Politik, Religion, Gewalt.

Die Bundeszentrale für politische Bildung informiert uns heute in ihrer Europäischen Presseschau: „Die Unruhen in mehreren muslimisch geprägten Ländern nach einem Anti-Islam-Film aus den USA dauern an …

Einige Kommentatoren halten die Differenzen zwischen dem Westen und der islamischen Welt für unüberbrückbar. Für andere sind die Proteste eine Fortsetzung des Arabischen Frühlings“ (eurotopics, 17.09.2012).

Dankenswert zeigt BILD uns Laien unsere illusionären Erwartungen zum Arabischen Frühling – oder sagen wir es ruhig deutlich: unsere Dummheit – durch Interviews mit zwei Persönlichkeiten; sie repräsentieren die beiden  Kommentar-Linien, die eurotopics unterscheidet.

Beginnen wir mit Peter Scholl-Latour, der den Arabischen Frühling als Ausgangspunkt sieht. „Wir haben Demokratie erhofft – und Chaos gesät … Der größte Irrtum des Westens war es, nach dem Sturz arabischer Despoten plötzlich westliche Demokratien mit Menschenrechten und Meinungsfreiheit in diesen Ländern zu erwarten.“

Herr Scholl-Latour ist sicher kein Anhänger Gaddafis, Mubaraks, Assads. Aber „Gaddafi … war ein Feind der Islamisten. Und Ägyptens Präsident Mubarak war zwar gläubiger Moslem, ließ aber auch zu, dass … das Land für westlichen Tourismus attraktiv wurde. In Syrien hat Assad die Rechte der christlichen Minderheit garantiert. All diese Gewissheiten haben sich nun erledigt!“

Drei Ankerketten sind also gerissen. Nun treibt diese europäische Nachbarschaft in Gewalt und Chaos, „wovor ich schon seit Monaten gewarnt habe … Dieser sogenannte „arabische Frühling“ hat den Nahen Osten, der ohnehin einem Pulverfass gleicht, komplett destabilisiert: Keiner der neuen Herrscher kann noch gegen die Macht der Straße, also gegen die Macht der Prediger, des Islam regieren … Das Ergebnis ist, dass wir in dieser hochexplosiven Region, in den arabischen Ländern keinen einzigen verlässlichen Partner mehr haben.“

Henry Kissinger, über dessen Sichtweise uns BILD heute informiert, sagt ausdrücklich nicht, dass Islam und Demokratie unvereinbar seien. „Aber wenn Staat und Religion nicht zu einem gewissen Teil getrennt sind, wenn man darauf besteht, dass Staat und Religion identisch sind, dann ist es fast unmöglich, dass sich andere Meinungen entfalten können. Es ist doch eine absurde Situation, dass ein kleines Video, das in Amerika niemand kannte, von dem die US-Regierung nichts wusste, zu solchen Gewaltausbrüchen führt!“

Henry Kissingers Analyse trifft den Kern des politischen Problems: „Es ist so gut wie unmöglich, dass aus politischen Parteien, die das Scharia-Recht verteidigen, demokratische Parteien werden. Das ist das Dilemma, das wir im Moment haben, da sollten wir uns nichts vormachen … (wir) leben nicht unbedingt in der gleichen Wertegemeinschaft.“

Diese Feststellung Herrn Kissingers macht es zumindest ungewiss, ob bzw. wann sich Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie in derzeit von anti-westlicher Gewalt heimgesuchten muslimisch geprägten Ländern durchsetzen.

Nun – wie könnten sich die Enthusiasten des Arabischen Frühlings, an deren Seite ich stehe, ein wenig entlasten vom Bild törichter Träumer?

Zunächst: Geben wir nichts auf die Bedenkenträger, die bei jeder Perspektive zum Besseren habituell säuerliche Skepsis ausdrücken. Hüten wir uns auch, Herrn Kissinger und Herrn Scholl-Latour Weisheit im Nachhinein zu unterstellen. Es ist wahr, beide haben früh begründete Warnungen geäußert. Henry Kissinger hat schon 1990 nach der militärischen Annexion Kuwaits durch den Irak geurteilt: „Die allgemeine Lage im Nahen Osten wird immer prekärer … Die gesamte Region ist jetzt polarisiert wie nie zuvor, und der Radikalismus befindet sich auf dem Vormarsch.“

Saddam Hussein hatte seine Aggression mit dem Thema Palästina, Israel und dem Klischee imperialistischer Gier des Westens nach Öl verknüpft. Dies konnte – so analysierte Kissinger – „das bereits angeschlagene Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage auf den Ölmärkten der Welt zerstören, die Ölpreise hochtreiben, Arbeitslosigkeit und Inflation verursachen sowie … den internationalen Zusammenhalt zu unterminieren drohen.“ (Henry A.Kissinger, Die sechs Säulen der Weltordnung, Berlin 1992, S. 192).

Dass diese oder ähnliche Szenarien der Bedrohung aus dem Nahen Osten an Relevanz verloren hätten, darf man nicht glauben. Im März 2012 warnte Frank-Walter Steinmeier in einer Rede: „Im Nahen und Mittleren Osten ziehen wieder dunkle Wolken auf. Die Euphorie über den arabischen Frühling weicht wachsender Ernüchterung, der Nahost-Friedensprozess tritt bestenfalls auf der Stelle, Syrien steht am Abgrund, der Atomstreit mit dem Iran eskaliert täglich weiter! … Vor wenigen Tagen habe ich den griechisch-katholischen Patriarchen von Damaskus getroffen, einer von etwa 2 Millionen Christen in Syrien, … (er) reist durch die europäischen Hauptstädte und wirbt um Verständnis dafür, dass in dieser Region Schwarz und Weiß nicht so einfach auseinander zu halten sind, dass im Nahen und Mittleren Osten ethnische, religiöse und nationale Unterschiede ein Geflecht bilden, das für Außenstehende kaum zu entwirren ist.“ (www.deutscher-koordinierungsrat.de/Laudatio von Dr. Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an den EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider am 11. März 2012 in Leipzig).

Und Herr Steinmeier forderte „Aufklärung und Differenzierung mit Blick auf die Ereignisse in der Region.“ Eine Forderung, die alle zuständigen Bildungseinrichtungen – von den Kirchen bis zu den politischen Stiftungen – übrigens seit längerem umsetzen.

Diese Aufklärung fange „mit ganz einfachen Basics an: Wer erklärt den Menschen in Deutschland, was der Unterschied zwischen Sunna und Schia ist? Warum der Iran und Saudi-Arabien einander in abgrundtiefer Feindschaft verbunden sind? Warum so viele aus der arabischen Welt ihre Finger im syrischen Spiel haben. Warum sich saudische Wahabiten und ägyptische Muslimbrüder nicht grün sind? Solange wir uns nicht um die tieferen Gründe der arabisch-muslimischen Zerrissenheit kümmern, nicht um die Loyalitäten, Bündnisse und Koalitionen hinter den Kulissen – solange werden wir kaum einordnen können, was in Europas unmittelbarer Nachbarschaft gerade passiert. Und unsicher bleiben, auf welcher der vielen Seiten wir stehen!“

Wem diese Worte Herrn Steinmeiers nicht helfen, mit seiner Dummheit oder seinen Fehlurteilen zu Nahost locker umzugehen, der mag zum letzten Mittel greifen und Schuld zuweisen. Den Deutschlehrern und vor allem Friedrich von Schiller: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und wär` er in Ketten geboren. Lasst Euch nicht irren des Pöbels Geschrei, nicht den Missbrauch rasender Toren. Vor dem Sklaven, wenn er die Ketten bricht, vor dem freien Menschen erzittert nicht!“

In diesem Sinne sagt die angesehene Nahostexpertin Professor Dr. Gudrun Harrer zu den Ausschreitungen gegen den Westen und ihrer Video-Ursache: „Freiheit der Dummheit … Politisches Kalkül und religiöse Umnachtung halten sich die Waage … Nicht zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt ist der Populist Mohammed Morsi zerrissen zwischen seiner Klientel und der politischen Realität.“ (DER STANDARD, 15.9.2012).

Und Professor Harrer stellt die bisher noch offene Frage: „Ist es nun wirklich genuiner religiöser Furor, der diese Menschen auf die Straßen treibt, oder sind sie Marionetten in der Hand von politischen Manipulatoren? Befragt, antworten sie ja alle das Gleiche, von Marokko bis in den Jemen: Sie protestieren für ihren Propheten.“ (DER STANDARD, 17.9.2012)

Das „cui bono“-Motiv könnte auf die religiös extrem konservativen Salafisten als Drahtzieher und Vollstrecker außenpolitisch motivierter Finanziers weisen. Professor Harrer zu diesem Verdacht: „Dennoch sind auch nicht alle Demonstranten Salafisten, wie auch nicht alle Salafisten demonstrieren gehen: Nicht alle Ultrareligiösen haben ihren politischen Quietismus, der mit Respekt für die jeweilige Obrigkeit verbunden ist, aufgegeben. Und es sind auch nicht ausschließlich Revolutionsverlierer am Werk wie die Fußball-Ultras in Ägypten, deren kritischer Beitrag zum Umsturz nie gewürdigt wurde und die nun ihre Wut ablassen. Säkulare und Liberale, ebenfalls Verlierer im politischen Prozess, stehen völlig abseits. Übrigens fehlt auch in Syrien das Verständnis für die Proteste, obwohl der Aufstand dort ja teilweise religiös geprägt ist: „Idioten in Kairo! Wo seid ihr, wenn sich Assad-Truppen in Syrien in Moscheen entleeren und sie niederbrennen?“, lautet ein Tweet.“ (a.a.O., 17.9.2012)

Professor Harrer (a.a.O., 17.9.2012) urteilt, dass der Arabische Frühling fälschlich so interpretiert wurde: „Die Zeit der Fixierung der Region auf konstruierte äußere Konflikte sei vorbei, die Probleme würden als innere erkannt, benannt und bearbeitet werden.“ Jedoch waren „die alten Regime ja doch auch deswegen verhasst und delegitimiert, weil sie als Marionetten einer imperialistischen Politik galten. Die Ressentiments wurden nicht geheilt, es sind sogar noch neue hinzugekommen: die der Säkularen und Liberalen, die die USA beschuldigen, nun mit den Islamisten“ heimlich zu paktieren.

Trotz der chaotisch und destruktiv erscheinenden Realität im Nahen Osten, trotz der Analysen mit eher pessimistischen Prognosen – wünschen nicht doch viele Menschen dort Arbeit, Freiheit, Gerechtigkeit und eine politische Praxis, die korruptionsfreie, bürgernahe Regierung, öffentliche Rechenschaft der Amtsinhaber und demokratische Teilhabe der Menschen ermöglicht?