Präsident Macron: Zukunft der EU.

Mit dem größten Respekt vor der Urteilskraft des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron wird versucht, dessen Analysen und Vorschläge zur Zukunft der Europäischen Union (EU) zu referieren.

Eine kritische Stellungnahme wird ausdrücklich nicht versucht. Warum nur ein Referieren der europapolitischen Beiträge Macrons ohne kritische Auseinandersetzung?

Die folgenden Gründe sind für die selbst auferlegte Beschränkung dieses Blog-Beitrags maßgebend:

  • Weil wir deutschen EU-Bürger von unserer politischen Führung nicht gleichrangig informiert werden: Von unseren Spitzenpolitikern kommen nur wenige europapolitische Ideen, die dem Vergleich mit Präsident Macrons umfassend und offensiv vorgetragenen Vorschlägen zur Zukunft Europas standhalten.
  • Weil die absehbaren Wechsel in der politischen Führung unseres Landes einen mit Macrons Initiativen vergleichbar orientierenden europapolitischen Kurs nicht erkennen lassen.
  • Weil Präsident Macrons europäische Denkanstöße und Vorschläge eine längerfristige Diskussion über die Zukunft der EU bewirken werden; da erscheint die Gefahr vorschneller Kritik sehr groß.
  • Weil schließlich für die Zukunft der EU von den derzeitigen Führungen der USA und Großbritanniens weder politische noch geistige Impulse zu erwarten sind.
  • Somit mag vielen überzeugten EU-Bürgern nur die Hoffnung auf die europapolitische Führungskraft des Staatspräsidenten Macron bleiben, die zudem in Frankreich, dortigen Umfragen zufolge, von den National-Populisten sehr bedrohlich herausgefordert wird.

Präsident Macrons Analysen und Vorschläge zur EU werden im folgenden Rahmen vereinfacht und in gebotener Kürze referiert:

  1. Die EU am Rande des Abgrunds.
  2. Strategische Agenda europäischer Souveränität.
  3. Sechs Schlüsselreformen für die Souveränität der EU.
  4. Macrons Ambition für Europa.
  5. Präsident Macron: glücklicher europäischer Sisyphos?

1. Die EU am Rande des Abgrunds.

Präsident Macron hatte im Gespräch mit “The Economist“ *2) die These vertreten, dass die EU sich am Rande eines Abgrunds befinde. Eine Reihe von Entwicklungen bedrohten die EU: unkontrollierbare Konflikte in den grenznahen Nachbarschaftsräumen, zunehmende innere Fragilität und Spaltung mit der Folge weltpolitischer Irrelevanz.

Macron widerspricht dem Verdacht zu dramatisieren durch eine Kette von Argumenten:

Erstens, Verlust der geschichtlichen EU-Mission: Nach den beiden Weltkriegen hatte die “Klarsicht der Gründerväter“ des politischen Projekts Europa mit dem “Versprechen auf Frieden, Wohlstand und Freiheit“ als gemeinschaftliche “Idee über die Ruinen triumphiert“.*1) Die EU habe jedoch seit den 1990er Jahren diese geschichtliche Mission vergessen und damit die Tragweite des europäischen politischen Projekts reduziert. Heute scheine die EU statt einer “Gemeinschaft“ auf die Rolle eines Gemeinsamen Marktes mit dem Zweck geschrumpft, diesen Markt möglichst zu erweitern.

Zweitens, strategische Abkehr der USA von Europa: Die USA hatten schon mit dem Marshall Plan von 1948 die Aufgabe der Garantiemacht für Westeuropa übernommen. Amerika garantierte für die Sicherheit und die Werte des demokratischen Westens durch die NATO und förderte die Einigung Europas bis zur Europäischen Union (EU). Diese Haltung der USA zur EU habe sich schon unter Präsident Obama und verstärkt unter Präsident Trump gewandelt. Sagte Obama noch “I am a Pacific president”, so gipfelte in Trumps Satz “America First“ die Abkehr der USA von den Interessen der EU. Beide US-Präsidenten hatten zur Besorgnis vieler Europäer gegenüber den für die EU bedrohlichen Konflikten im Mittleren Osten klargestellt: “This is no longer my neighbourhood policy” (Obama) und “It’s your neighbourhood, not mine” (Trump). *2)

Drittens, EU geschwächt durch Drittmächte: Der Aufstieg Chinas zu einer neuen Weltmacht berge die Gefahr, dass die EU in einer bi-polaren Welt zwischen den “United States/China ´G2`“ marginalisiert würde. Auch die Machtpolitik autoritär geführter Staaten — Russländische Föderation, Türkei, Ägypten — bewirke zunehmenden Verlust der EU an Einfluss in ihren konfliktgeladenen Nachbarschaftsräumen. *2) Die EU-Nachbarschaftspolitik erweise sich zunehmend als geschwächt — in der Ukraine und den weiteren östlich gelegenen Staaten, in Nordafrika, der Sahel-Region und im Mittleren Osten.

Viertens, sei die EU durch interne Krisen in ihrer politischen Handlungsfähigkeit geschwächt: Im Stabilitäts- und Wachstumspakt und der auf Austerität, Haushaltskontrolle und die Schuldenbremse gerichteten Politik, die vor allem von Deutschland gefordert wird, sieht Macron offenbar einen “historischen Fehler“. Dieser Fehler habe zu einer Nord-Süd-Spaltung der EU geführt. Zugleich habe die deutsche Migrationspolitik von 2015/2016 die west- und osteuropäischen EU-Länder entzweit. Wirtschaftlich schwächere Länder seien zu Steuererhöhungen gezwungen worden, von denen die Mittelklasse sehr hart belastet worden sei. Dies habe zu einem Autschwung extremer national-populistischer Kräfte geführt. In der Folge sei die politische Handlungsfähigkeit der EU geschwächt worden. Der Brexit sei das aktuelle Ergebnis dieser Entwicklungen auf “dem Kontinent“.

Langfristig wachse durch diese vier Entwicklungen das Risiko, dass die EU “geopolitisch verschwinde“, zumindest die Kontrolle über ihren Platz und ihre Rolle in der Welt verliere. Diese Sorge unterstreicht Staatspräsident Macron mit dem größten Ernst: „Je le crois très profondément.“ *2)

2. Strategische Agenda europäischer Souveränität.

Vor dem Europäischen Parlament hatte Präsident Macron die Notwendigkeit betont, die “europäische Souveränität“ zu stärken.*3) Diese Forderung bedeute nicht, die nationalen Hoheitsrechte der Mitgliedsländer “zu verwässern“. Vielmehr drängten globale Bedrohungen für die Sicherheit auch der EU-Länder, die Migration, sowie wirtschaftliche, soziale und ökologische Herausforderungen auf ein strategisch angelegtes “Projekt“ europäischer Souveränität.

Dieses Projekt europäischer Souveränität und Erneuerung, so fordert Macron, solle die nationalen Souveränitäten europäisch bündeln, um gegenüber den Umbrüchen unserer Zeit “die drei Säulen des Europäische Modells“ zu verteidigen: *4)

  • Europas Demokratie, seine Freiheit, seine “Zivilisation der Würde“ seien als globales Leitbild zu schützen.
  • Schutz sei notwendig nicht nur für die staatlichen Grenzen, sondern zugleich für die Werte Europas und damit für Europas “Freiheit in Sicherheit“.
  • Europa müsse sich erneuern durch Fortschritt in der Wirtschaft, in der Gesellschaft und im Schutz der Umwelt.

Allein die EU-Länder können diese “tatsächliche Souveränität“ aufbauen. Und dieses politische Projekt diene der “tiefen Identität“ Europas, diesem weltweit einzigartigen “Wertegleichgewicht“ der Freiheit, der Menschenrechte, der Gerechtigkeit. “Das ist die europäische Souveränität, an die ich glaube“, hält Präsident Macron den Gegnern der Souveränität Europas entgegen. Deren als einfache Lösung propagierte “Ideen haben einen Namen: Nationalismus, Identitarismus, Protektionismus und Souveränismus durch Abschottung.“ *1)

Präsident Macron warnt davor, die Gefährlichkeit dieser Ideen zu unterschätzen, „die so oft die Flammen entfacht haben, in denen Europa hätte untergehen können“. Die neuen Nationalisten in Europa „können schon morgen den Sieg erringen. Nicht, weil die Bevölkerung leichtgläubig ist! Nicht, weil die europäische Idee tot ist! Sondern weil wir aus Unachtsamkeit, Schwäche oder Blindheit die Voraussetzungen für ihren Sieg geschaffen haben … Sie belügen die Bevölkerung, aber wir haben es zugelassen, weil wir die Vorstellung verbreitet haben, dass Europa eine ohnmächtige Bürokratie geworden sei. Wir haben überall in Europa erklärt, dass, wenn es Zwänge gab, diese europäisch waren! Als die Ohnmacht an die Tür klopfte, waren es nicht wir, sondern Brüssel! Dabei vergessen wir, dass wir Brüssel sind, immer!“ *1)

Präsident Macrons Plädoyer für das Projekt europäischer Souveränität sei nicht nur notwendig, sondern habe durch den Brexit eine unabweisbare Dringlichkeit bekommen.

  • Der Brexit symbolisiere die Krise Europas, das versagt habe gegenüber dem Bedürfnis seiner Menschen nach Schutz vor den schwerwiegenden Schocks der Umbrüche in der globalen Modernität.
  • Der Brexit symbolisiere die Falle, die unsere Europäische Union zerstören könne: „The trap is in the lie and the irresponsibility that can destroy it.“ Macron fragt: „Who told the British people the truth about their post-Brexit future?“ Dieser nationalistische Rückzug biete den Menschen gar nichts: „It is rejection without an alternative. And this trap threatens the whole of Europe: the anger mongers, backed by fake news, promise anything and everything.“ *4)

Präsident Macron beschwört deshalb die Bürger der Europäischen Union und das Europäische Parlament gegen die gefährlichen nationalistischen Versuchungen „demokratisch eine kritische Debatte über unser Europa zu führen.“ Und mit dieser Debatte den „europäischen öffentlichen Raum zu verwirklichen, den wir allzu oft haben brachliegen lassen.“ *3)

Und diesem “europäischen öffentlichen Raum“ widmet Präsident Macron seine Vorschläge für die strategische Agenda europäischer Souveränität.

3. Sechs Schlüsselreformen für die Souveränität der EU.

Präsident Macron wendet sich entschieden gegen die Vorstellung, die EU auf den Gemeinsamen Markt zu reduzieren. Vielmehr sei sie ein politisches Projekt. Um die EU als souveränen hoheitlichen Raum zu erneuern und zu festigen, schlägt Macron Reformziele auf sechs Feldern einer strategischen Agenda europäischer Souveränität vor. Macrons Zielverstellungen sind in den Grundzügen kurz zu referieren.

3.1 Sicherheit und Verteidigung.

Der verteidigungspolitische Rückzug der USA gegenüber Europa und der Terrorismus müssen den Kurs des “Europas der Verteidigung“ bestimmen. *4)

Macron wirbt für einen “Vertrag über Verteidigung und Sicherheit“, der Verpflichtungen umfasse, damit die europäischen Alliierten ergänzend zur NATO selbständig handlungsfähig werden durch:

  • Erhöhte Ausgaben für die Verteidigung.
  • Eine funktionsfähige Vereinbarung zu gegenseitiger Verteidigung.
  • Einen “Europäischen Sicherheitsrat“ mit Großbritannien, um gemeinsame Entscheidungen vorzubereiten.

Im Rahmen einer Europäischen Strategiekultur solle Europa “eine gemeinsame Einsatztruppe, einen gemeinsamen Verteidigungshaushalt und eine gemeinsame Handlungsdoktrin“ entwickeln, die sich gegenüber dem Terrorismus auch auf die Zusammenarbeit der Nachrichtendienste erstrecke. *1)

3.2. Grenzschutz und Zuwanderung.

Unzureichende Grenzsicherung mit der Folge massiver Migrationsströme in einige EU-Länder, unterschiedliche Asylverfahren und die scheiternde Abschiebung nicht Asylberechtigter verhinderten sowohl wirksamen Grenzschutz als auch die gebotene Menschlichkeit im Umgang mit Migranten. Deshalb fordert Präsident Macron “einen gemeinsamen Raum der Grenzen, des Asyls und der Zuwanderung.“ *1) Dazu seien eine “Europäische Asylbehörde“, vernetzte Datenbanken und sichere biometrische Ausweisdokumente sowie eine europäische Grenzpolizei aufzubauen. Angesichts der bleibenden Herausforderung durch die Migration nach Europa sei in der EU eine solidarische Migrationspolitik zu gestalten.

3.3. Mittelmeerraum und Afrika.

Die Migration lasse sich für die EU nur steuern und kontrollieren, wenn in den Herkunftsländern stabile politische und wirtschaftlich-soziale Entwicklung gefördert werde. Darauf sei eine “gemeinsame Politik im Mittelmeerraum und in Afrika“ durch die EU auszurichten: mit dem Ziel verbesserter Beschäftigung für die Jugend durch technische, wirtschaftliche und ökologische Entwicklungspolitik. Deren finanziellen Umfang deutlich zu steigern, könnte eine zweckgebundene europäische Finanztransaktionssteuer ermöglichen. Durch diese Maßnahmen solle “Afrika als strategischer Partner“ der EU gewonnen und nicht dem geopolitischen Machtstreben Chinas überlassen werden.

3.4. Energiepolitik im ökologischen Wandel.

Präsident Macron fordert, dass die EU eine Führungsrolle in der Politik für ökologischen Wandel übernehme, was den Transport, den Wohnungsbau, die Industrie und die gemeinsame Agrarpolitik betreffe. Mit einem “Europäischen Energiemarkt“ könne gelingen:

  • einen klimawirksamen CO2-Mindestpreis festzusetzen,
  • durch Vernetzung die erneuerbaren Energien und die kohlenstofffreie und kostengünstige Atomenergie (! rs) gemeinsam zu nutzen,
  • CO2-Steuern an den EU-Grenzen zu erheben, um defizitäre außereuropäische Anforderungen an den Umweltschutz auszugleichen.

Damit beschreibt Präsident Macron “Grundpfeiler“ einer gemeinsamen „Europäischen Energiepolitik“, die er schrittweise und mittelfristig anstrebt.

3.5. Zur digitalen Zukunft.

Im Zeitalter der digitalen Revolution stehe auf dem Spiel, dass heute amerikanische und morgen chinesische Konkurrenten als “globale digitale Giganten“ *4) in den Märkten der EU das “Gesetz des Stärkeren“ *1) durchsetzen. Präsident Macron sieht dies Problem bei den digitalen Plattformen und beim Datenschutz.

Diese Sorge Macrons wird auch in Deutschland geteilt, insbesondere von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. Dessen Ministerium informiert: Die Marktmacht der großen digitalen Plattformen Google, Apple, Facebook und Amazon (GAFA) beruhe auf dem “Netzwerkeffekt“. Aus der Sicht der Nachfrager der digitalen Dienste — zum Beispiel soziale Netzwerke der Kommunikation, Online-Käufe, ferner Videos und Musik — steige deren Nutzen mit der Zahl der Nutzer. Dieser “Netzwerkeffekt“ könne „so stark sein, dass er zu einer Marktkonzentration oder Monopolen führt.“ *5) Das soziale Netzwerk Facebook werde weltweit als Nachrichten-Dienst von über zwei Mrd. Mitgliedern mindestens einmal im Monat genutzt (Wikipedia), allein in Deutschland täglich von 21 Mio. Menschen. Der Internetkonzern Google erreiche einen Marktanteil bei Suchmaschinen von 90 %.*5)

Der Datenschutz der Bürger wird deshalb zum politischen Thema, weil digitale Plattformen für ihre gratis bereitgestellte Leistung systematisch Daten über ihre Nutzer sammeln und auswerten. Damit kann zielgenaue Werbung geschaltet und wirtschaftlicher Ertrag für das digitale Geschäftsmodell erreicht werden.

Wie Frankreich will deshalb auch Deutschland eine „digitale Ordnungspolitik“, die nicht national, sondern nur europäisch zu vereinbaren sei:

  • Auf den Online-Märkten sollten auch “europäische Champions“ (Macron) als Großunternehmen aufgebaut werden.
  • Diese europäischen Unternehmen müssten durch eine Wettbewerbsordnung geschützt werden, weil „internationale Akteure des digitalen Bereichs keinerlei Steuern zahlen“ *1).
  • Das Wettbewerbsrecht solle für europäische Unternehmen der Digitalwirtschaft “Wachstum durch Investitionen und Innovationen auf Grundlage eines fairen Wettbewerbs ermöglichen.“ *5)
  • Zugleich seien mittels europäischem Datenschutzrecht die individuellen Grundrechte, die digitale Datensouveränität und die digitale Privatautonomie zu sichern.

Präsident Macron fordert für international fairen Wettbewerb in der digitalen, innovationsbasierten Wirtschaft außerdem die „Besteuerung von Wertschöpfung, dort, wo sie entsteht, und die es uns ermöglicht, … die Unternehmen zu besteuern, die sich mit dem einzigen Ziel, der Besteuerung zu entgehen, außerhalb Europas ansiedeln.“ *1)

3.6. Die EU als Weltwirtschaftsmacht.

Präsident Macron verbindet seine Vorschläge für die Sicherheits-, Migrations-, Energie- und Digitalisierungspolitik mit dem Appell, die europäische Industrie und die Raumfahrt zu zentralen Stärken der EU-Wirtschaft zu entwickeln. *1)

Diese im Sinne Macrons “dauerhaft angelegte Wirtschafts- und Politikstrategie“ erfordere

  • neben der gemeinsamen Währung der Eurozone,
  • nationale Reformen für soziale Konvergenz, um die übermäßige Jugendarbeitslosigkeit in der EU zu überwinden,
  • die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der EU-Mitglieder, und
  • einen EU-Finanzhaushalt, politisch geführt durch ein “EU-Finanzministerium“.

Die von Macron vorgeschlagenen CO2-Steuern und die Wertschöpfungssteuer im Digitalsektor sollten von der EU erhoben werden und “eine echte europäische Quelle zur Finanzierung gemeinsamer Ausgaben darstellen.“ *1)

Der EU-Haushalt müsse die gemeinsamen europäischen Ziele und Aufgaben widerspiegeln und der Rolle der EU als souveräner Wirtschafts-, Industrie- und Währungsmacht entsprechen. Dies bedeutet, der geopolitischen Situation der EU zwischen China und den USA auch budgetpolitisch Rechnung zu tragen. China und die USA investierten massiv in ihre strategischen Vorhaben wie z.B. die Künstliche Intelligenz. Und verglichen mit deren Investitionen befinde sich die EU “nicht in der gleichen Liga.“ *2)

Präsident Macron fordert deshalb, die Konvergenzkriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes von Maastricht zu überdenken. Diese “Maastricht-Kriterien“ erlauben für den EU-Haushalt (Zeitraum 2014-2020) eine Ausgabenobergrenze von 1 % der EU-Wirtschaftsleistung *6) Für die Länder der Eurozone gilt die Vorgabe, dass das jährliche Haushaltsdefizit nicht mehr als 3 % der Wirtschaftsleistung des Landes übersteigen darf.

Für Präsident Macron gehören derartige Vorgaben für das EU-Budget bzw. für die nationalen Haushalte in das letzte Jahrhundert. Es sei absurd, dass die EU-Sparer die neuen Schulden/Kredite finanzieren, die von den USA in ihre Zukunft investiert würden. Um die expansive Investitionsstrategie einer anzustrebenden “Weltwirtschaftsmacht EU“ zu finanzieren, dürfe die EU nicht der einzige globale Akteur sein, der sich unter den Zwang enger Haushaltsvorgaben setzt.

Für seine Vision von der “Weltwirtschaftsmacht EU“ fordert Präsident Macron *1): „Ein (EU-)Haushalt kann nur einhergehen mit einer starken politischen Steuerung durch einen gemeinsamen Minister und durch eine anspruchsvolle parlamentarische Kontrolle auf europäischer Ebene. Allein die Eurozone mit einer starken und internationalen Währung kann Europa den Rahmen einer Weltwirtschaftsmacht bieten.“ Nur mit dem Euro als gemeinsamer international akzeptierter Währung, nur mit dem gemeinsamen EU-Haushalt, politisch gesteuert durch das EU-Finanzministerium, und mit einem bedeutenden Investitionsprogramm für die europäisch notwendigen öffentlichen Güter sieht Präsident Macron die EU auf dem Weg zur Weltwirtschaftsmacht.

4. Macrons Ambition für Europa.

Neben die sechs Schlüsselbereiche für europäische Souveränität stellt Macron die Führungsaufgabe, die Einheit und den Zusammenhalt der EU so zu vertiefen, dass die EU politisch “kohärent“ (Macron) *1) geführt werden kann.

4.1. Politisch “kohärente“ Führung der EU

Die EU wird für Macron dann politisch “kohärent“ geführt, wenn:

  • Rückfälle in “Blockaden“ und Brüche durch nationalistische und hegemoniale Sonderwege gegen die europäische Einigung endgültig überwunden sind, und
  • wenn der Wettbewerb im Gemeinsamen Markt der EU nicht durch Steuer- und Sozialdumping geprägt ist, sondern durch “Konvergenz“ in diesen beiden Bereichen und so die EU-Politik an das Ziel der Gerechtigkeit bindet.

4.2. EU-Konvergenz: Steuer- und Sozialpolitik.

Mit Blick auf dieses europapolitische Konvergenzziel schlägt Präsident Macron vor: *1)

In der EU sei die Körperschaftsteuer, also die Unternehmenssteuer auf das Einkommen bzw. den Gewinn von juristischen Personen (wie Kapitalgesellschaften, Vereine, Genossenschaften), zu harmonisieren. Dies müsse Bedingung für den Zugang z. B. zum EU-Kohäsionsfonds werden, der wirtschaftlich schwächere EU-Länder etwa bei der Integration in transeuropäische Verkehrsnetze, bei der Gewinnung erneuerbarer Energien und umweltfreundlichen Verkehrssystemen hilft.

Damit solle verhindert werden, dass diese Länder sich das Dumping bei der Körperschaftssteuer mittels besonders niedriger Steuersätze durch die EU-Strukturhilfen bezahlen lassen. Denn darin sieht Macron Missbrauch der freizügigen Standortwahl des Gemeinsamen Marktes durch steuerpolitischen Unterbietungswettbewerb, um Unternehmen zur Ansiedlung in diese wirtschaftlich schwächeren Länder zu locken. Ähnlicher Missbrauch sei bei Lohn- und Sozialdumping festgestellt worden, wenn z.B. entsandte Bauarbeiter aus ärmeren EU-Ländern mit besonders niedrig kalkulierten Löhnen und Sozialstandards die Arbeitnehmer in reicheren EU-Ländern von ihren Arbeitsplätzen verdrängen.

Diese Formen des “Dumping“ müsse die EU unterbinden. Durch Instrumente wie die EU-Entsenderichtlinie (gemäß etwa dem Slogan “gleicher Lohn für gleiche Arbeit“) und durch eine EU-weit der wirtschaftlichen Lage der Länder angepasste Regel, damit angemessene Mindestlöhne eingeführt werden.

Macrons Vorschläge könnten so missverstanden werden, dass diese Instrumente für Steuer- und Sozialkonvergenz bezweckten, die reicheren EU-Länder vor Wettbewerb aus ärmeren EU-Ländern zu schützen und damit deren Chancen auf wirtschaftliche Entwicklung zu schmälern.

Macron würde diesen Einwand sicher nicht akzeptieren. Und dagegen auf einen allgemeinen Defekt verbreiteter Forderungen nach marktwirtschaftlichem Wettbewerb ohne angemessenen sozialen Ausgleich hinweisen. Gerade in den USA und in Großbritannien seien die Folgen des ruinösen Vorrangs der Wettbewerbsfähigkeit ohne Gerechtigkeit zu besichtigen: in den Folgeschäden solcher Missachtung der wirtschaftlichen Interessen hart arbeitender Mittelschichten liege die wesentliche Ursache für den Aufwuchs nationalpopulistischer Kräfte der Abschottung.

Deshalb ist für Macron die Sozialkonvergenz in der EU durch schrittweise Annäherung der Modelle sozialer Sicherung dringend geboten und auf keinen Fall gegen das Ziel globaler Wettbewerbsfähigkeit der EU-Wirtschaft auszuspielen.

4.3. Ein Europa der Kultur und des Wissens

In eindrucksvoller Weise hebt Macron hervor: Die stärkste Wirkung für den Zusammenhalt der Menschen in der EU gegen “Blockaden“ und Brüche durch nationalistische und hegemoniale Sonderwege habe die Kultur und das Wissen.

Damit erinnert Präsident Macron in seiner Rede an der Universität von Paris, der Sorbonne, an ihren Namensgeber, den Theologen Robert von Sorbon (1201-1274), und an einen der Gründerväter der europäischen Einigung, Jean Monnet (1888-1979): „´Menschen vereinen`, sagte Monnet. ´Partnerschaftlich zusammenleben`, sagte Sorbon. Das Ziel ist immer dasselbe .. die einende Solidarität .. Was Europa am stärksten zusammenhält, werden immer die Kultur und das Wissen sein.“ *1)

Dies führt zu dem bleibenden, größten Appell und Vorschlag des Präsidenten Emmanuel Macron: „Europa soll jener Raum werden, in dem jeder Studierende bis 2024 mindestens zwei europäische Sprachen spricht. Anstatt unsere zerstückelten Gebiete zu beklagen, stärken wir lieber den Austausch! Bis 2024 soll die Hälfte einer Altersgruppe bis zu ihrem 25. Lebensjahr mindestens sechs Monate in einem anderen europäischen Land verbracht haben. Seien es Studierende oder Auszubildende.“ *1)

Macron regt mit diesem Ziel an, ein europäisches Netzwerk von Universitäten zu schaffen, das pädagogischer Neuerung und exzellenter Forschung diene. „Starten wir also heute einen Sorbonne-Prozess, der die Vollendung eines Schulprogramms ermöglicht, das Austausch, Veränderung und Wandel in allen europäischen Sekundarschulsystemen gestattet.“ *1)

5. Präsident Macron: glücklicher europäischer Sisyphos?

Präsident Macron pflegt sicher keine Illusionen über das Echo auf seine europapolitischen Vorschläge, die er seit 2017 wieder und wieder vorgetragen hat. Gewiss nicht ohne praktische Resultate.

Aber die grundlegenden Widerstände, die “Blockaden“, sind bekannt und kommen vor allem aus Deutschland. Die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer warnt gegenüber Präsident Macrons Vorschlägen: „Europäischer Zentralismus, europäischer Etatismus, die Vergemeinschaftung von Schulden, eine Europäisierung der Sozialsysteme und des Mindestlohns wären der falsche Weg.“ *7)

Wie diskussionswürdig die zitierten Einwände der CDU-Vorsitzenden bei genauer Sicht auf Präsident Macrons Vorschläge auch erscheinen mögen, Macron hat die deutschen Widerstände hellsichtig und mit philosophischer Gelassenheit wahr- und vorweggenommen. Das Europa sprachlicher und kultureller Vielfalt sei eben auch mit “unübersetzbaren“ Differenzen verbunden, die es erschweren, sich zu verständigen.

„Diese Blockaden sind mir schon oft aufgefallen. Manchmal bestehen sie wirklich, aber oft sind es keine grundlegenden Blockaden. Es sind Teile dieses Unübersetzbaren. Da besteht ein Unterschied in der Sprache, in der Kultur. Wenn man das Wort ´Schulden` ausspricht, hat es in Frankreich und in Deutschland nicht denselben Sinn und dieselben Wirkungen! Dessen muss man sich bewusst sein, wenn man miteinander spricht.“ *1)

Die politischen Debatten seien in Europa immer schwieriger als im Rest der Welt, betont Macron: „Denn der europäische Sisyphos muss immer noch sein Unübersetzbares vor sich her rollen. Ich bekenne mich zu diesem Teil unübersetzbarer, unüberwindbarer Differenz, weil ich mir einen glücklichen Sisyphos vorstellen möchte.“ *1)

Großbritannien wird die EU verlassen. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird die Politik verlassen. Europapolitische Unterstützung von den USA oder Großbritannien zu erwarten, erscheint derzeit völlig sinnlos. Die Zukunft der Europäischen Union wird daher in sehr hohem Maße von der Urteils- und Führungskraft Macrons bestimmt werden.

Hoffen wir für die Stabilität der Europäischen Union, dass Staatspräsident Emmanuel Macron noch lange als glücklicher europäischer Sisyphos wirkt!

 *1) Rede von Staatspräsident Macron an der Sorbonne. Initiative für Europa. Paris, den 26. September 2017; https://de.ambafrance.org/Initiative-fur-Europa-Die-Rede-von-Staatsprasident-Macron-im-Wortlaut

*2) Emmanuel Macron in his own words (English). The French president’s interview with The Economist. Transcript. Nov 7th 2019; https://www.economist.com/europe/2019/11/07/emmanuel-macron-in-his-own-words-english. Siehe auch: Transcript. Emmanuel Macron in his own words (French); https://www.economist.com/europe/2019/11/07/emmanuel-macron-in-his-own-words-french.

*3) Staatspräsident Macron vor dem Europaparlament: Rede im Wortlaut (17. April 2018); https://www.diplomatie.gouv.fr/de/aussenpolitik-frankreichs/frankreich-und-die-europaische-union/neu (Hervorhebung RS).

*4) Renewing Europe. Mar 4, 2019. EMMANUEL MACRON; https://www.project-syndicate.org/commentary/three-goals-to-guide-european-union-renewal-by-emmanuel-macron-2019-03

*5) Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. ARTIKEL – Netzpolitik. Digitale Plattformen; https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Digitale-Welt/digitale-plattformen.html

*6) EU-Haushalt 2014-2020: Die Details in Zahlen 11-02-2013 (aktualisiert:  07-03-2014); https://www.euractiv.de/section/finanzen-und-wirtschaft/news/eu-haushalt-2014-2020-die-details-in-zahlen/ . (RS Erläuterung: Die EU-Wirtschaftsleistung im Zeitraum 2014-2020 wird durch das Bruttonationaleinkommen (BNE) der EU gemessen. Das BNE entspricht vereinfacht etwa dem Bruttosozial- bzw. Bruttoinlandsprodukt, also ungefähr der Einkommenssumme, die von allen EU-Bewohnern im Zeitraum 2014-2020 erwirtschaftet wird.)

*7) DEUTSCHLAND. CDU-CHEFIN. Kramp-Karrenbauer antwortet Macron mit umfassendem Europa-Plan. Veröffentlicht am 09.03.2019. Von Jacques Schuster, Chefkommentator; https://www.welt.de/politik/deutschland/article190037149/Europa-Plan-Kramp-Karrenbauer-antwortet-Macron.html