Präsident Putins Wahlsieg.

Natürlich stehen progressive Bürger auf der Seite junger Menschen in der Russländischen Föderation, die für Freiheit und Demokratie demonstrieren und arbeiten.

Zugleich kann  die Heuchelei abgelehnt werden, die vielfach aus Deutschland zu hören ist. Ein Tiefpunkt zeigte sich im gestrigen Phoenix-Presseclub, wo der Moderator zuließ, dass jemand Herrn Putin in eine Reihe mit Stalin und Mao stellte.

Etwas vorschnell erscheinen Behauptungen, der Wahlsieg des Präsidenten Putin sei nicht legitimiert. Selbst in den Zentren der Straßen-Demonstrationen, Moskau und St. Petersburg, erreichte Putin deutlich über 40 % bzw. 50 % der Wählerstimmen. Da die Zustimmung für ihn fast 10 Prozentpunkte unter dem Wert von 2004 lag, dürften die zweifellos noch immer beträchtlichen Manipulationen und Fälschungen zu seinen Gunsten erheblich zurückgegangen sein. Offensichtlich wurde Wahlbeobachtung in großem Ausmaß gefördert und umgesetzt.

Dann könnte uns allwissende Beobachter von außen die Frage beschäftigen, auf welche Oppositionspartei und auf welchen Präsidentschaftskandidaten russische Bürger denn Hoffnung für die Zukunft hätten setzen können. Als einzige Oppositionskraft von Gewicht erwiesen sich die Kommunisten. Die übrigen Parteien und Kandidaten, die keineswegs durchweg respektabel wirkten, konnten den russischen Wählern wohl kaum politische Glaubwürdigkeit vermitteln.

Nun kann man sich darauf beschränken, dem zwar autoritären, aber nicht totalitären Machtsystem Putins die Schuld zuzuweisen, dass die Gegenkandidaten Putins für die meisten Russen, und gerade auch für die, die etwas zu verlieren haben, offensichtlich nicht wählbar erschienen. Es entbehrt nicht der Ironie, dass die demokratische Opposition gegen Putin aus der expandierenden urbanen Mittelschicht stammt, die eben gerade auch der „Ordnung“ Putins ihren Aufstieg verdankt. Und natürlich vor allem ihrer Intelligenz und Tüchtigkeit.

Ob oder wie nun Präsident Putin und Ministerpräsident Medwedjew die Zukunftsaufgaben – Diversifizierung der rohstofflastigen Wirtschaftsstruktur, Abbau horrender bürokratischer Erpressungsmacht und Korruption, eine föderale Ordnung, die marktwirtschaftliche Impulse verbreitet und stärkt u.v.a.m. – bewältigen können oder wollen, das muss sich zeigen. Führt es weiter, wenn wir nun alle wohlfeil unsere Skepsis hinaus posaunen?

Wäre denn die Annahme abwegig, dass die Oppositionskräfte, die wenig oder gar keinen Einfluss auf die mächtigen Insider in Bürokratie, Wirtschaft, Gesellschaft und Regionen des Landes haben, an diesen Reformaufgaben von vornherein scheitern müssten? Gewinnt diese Annahme nicht an Pausibilität durch das Wahlergebnis? Auch wenn gewagte Behauptungen verbreitet werden, Putins Wählerbasis liege gerade mal bei 30 – 40 %?

Deutschen Kritikern darf doch wohl gesagt werden, denkt mal an die eigene Demokratiegeschichte und an das, was Nazi-Deutschland in der Sowjetunion angerichtet hat. Fragt Euch doch einmal, warum ein ungleich einfacher strukturiertes EU-Mitgliedsland wie Rumänien auch über zwei Jahrzehnte nach der Wende noch immer autoritär und unsäglich korrupt geführt wird. Und das bei allen EU-Hilfen und Beratungsprogrammen!

Wie viele andere Rohstoffländer ist Russland stark vom „Fluch“ der Rohstoffwirtschaft getroffen. Der Anteil der Energieressourcen an Russlands Güterexporten beläuft sich seit 2008 auf etwa 65 % (s. World Bank, Russian Federation – Data and Statistics). Zur jährlichen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) trägt die Energiewirtschaft rd. 20 %, zu den Staatseinnahmen rd. 50 % bei (Wikipedia, Energiewirtschaft Russlands). Dies setzt der Entwicklung Russlands vier wirkmächtige „Transmissionsmechanismen“ entgegen (s. Hubertus Bardt, Rohstoffreichtum – Fluch oder Segen? Februar 2005, www.iwkoeln.de, S. 5ff.).

1. Die „Holländische Krankheit“ behindere durch Aufwertung des Wechselkurses und daraus resultierenden Importanreizen die Entfaltung anderer Wirtschaftszweige als der Energiesektoren.

2. Anreize für Investitionen in Bildung und industrielles Wachstum würden geschwächt, die Rohstoffeinnahmen zur schnellen Befriedigung von Konsum und für Sozialtransfers genutzt.

3. Der Fokus auf Rohstoffeinnahmen stärke die Bürokratie, die Staatsbetriebe und die Regierungsmacht, schwäche den politischen Wettbewerb und damit Anreize für gute Regierungsführung.

4. „Rent Seeking“ treibe politisch konformistische, auf leistungslose Verteilungsgewinne erpichte Interessengruppen und helfe damit der Regierung, Interessen-Allianzen zum Machterhalt aufzubauen.

Selbst  Industrieländer „mit stabilen und traditionsreichen demokratischen und wirtschaftlichen Institutionen“ (H. Bardt, a.a.O., S. 12)  wie z.B. Holland oder Norwegen, hatten wegen des Aufwertungsdrucks mit industriepolitischen  Problemen zu kämpfen; konnten sie allerdings in wenigen Jahren überwinden. Im Falle Russlands sind dagegen schwerwiegende Hypotheken der Entwicklung zu berücksichtigen: das harte Klima, der riesige Raum und seine auf wenige Pole konzentrierte Wirtschaft, sowie die Erblast einer Geschichte von Tyrannei vor und Chaos nach den Wendejahren.

Russlandkenner sehen die Verfestigung des Machtsystems in einem Verfall von gesellschaftspolitischem Modernisierungswillen, der sicher auch dem Präsidenten zuzurechnen ist.

Vladimir Inozemtsev, Chefredakteur der Zeitschrift „Freies Denken“ in Moskau, sieht zwei schwerwiegende Hindernisse für die Modernisierung des Landes jenseits der Rohstoffabhängigkeit:

1. „Heute sind Russlands politische Machtzentren voller Unternehmer, die als Bürokraten geendet sind.“ Denen gehe es nur um Bereicherung und Konsum, am besten im Ausland.

2. Putins Regime habe eine freie Gesellschaft in einem autoritär gelenkten Land geschaffen, „in der kollektivem Handeln kein Wert beigemessen wird. Es ist weitaus einfacher für die Menschen, sich individuell um ihre Probleme mit dem Staat zu kümmern, als das existierende System zu reformieren“ (Transit 42, 2012, S.88 f.).

Die NZZ zeigt Russlands Dilemma auf: „Putin ist nicht der einzige Verantwortliche, sondern die ganze politische Klasse. Reformen können nur unter zwei Bedingungen durchgeführt werden: wenn der Staat zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt und wenn die Behörden politischen und ökonomischen Wettbewerb zulassen. Dies ist aber mit einem Macht- und Kontrollverlust verbunden. Jede echte Reform stört das ganze System. Implosion und Kollaps drohen.“ (NZZ, Interview von Daniel Wechlin mit Lilija Schewzowa, Carnegie-Center, Moskau, 25.02.2012).

Die Prognose von Professor Stephen Holmes (New York University School of Law) erscheint daher nicht unplausibel: Putins System werde „nicht aufgrund demokratischer Mobilisierung von unten fallen, sondern nur, weil ein ineffizienter Kreml es geschehen ließ, dass Rivalitäten unter raubgierigen Insidern außer Kontrolle gerieten.“ (Transit 42, 2012, S. 46).

Professor Udo di Fabio warnt dagegen vor der resignativen Sicht, die Erwartungen des Westens und der russischen Bürger auf Wandel und Modernisierung „durch die Kräfte von Wirtschaftswachstum, Freihandel und Freiheit“ seien „nur eine große Illusion“ gewesen. Vielmehr waren die Erwartungen „im Kern berechtigt. Sie waren nur überzogen, verkannten die Mühe der Ebene, die Dauer einer kulturellen Modernisierung, die langsam über Bildung, Erziehung und Erfahrung in die nächste Generation gereicht wird. Fatal wäre es, wenn wir die Modernisierung einer auf individuelle Freiheit, Aufstieg durch Bildung, Marktwirtschaft, Gewaltenteilung und sozialer Demokratie gegründeten Gesellschaft, die globale Öffnung der Staaten, ihre Integration nach dem Muster der Europäischen Union, für einen falschen Weg hielten, nur weil uns die Werbung zu viel versprochen hat, weil wir alle an zu viel Mühelosigkeit geglaubt haben.“ (petersburger-dialog.de; 17.07.2011, Rede di Fabio, S. 8).

Der Petersburger Dialog für die Verständigung der Zivilgesellschaft in Deutschland und Russland ist eine der wichtigsten Dialog-Brücken, um über Russland zu informieren, Russland und seine Bürger zu verstehen. Mit der erwarteten Wirkung, dass über die Führung und die Zivilgesellschaft dieses Partnerlandes nicht leichtfertig und vorschnell geurteilt wird.

Der Presseclub des Informationskanals Phoenix vom Sonntag, den 04.03.2012, hat es sich entschieden zu leicht gemacht. Der sachkundige und hochangesehene russische Journalist Wladimir Kondratjew wurde von der Runde marginalisiert und wie ein sowjetisches Fossil behandelt. Damit hat der Moderator eine beklagenswerte Rolle als Gastgeber gegenüber Herrn Kondratjew vorgeführt.