsorgans Deutscher Bundestag Bleibendes festgehalten:

„Wir als Abgeordnete des ganzen Volkes im Sinne von Artikel 38 Grundgesetz (bringen) eine Vielzahl von Interessen, Meinungen, Befindlichkeiten mit den Begrenztheiten und der Endlichkeit der Realität zusammen. Da ist Streit nicht nur erlaubt; es geht nur über Streit. Den müssen wir führen, und den müssen wir aushalten, ertragen. Demokratischer Streit ist notwendig, auch leidenschaftlicher und auch polemischer Streit. Aber es ist ein Streit nach Regeln, und er ist mit der Bereitschaft verbunden, die demokratischen Verfahren zu achten.“ *2)

Offenbar konnte Staatssekretärin Lambrecht als Vertreterin der Bundesregierung den „notwendigen demokratischen Streit im Deutschen Bundestag“ (Schäuble) nicht mit der gebotenen Neutralität und Achtung vor der Würde des Hauses der Legislative begleiten.

Es sei wiederholt: mit Widerwillen, mokierender Ablehnung, geringschätzig erscheinenden Handbewegungen zum Kopf (fast endete dies bei der bekannten Scheibenwischer-Geste), bis hin zum Anschein der Verachtung, so konnte im TV ihr Verhalten als Vertreterin der Exekutive beobachtet werden.

Deshalb sei der SPD-Staatssekretärin Lambrecht hier ein Wort des 1974 amtierenden Bundestagsvizepräsidenten Richard Jäger (CSU) entgegen gehalten. Ein würdiges Wort für ungeschriebene Regeln in einer parlamentarischen Demokratie.

Wie nicht wenige Wertkonservative hatte der seinerzeit sicher politisch extrem konservativ agierende Jäger eine hohe Auffassung von seinen Aufgaben im Präsidium des Deutschen Bundestags.

In einem wissenschaftlichen Werk über das Verfassungsorgan Deutscher Bundestag hat dieses Wort Richard Jägers eine bleibende Erinnerung gefunden *3):

„Verachtung ist keine Haltung, die einem Mitglied der Bundesregierung gegenüber dem Parlament oder einem Teil des Parlaments zusteht.“

*1) Aktuelle Stunde im Bundestag zum Verhalten der Regierung bei Cum-Ex-Geschäften am 07.11.18. Phoenix vor Ort; https://www.youtube.com/watch?v=a0CnUQQGIDg.

*2) Einleitende Worte von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble vor Eintritt in die Tagesordnung. 14. Juni 2018; https://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/010/560216.

*3) Der Bundestagspräsident: Funktion und reale Ausformung eines Amtes im Deutschen Bundestag. Von Jürgen Wermser. Opladen 1984, S. 69.