Politikelite vs Wähler.

Versuche, den Wähler politisch zu enteignen, setzen sich leider fort. Der Blogbeitrag „Demokratieabbau — nach der Wahl!“ *1) hatte den scheinbar bereits gefassten All-Parteien-Entschluss thematisiert, die Wahlperiode für den Bundestag von vier auf fünf Jahre zu strecken. Weniger wählen heißt aber weniger Demokratie. Nun soll das Recht des Wählers auf Information durch zeitnahe Meinungsumfragen vor dem Wahltag eingeschränkt werden.

Der scheidende Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat diese Versuche politischer Enteignung mit dem öffentlichen Gewicht und Ansehen seines Amtes unterstützt. *2) Sicher hat Lammert solche Initiativen noch mit den Fraktionen des 18. (vorigen) Deutschen Bundestages abgestimmt. Dies mag erklären, dass es bisher keinen Protest der Medien oder der parteinahen Politischen Stiftungen gegeben hat, die für Demokratieförderung vom Steuerzahler finanziert werden.

Einer der einflussreichsten Politiker der CDU/CSU-Union, Manfred Weber, will nun den Informationsstand der Wähler vor Wahlentscheidungen einschränken: durch „verbindliche Regeln“, dass Umfragen in den „zwei Wochen vor einer Wahl“ nicht mehr veröffentlicht werden dürfen. *3)

Manfred Weber ist stellvertretender CSU-Vorsitzender und Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei, der EU-weiten Parteifamilie der CDU/CSU, im EU-Parlament. Derzeit ist er Mitglied im Sondierungsteam der CSU für die Gespräche mit FDP und Grünen, von denen eine schwarz-gelb-grüne „Jamaika-Koalition“ unter Bundeskanzlerin Merkel (CDU) erwartet wird.

Wegen dieser Machtposition Webers verdient sein Vorstoß gegen die Informationsfreiheit vor Wahlen, dem gern beschworenen „Fest der Demokratie“, besondere Wachsamkeit engagierter Demokraten.

Weber begründet seinen Vorschlag „verbindlicher Regeln“ gegen die Veröffentlichung von Umfragen in den „zwei Wochen vor einer Wahl“ mit zwei Behauptungen:

1. Weber behauptet, dass „Umfrageergebnisse immer weniger Aussagekraft haben“. *3) Dabei führt er das Brexit-Referendum an. Dies erscheint bei einem Vorstoß von solcher Tragweite für den deutschen Wähler besonders unlogisch. Denn regelmäßige Wahlen sind aus der Sicht von Umfrage-Instituten bezüglich der Qualität von Datenlage und Analysen sicher nicht mit einmaligen Referenden vergleichbar.

2. Weber behauptet weiter: „Umfragen sorgen dafür, dass taktisches Wahlverhalten zunimmt und es nicht in erster Linie um die Entscheidung geht, welche Partei das für den jeweiligen Wähler beste Programm und die besten Personen anbietet. Ein Stück weit manipulieren Umfragen die Wahlentscheidung.“ *3) Damit scheint er sich auf Bundestagspräsident Lammert zu stützen. Der hatte schon vor der Bundestagswahl vom 22. 09. 2013 „Umfragen in letzter Minute“ als „unzulässige Wählermanipulation … heftig kritisiert“ *4) und *2)

Beide Behauptungen sollen hier untersucht werden.

1. Umfrageergebnisse haben immer weniger Aussagekraft (M. Weber)

Weber hat seine Forderung, Umfragen in den zwei Wochen vor Wahlen nicht mehr zu publizieren, wohl im Kontext überraschend hoher Verluste der CSU (minus 10,5 Prozent) bei der Bundestagswahl 2017 erhoben. Daher soll hier seine Kritik anhand von Umfragen zur Bundestagswahl 2017 überprüft werden.

Die maßgeblichen und am längsten bewährten Umfrage-Institute sind (in alphabetischer Reihenfolge): Allensbach (Institut für Demoskopie), Emnid, Forsa, Forschungsgruppe Wahlen, Infratest dimap.

Ihre Umfrageergebnisse zur Bundestagswahl 2017 können vereinfacht und zusammenfassend wie folgt beurteilt werden: *5)

  • Das CDU/CSU Wahlergebnis ist um 3 bis 4 Prozentpunkte erheblich schlechter ausgefallen, als es in den letzten veröffentlichten Umfragen vorhergesagt wurde.
  • Die Wahlergebnisse für die übrigen Parteien — SPD, GRÜNE, FDP, LINKE, AfD — wurden angemessen zutreffend und plausibel vorhergesagt.
  • Nimmt man als Endphase des Wahlkampfes den Zeitraum ab Juli/August 2017, wurde auch die Tendenz der Stimmungsbilder für die Parteien im Wesentlichen richtig wiedergegeben: Vor allem bei CDU/CSU (abwärts), SPD (abwärts), FDP (aufwärts) und AfD (aufwärts). Bei den GRÜNEN und der LINKEN fehlte eine eindeutig erkennbare Auf- oder Abwärts-Tendenz.

Wähler, die Umfrage-Daten vor den Wahlen regelmäßig zur Kenntnis genommen haben, dürften also die Leistung der Institute eher anerkennen als mit Manfred Weber abwerten. Gerade auch weil die Aufgabe der Umfrage-Institute — in einer Phase der Polarisierung z.B. durch die Migrationskrise — ungewöhnlich schwierig war und dennoch mit angemessener Aussagekraft bewältigt wurde.

So hat das Umfrage-Institut Infratest dimap selbst erklärt, warum die Umfrageergebnisse zwar ein Stimmungsbild wiedergeben, aber „Rückschlüsse auf den Wahlausgang nur bedingt“ ermöglichen: „Nicht nur legen sich immer mehr Wähler kurzfristiger vor einer Wahl fest, auch hat die Bedeutung der letzten Wahlkampfphase mit der gezielten Ansprache von unentschlossenen und taktischen Wählern durch die Parteien zugenommen„. *6)

Diese empirische Feststellung zunehmend später Wahlentscheidungen und abnehmender Parteibindung drängt die Frage auf, ob der Wähler durch die Umfragen kurz vor der Wahl oder eher durch die Propaganda-Methoden der Parteien in der Schlussphase „manipuliert“ wird. Welche Aufgabe hat denn eine Wahlkampagne von Parteien, wenn nicht die, den Wähler zu „manipulieren“, zu beeinflussen oder zu überzeugen, wie man es nimmt … ?

Manfred Webers Behauptung, dass „Umfrageergebnisse immer weniger Aussagekraft haben“ *2), erscheint jedenfalls fragwürdig. Vor allem deshalb, weil die Umfrage-Daten der spezialisierten Institute die Tendenzen und Trends im Zeitablauf der Stimmungsbilder recht zutreffend vermitteln konnten.

Das ist sicher der Grund, warum diese Umfragen von den Parteien (und auch indirekt vom Steuerzahler!) bezahlt und für ihre Wahlkampagnen genutzt werden, und dies ganz gewiss bis zum Wahltag! Nicht wenigen Wählerinnen und Wählern mag somit der Vorstoß Webers etwas perfide vorkommen, dass er ausgerechnet den steuerzahlenden Bürgern den Zugang zu Umfrage-Daten vor den Wahlen beschneiden will.

2. Umfragen manipulieren die Wahlentscheidung (M. Weber, N. Lammert).

Die Behauptung der Wahlmanipulation durch Umfragen zielt letztlich auf Diffamierung „taktischen Wahlverhaltens“, weil es dabei, so Weber, „nicht in erster Linie um die Entscheidung geht, welche Partei das für den jeweiligen Wähler beste Programm und die besten Personen anbietet.“ *3)

Gegen „taktisches Wahlverhalten“ nimmt Weber für sich in Anspruch: „Meine Forderung hat keine parteitaktischen Motive. Es geht mir um die Frage, wie wir Wahlen als zentralen Akt der politischen Teilhabe ansehen. Wenn Umfrageergebnisse immer weniger Aussagekraft haben, dann führen sie eher zur Verwirrung als zur Erklärung und dann sollten sie unmittelbar vor der Wahl nicht stattfinden.“ *3)

Weber scheint damit eine partei-zentrierte Position etwas von oben herab gegenüber durch Umfragen angeblich „verwirrte“ Wähler einzunehmen. Dies mag als patronisierend gewertet werden, so als ob nur die Parteien am besten wüssten, „welche Partei das für den jeweiligen Wähler beste Programm und die besten Personen anbietet.“ *3)

Der Verdacht entsteht, dass es Weber um eine restriktive Regelung für Vor-Wahl-Fristen der Veröffentlichung von Umfragen geht, die sich an Parteiinteressen, nicht aber am Informationsbedarf der Wählerschaft orientiert.

Mit dieser Position verkennt oder missachtet Weber solche Wähler, denen es weniger um Parteiprogramme oder Politiker-Personen geht, sondern mehr um die Frage nach der Regierungspolitik der kommenden Wahlperiode. Und das ist bei der wachsenden Zahl von Wechselwählern, die ihre Wahlentscheidung spät und mit abnehmender Parteibindung treffen, keineswegs eine unbedeutende Minderheit. *6)

Solche Wähler folgen ihren Interessen und werden „ihre Stimme mit Blick auf mögliche Koalitionen abgeben“. Damit „entscheiden (sie) sich durchaus auch strategisch. Das ist ihr volles demokratisches Recht“, betont der Wahlforscher und Politikwissenschaftler Professor Jürgen Falter. *4)

Bei „strategischem Wählen“ mögen liberale Sozialdemokraten z.B. überlegen, wie sie mit ihrer Stimme helfen, eine „Rot-Rot-Grün“-Regierung zu verhindern. Oder wirtschaftsnahe Christdemokraten helfen „strategisch“, die FDP über die 5%-Hürde zu bringen. Oder — wie vielleicht bei der heutigen Landtagswahl in Niedersachsen in einem vermeintlichen Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und SPD — mögen Sympathisanten der GRÜNEN „strategisch“ dem geschätzten SPD-Ministerpräsidenten Stephan Weil zur Mehrheit verholfen haben.

Solche „strategischen Wähler“ brauchen für ihre Wahlentscheidung „gute Informationen, sonst hat man keine Transparenz. Die haben sonst nur die Politiker und Parteien, denn die kriegen ja .. die Umfrageresultate bis zum letzten Tag.“ (Prof. Falter) *4)

Die hier zitierten Analysen des Politikwissenschaftlers Professor Jürgen Falter stehen der Forderung Webers entgegen, Umfragen sollten „unmittelbar vor der Wahl nicht stattfinden“ *2). Denn würde Webers Forderung durch Gesetz verwirklicht, träfe die Warnung Falters zu: Es „entstünde Herrschaftswissen: Nur die großen Parteien, die sich Umfragen leisten können, würden über zeitgenaue Zahlen verfügen. Man würde Wählern, die ihre Stimme strategisch einsetzen, ein wichtiges Instrument aus der Hand schlagen.“ *7)

3. Fazit „strategisch“ denkender Wähler.

Zwei Forderungen nach politischer Enteignung hält derzeit die politische Klasse für die Wählerinnen und Wähler bereit.

Erstens: Verlängerung der Wahlperiode für den Bundestag auf 5 Jahre. Jedoch „weniger wählen bedeutet weniger Demokratie“ (Heribert Prantl) *8)

Zweitens: Bundestagspräsident Norbert Lammert und insbesondere CSU-Vize Manfred Weber, MdEP, fordern „verbindliche Regeln“, damit Umfragen in den „zwei Wochen vor einer Wahl“ nicht mehr veröffentlicht werden dürfen. *2) und *3)

Politiker, Medien oder für die Demokratieförderung zuständige Einrichtungen haben diesen Ansinnen bisher leider nicht widersprochen.

Den Analysen des Wahlforschers und Politikwissenschaftlers Professor Jürgen Falter ist zu verdanken, dass wir Wähler zumindest gegenüber den Folgen des angestrebten Verbots der Veröffentlichung von Umfragen in den „zwei Wochen vor einer Wahl“ wachgerüttelt wurden.

Besonders für „strategische Wähler“ ist es aus Sicht Prof. Falters wichtig, richtige Informationen zu haben. „Wenn allerdings die Entscheidungen in der Wählerschaft erst sehr spät fallen, brauchen sie späte Informationen, denn aufgrund von früheren Informationen, die zehn Tage oder acht Tage alt sind, hätten sie eine falsche Basis und würden falsche strategische Entscheidungen treffen.“ *2)

Umfragen kurz vor Wahlen sind daher keine unzulässige Wählermanipulation, sondern notwendig, um richtige strategische Wahlentscheidungen zu ermöglichen. Diese Wählerinformation zu unterbinden, führt zu „Herrschaftswissen (der) großen Parteien … Wählern, die ihre Stimme strategisch einsetzen, (würde) ein wichtiges Instrument aus der Hand (ge)schlagen.“ (J. Falter) *7).

Angesichts dieser Befunde Prof. Falters erwarten Bürger von den Parteiführungen eine dementierende Reaktion auf die Forderungen Lammerts und Webers.

Bleibt ein klares Dementi der Parteien aus, wird das Vertrauen der Bürger in die politischen Repräsentanten beschädigt. Zunehmend wird sich dann bei den Wählerinnen und Wählern der Eindruck verfestigen, einer abgeschotteten, allein auf die Wahrung eigener Interessen bedachten politischen Klasse ausgeliefert zu sein.

*1) Demokratieabbau — nach der Wahl! AM 14. SEPTEMBER 2017; http://reinholdsohns.de/blog/619-demokratieabbau-nach-der-wahl.

*2) AKTUELL-ARCHIV DES FRÜHEREN DRADIO.DE-AUFTRITTS / ARCHIV / Beitrag vom 20.09.2013. Debatte über Umfragen kurz vor der Wahl. Bundestagspräsident Norbert Lammert hat sich gegen die Veröffentlichung neuer Umfragen wenige Tage vor der Bundestagswahl ausgesprochen. Die Ergebnisse der Umfragen könnten mit Wahlergebnissen verwechselt werden. Der Parteienforscher Jürgen Falter sprach sich dagegen für späte Informationen über das Meinungsbild aus.

http://www.deutschlandradio.de/debatte-ueber-umfragen-kurz-vor-der-wahl.331.de.html?dram:article_id=262457. (Hervorhebung RS)

*3) Donnerstag, 12. Oktober 2017. Interview mit Manfred Weber. „Umfragen können Wahlen beeinflussen“; http://www.n-tv.de/politik/Umfragen-koennen-Wahlen-beeinflussen-article20079913.html. (Hervorhebung RS). Weber beruft sich für sein Projekt, ab zwei Wochen vor Wahlen keine Veröffentlichung von Umfragen mehr zu gestatten, auf Länder wie Frankreich, Italien, Spanien. Dieser selektive Hinweis ist besonders unglaubwürdig: In traditionell gefestigten freiheitliche Demokratien wie in Großbritannien, den USA, den Niederlanden, Dänemark oder Schweden würde wohl niemand wagen, einem derartigen Vorschlag aus Deutschland zu folgen. Diese Länder und nicht wenige andere Demokratien beschränken die Wählerinformation durch Umfragen vor Wahlen nicht!

*4) „Meinungsforscher machen gar keine Politik“. Wahlforscher befürwortet Veröffentlichung von Umfrageergebnissen kurz vor der Wahl. Die Bekanntgabe von Umfrageergebnissen kurz vor der Wahl ist richtig, sagt der Parteienforscher und Politikwissenschaftler Jürgen Falter. Viele Wähler würden strategisch wählen und dafür bräuchten sie alle Informationen. Die Veröffentlichung könnte sogar einen positiven Effekt auf die Wahlbeteiligung haben. Jürgen Falter im Gespräch mit Reinhard Bieck; 20.09.2013; http://www.deutschlandfunk.de/meinungsforscher-machen-gar-keine-politik.694.de.html?dram:article_id=262342. (Hervorhebung RS).

*5) Wahlumfragen zur Bundestagswahl 2017 – Sonntagsfrage …

http://www.wahlrecht.de/umfragen/index.htm; oben für Allensbach (Institut für Demoskopie), Emnid, Forsa, Forschungsgruppe Wahlen, Infratest dimap berücksichtigt (RS).

*6) Rückblick: Umfragen. Umfrage zur Bundestagswahl. Landeszentrale für politische Bildung Baden Württemberg; http://www.bundestagswahl-bw.de/prognosen_btwahl2017.html.

„Nach einer Umfrage der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen vom 15. September 2017 (am 24.09.2017 fand die Bundestagswahl statt, RS) für das ZDF-Politbarometer sagten 39 Prozent aller Befragten, dass sie noch nicht sicher sind, ob es bei ihrer geäußerten Wahlteilnahme oder Wahlabsicht bleiben wird. Lediglich 29 Prozent aller Befragten gaben an, dass für sie nur eine einzige Partei in Frage kommt, 71 Prozent können sich vorstellen, außer der genannten Partei auch noch mindestens eine andere Partei zu wählen.“

„In den letzten Jahren hat die Bedeutung der Parteibindungen jedoch abgenommen, es gibt mehr Wechselwähler/-innen als vorher – das erschwert Prognosen.“

(Hervorhebungen RS).

*7) 28.03.2017, aktualisiert: 06.04.2017. SAARBRÜCKEN. Versagten die Meinungsforscher? Es ist eine Kunst, Wahlergebnisse vorherzusagen. Das hat auch die Saarland-Wahl wieder gezeigt. Ein Gespräch darüber mit dem Politikwissenschaftler Jürgen Falter; http://m.mainpost.de/ueberregional/politik/zeitgeschehen/Versagten-die-Meinungsforscher;art16698,9547886

*8) Politik. 29. Dezember 2013. Mögliche Verlängerung der Legislaturperiode. Wahltage sind Festtage. Die große Koalition möchte die Wahlperiode des Bundestags von vier auf fünf Jahre verlängern. Doch weniger wählen bedeutet weniger Demokratie. Der Plan von Union und SPD wäre nur unter einer Bedingung akzeptabel – wenn die Beteiligung der Bürger an anderer Stelle gestärkt wird. Ein Kommentar von Heribert Prantl; www.sueddeutsche.de.