Pflicht zu erinnern!

2025: Vor 80 Jahren wurden die Deutschen von der Nazi-Herrschaft befreit, die das grausamste Menschheitsverbrechen des Holocaust begangen und den Deutschen damit ewige Verantwortung auferlegt hatte. 

1. Nazi-Deutschland — eine “rassistische Raubgemeinschaft“.

Viele Deutsche waren Täter der zahllosen Verbrechen, viele schauten weg, viele profitierten, nahmen auch am Raub jüdischen Eigentums teil: von gierigen Nachbarn bis zu Unternehmen, die bei der “Arisierung“ jüdischer Firmen und jüdischen Vermögens mitmachten. 

Der Historiker Götz Aly belegt, dass es an frühen Warnungen vor Nationalismus und Rassenhass in Deutschland nicht gefehlt hatte: *1)

  • Der Sozialdemokrat Karl Kautsky hatte 1920 gewarnt: „Die ziellos gewordenen, aus der Zucht von Befehl und Gehorsam in die freiheitliche Republik entlassenen Männer fluktuierten zu Millionen zwischen den politischen Lagern, strömten ´bald dahin, bald dorthin … und jetzt stehen wir vor der Gefahr, dass sie sich dem Antisemitismus ergeben oder an der Politik verzweifeln`“. Für Kautsky war es jetzt „´dringender als je notwendig` die Proletarier gegenüber Nationalismus und Rassenhass ´kritisch zu stimmen` und ´immun zu machen`“. *1, S. 164 f.)
  • Der deutsche und jüdische Schriftsteller „Jakob Wassermann machte sich 1921 Gedanken über den Volkshass gegen die Juden … Erst während seines noch vor dem Krieg absolvierten Rekrutenjahres hatte er den Antisemitismus von jungen Männern kennengelernt, die aus einfachen Verhältnissen stammten. ´ Zum ersten Mal begegnete ich jenem in den Volkskörper gedrungenen dumpfen, starren, fast sprachlosen Hass, von dem der Name Antisemitismus fast nichts aussagt, weil er weder die Art, noch die Quelle, noch die Tiefe, noch das Ziel zu erkennen gibt … Es ist ein deutscher Hass.`“ Zwölf Jahre vor Hitlers Machtergreifung 1933 hatte Wassermann erkannt: „´ Leider steht es so, dass der Jude heute vogelfrei ist.`“ *1, S.165 f.)

Der Historiker Götz Aly hat die von den Nationalsozialisten immer wieder beschworene “deutsche Volksgemeinschaft“ als “rassistische Raubgemeinschaft“ entlarvt.*2) 

Er hat die deutsche Schuld und Verantwortung für den geplanten und organisierten Mord an über sechs Millionen jüdischen Menschen belegt und festgestellt: „Neid und Versagensängste, Missgunst und Habgier trieben den Antisemitismus der Deutschen an — Gewalten des Bösen … Millionen Deutsche (delegierten) ihre … Aggressionen an den Staat. So konnten staatliche Akteure jeden Einzelnen entlasten und individuelle Bosheit in die überpersönliche Notwendigkeit zur ´Endlösung der Judenfrage` verwandeln.“ *1, S. 300 f.)

2. “Vergesst uns nicht, erzählt es weiter!“ 

Deshalb haben wir die ewige Pflicht, an den Raubkrieg der Nazis und den Holocaust zu erinnern. Dies ist das Vermächtnis der Opfer, wenige haben überlebt, und das nur, weil Deutschland seinen Raubkrieg verlor: “Vergesst uns nicht, erzählt es weiter!“ Das war die Botschaft der Holocaust-Überlebenden Suzanna Rabinovici. *3) 

Marga Griesbach wurde mit ihrer Mutter Therese, ihrem Vater Max und ihrem jüngeren Bruder Alfred in das Konzentrationslager Stutthof verbracht. Vater und Bruder wurden ermordet. Marga Griesbach und ihre Mutter emigrierten nach dem Krieg in die USA. Marga Griesbach erinnerte sich: 

„Wir fragten uns, ob auch nur ein einziger Jude den Krieg überleben würde. Wir wussten, dass wir versuchen mussten, am Leben zu bleiben, weil jemand dies alles erzählen musste. Wir waren uns darüber einig, dass die Vorstellungskraft der Menschen, die dies nicht selbst erlebten, einfach nicht ausreichen würde, um diese Geschehnisse und die unvorstellbaren Verbrechen zu begreifen.“ *3)

Die Holocaust-Überlebenden Suzanna Rabinovici und Marga Griesbach verpflichten uns, diese deutsche Schuld niemals zu vergessen und den Appell „Vergesst uns nicht, erzählt es weiter!“ zu beherzigen. 

Unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnt vor einer “Routine der Erinnerung“, die uns glauben lassen könnte, unsere Schuld an dem Mord von mehr als sechs Millionen jüdischen Menschen vergehe mit der Zeit: „Aber die Zeit ändert nichts daran, was geschehen ist. Die historische Wahrheit lässt sich eben nicht wegpacken! Wir müssen uns dieser Wahrheit immer wieder von Neuem stellen. Und wir dürfen nicht darin nachlassen, sie den Nachkommenden weiterzuerzählen.“ *4)

Wir Deutschen danken unserem Staatsoberhaupt, dass er den Wunsch weniger Überlebender — genannt seien hier nur Suzanna Rabinovici und Marga Griesbach — so wirkmächtig aufgegriffen hat. 

3. Erinnerung an die Zeitzeugin Bella.

Im 80. Jahr nach dem Holocaust möchte ich diesem Appell durch eigenen Bericht folgen.

Im Juli/August 1964 arbeitete ich für einige Wochen in einem Hotel in Båstad/Schweden. In der schönen Stadt fanden im Rahmen des 53. Davis Cup Tennis Turniers 1964 wichtige Spiele statt, in denen das schwedische Team eine herausragende Rolle spielte. *5) 

Meine Aufgabe in der Hotel-Schichtarbeit war, die Spülmaschine für das Geschirr zu bedienen, das Geschirr und die Gläser sorgfältig abzutrocknen. Besonders schwierig war es, die Trinkgläser einwandfrei zu säubern; gegen das Licht gehalten, durfte sich kein Fingerabdruck, keine Unsauberkeit, keine Lippenstiftspur im Glas finden.

Ich gehörte zu etwa 15 Mitarbeitern, die meisten waren Zimmermädchen, die von der Housekeeping Managerin, Bella genannt, geleitet wurden. Bella war eine hochgewachsene, schlanke Dame von etwa 45 – 50 Jahren, die ebenso hilfsbereit wie gründlich ihre stressvolle Verantwortung wahrnahm. Sie sprach gut deutsch und hatte erwähnt, dass sie aus Ungarn stammte. 

Bella wäre eine gutaussehende Frau gewesen, jedoch war ihre linke Gesichtshälfte stark verstümmelt. Ein Unfall? Bella war auch mir gegenüber stets freundlich und hilfsbereit, gerade in den hektischen Arbeitsphasen, wenn das Geschirr hereinkam. 

In den Mittagspausen half ich Bellas 16-jähriger Tochter bei ihren Hausaufgaben, vor allem im Fach Deutsch. Wie es so zugeht im Leben, sah Bella eines Tages Anlass, mich beiseite zu nehmen und mich gütig, aber bestimmt zu Grenzen im Umgang mit ihrer Tochter zu ermahnen. Ich versicherte Bella, dass ich schon aus Hochachtung vor ihr, ihre Sorge strikt beachten würde. Bella wollte wohl ihrer Ermahnung mehr Nachdruck verleihen. Sie schob ihren linken Ärmel hoch und zeigte mir auf der Innenseite ihres Armes die mit A beginnende tätowierte Nummer und sagte nur: Auschwitz. Bellas zerschlagenes Gesicht war nicht durch Unfall verursacht, sondern sicher Ergebnis deutscher Brutalität. Nie habe ich diesen Vorfall vergessen.

Bei späteren kurzen Aufenthalten in Båstad habe ich Bella noch einige Male gesehen und kurz mit ihr gesprochen. Zuletzt 1983 bei einer längeren Reise. Ihr Berufsleben war damals beendet. Mein letztes Gespräch mit ihr hat mich erschüttert. 

Was sie als junge Frau durch Deutsche erlitten haben musste, hatte ihr Gemüt verdüstert. Mein Versuch, Bella beim Wiedersehen herzlich zu begrüßen, stieß auf mechanisch-gehorsam wirkende Sätze, ihr Blick wirkte wie erloschen. 

Als vereinsamten, gebrochenen Menschen habe ich Bella zuletzt gesehen. Eine Überlebende von Auschwitz, die nach Jahrzehnten eines harten, mit größtem Verantwortungsgefühl und Fleiß bewältigten Arbeitslebens eingeholt wurde von den körperlichen und seelischen Verletzungen, die ihr die deutschen Verbrecher zugefügt hatten. 

4. Bundespräsident Steinmeier: Neue Formen des Erinnerns finden!

Unser Staatsoberhaupt hat in seiner Rede *4) zwei Gedanken entwickelt, die für die Zukunft des Erinnerns an das Menschheitsverbrechen des Holocaust entscheidend sind.

  1. Da „wir immer weniger die Gelegenheit haben, den Zeitzeugen zuzuhören, werden (wir) besonders für die jungen Menschen neue Formen des Erinnerns finden müssen. Formen, die zunächst einmal das Wissenwollen in den Vordergrund rücken. Formen, die deutlich machen, dass wir alle — nicht nur die Jungen — immer noch Suchende, Lernende sind. Es ist eine Aufgabe unserer Generation, überall in Europa gegen das Vergessen zu arbeiten. Eine Aufgabe, bei der wir nicht scheitern dürfen.“
  2. „Deshalb bin ich gerade in diesen Zeiten den Menschen, die in deutschen Gedenkstätten forschen, lehren und arbeiten, so dankbar für ihr Engagement. Dass die Gedenkstätten heute aus politischen Gründen angegriffen und geschändet werden, dass Mitarbeiter beleidigt und bedroht werden, muss uns alarmieren! Diese systematischen Angriffe zielen ab auf Einschüchterung, auf Zerstörung und am Ende auf die Diskreditierung der Erinnerung und die Umschreibung der Geschichte. Wenn Gedenkstätten statt für Bildungsarbeit einen immer höheren Anteil ihres Etats für Sicherheitsmaßnahmen ausgeben müssen, dann ist das eine Schande. Das dürfen wir nicht hinnehmen in diesem Land!“

Alle Menschen in Deutschland und unser Staat müssen beitragen, dass diese beiden Aufgaben gelingen, die Bundespräsident Steinmeier in seiner großen Rede hervorgehoben hat. Denn sollten unsere Gesellschaft und unser Staat an diesen beiden Aufgaben scheitern — „neue Formen des Erinnerns finden“ und entschiedener Kampf gegen „die Diskreditierung der Erinnerung und die Umschreibung der Geschichte“ — , „dann erschüttern wir damit auch das Fundament, auf dem unsere Demokratie gewachsen ist.“ *4)

*1) Götz Aly. Warum die Deutschen? Warum die Juden. Gleichheit, Neid und Rassenhass. 1800 — 1933. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011

 *2) Götz Aly: Hitlers Volksstaat – Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Von Hermann Theißen. 11.04.2005; https://www.deutschlandfunk.de/goetz-aly-hitlers-volksstaat-raub-rassenkrieg-und-100.html. S. 164 ff. 

*3) Prozess gegen SS-Wachmann. „Vergesst uns nicht, erzählt es weiter!“ Der Stutthof-Prozess könnte das letzte Verfahren gegen einen KZ-Wachmann sein. Was das für die Überlebenden heißt, begründen ihre Anwälte. Wir dokumentieren ihr Plädoyer. 17. Juli 2020; https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/prozess-ss-wachmann-plaedoyer-nebenklagevertreter-konzentrationslager-nationalsozialismus/komplettansicht.

*4) Bundespräsident Steinmeier. Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. REDE. Berlin, 29. Januar 2025 (Hervorhebungen rs).

*5) Siehe: 1964 Davis Cup; https://en.wikipedia.org/wiki/1964_Davis_Cup.