Reden am 3. Oktober 2024.
Nach der Europawahl vom 9. Juni 2024: Die AfD wird in allen fünf ostdeutschen Flächenländern stärkste Partei; die von Sahra Wagenknecht neu gegründete Partei BSW erreicht dort hinter der CDU Rang drei mit zweistelligen Ergebnissen. *1).
Die deutsche Wählerschaft scheint nach der Europawahl in Ost (die rechtsextreme AfD dominiert in den ostdeutschen Flächenländern) und West (Sieg der CDU/CSU) gespalten. Ist nach über drei Jahrzehnten die deutsche Einheit gescheitert? Welche Festreden haben wir am Tag der deutschen Einheit zu erwarten?
Suchen wir Hinweise für eine Antwort bei drei Trägern politischer Verantwortung für Ostdeutschland:
- Dem Ministerpräsidenten von Thüringen, Bodo Ramelow (Die Linke),
- dem Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt, Dr. rer. nat. Reiner Haseloff (CDU)
- und dem Staatsminister beim Bundeskanzler und Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland, Carsten Schneider (SPD-MdB).
1. Ramelow: Ost-West-Kluft und Thüringer Paradoxie
Der Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow (Die Linke), warnt uns vor einer “einer zunehmenden Kluft zwischen Ost- und Westdeutschen“. *2) Eine solche Kluft empfindet Ramelow durch Vorwürfe wie: “Wo bleibt die Dankbarkeit der Ostdeutschen?“.
Solche Vorwürfe setzen bei den Kosten der deutschen Einheit an: „Übernahme von DDR-Verbindlichkeiten, Transferleistungen für die neuen Bundesländer und weiteren einigungsbedingten Sonderausgaben .. Für die Gesamtkosten der deutschen Einheit einschließlich des Sozialtransfers liegen die Schätzungen zwischen 1,3 und 2,0 Billionen Euro“. Diese Schätzungen stammen vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH; 1.3 Bio. € von 1990 bis 2010) und von der FU Berlin (2.0 Bio. € von 1990 bis 2014). *3)
Dafür schulden die Menschen Ostdeutschlands den Menschen Westdeutschlands keine Dankbarkeit:
- Schon deshalb nicht, weil sie bis 2010 bzw. 2014 ihren Anteil an der Finanzierungslast haben schultern müssen. Von 1991 bis 1998 lagen die Kostenschätzungen bei knapp der Hälfte der oben genannten Schätzwerte.
- Außerdem werden in der Kostenrechnung nicht die schweren Opfer vieler Ostdeutscher durch den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft und den massenhaften Verlust ihrer Arbeitsplätze berücksichtigt.
- Ebensowenig werden die Gewinne durch westdeutsche Übernahmen von DDR-Unternehmen und von Grundvermögen im Gebiet der ehemaligen DDR ausgewiesen. Auch die zahlreichen Führungspositionen für westdeutsche Berater in Ostdeutschland werden ignoriert.
Deshalb hat Ministerpräsident Ramelow recht: „Der Osten hat sich nicht zu entschuldigen.“ Dass man von Ostdeutschen Dankbarkeit erwartet, treibe eine “Spirale der Spaltung“ an. *2)
Der bedrohlich scheinenden Landtagswahl in Thüringen am 1. September 2024 setzt Ramelow dennoch eine optimistische Perspektive entgegen: „Die Ausgangslage ist schwierig. Aber Landtagswahlen sind Personalwahlen. Und alle Personalwahlen sind für die AfD nicht gut ausgegangen.“ *2) Ähnlich und als „Thüringer Paradoxie“ bewertet Ramelow Umfragen für das BSW in Thüringen von 21 % und verweist auf seine „positive(n) Zuwächse in der Beliebtheit als Politiker … (und dass) 47 Prozent der Thüringerinnen und Thüringer sagen: Ich soll weiter meine Arbeit machen“. *4)
Die Landtagswahl in Thüringen am 1. September 2024 wird die “Thüringer Paradoxie“ (Ramelow) auflösen und — so bleibt zu hoffen —auch die “Kluft zwischen Ost- und Westdeutschen“ (Ramelow) verringern
2. Haseloff: Probleme werden verdrängt.
Der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, unterstreicht, „wie groß die Unzufriedenheit der Menschen mit der Bundesregierung aber auch mit Europa sei.“ *5)
Haseloff erwarte klare Antworten auf die Wahlerfolge extremer Parteien vor allem in Ostdeutschland: „Ich hoffe, der Kanzler weiß, was die Stunde geschlagen hat … Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“. *6)
Haseloffs Vorwurf, Probleme würden in Deutschland verdrängt, richtet sich vor allem auf zwei Bereiche: *7)
- Die Migrationspolitik lasse Ordnung und Steuerung vermissen, daher finde Zuwanderung großenteils illegal statt.
- In der Energiepolitik und bei den Klimazielen müsse bedacht werden, dass in den ostdeutschen Chemieregionen zu hohe Energiepreise viele Arbeitsplätze gefährden.
Ministerpräsident Haseloff bewertet die politische Situation in Ostdeutschland als “instabil“; die Wahlerfolge der AfD und des BSW hätten „das Land in eine andere Situation gebracht.“ *6)
Diesem Urteil wird aus den folgenden Gründen zugestimmt:
- AfD und BSW stellen die Annäherung an Russland über die Verteidigung und die Unterstützung der Ukraine. Sowohl die AfD-Fraktion (nur vier MdBs waren anwesend) als auch die BSW-Gruppe sind der Rede des Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, am 11. Juni 2024 vor dem Deutschen Bundestag demonstrativ fern geblieben.
- Die beiden AfD-Fraktionschefs Alice Weidel und Tino Chrupalla beleidigten sogar in besonders widerwärtiger Weise den ukrainischen Präsidenten: Er sei „nur noch als Kriegs- und Bettelpräsident im Amt“. *8)
- Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) beschuldigte Präsident Selenskyj, eine hochgefährliche Eskalationsspirale zu befördern. Er nehme dabei das Risiko eines atomaren Konflikts mit verheerenden Konsequenzen für ganz Europa in Kauf. „Daher sollte er im Deutschen Bundestag nicht mit einer Sonderveranstaltung gewürdigt werden.“ *8)
Bundeskanzler Scholz habe das Verhalten von AfD und BSW bei der Rede Präsident Selenskyjs als „Respektlosigkeit“ bezeichnet und sei darüber „sehr verstört, aber nicht überrascht“ (so ein Regierungssprecher). Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP-Spitzenkandidatin für die Europawahl) erklärte: „Mit dem BSW hat Putin nun schon die zweite Partei in Deutschland, die ihm unreflektiert folgt.“ *8)
Gemäß der Europawahl stehen anscheinend rund 45 % der Wählerschaft in den ostdeutschen Flächenländern nicht an der Seite der NATO und der Ukraine, weil sie für die AfD bzw. das BSW gestimmt haben. Die Führungen von AfD und BSW berufen sich auf diese Wähler, wenn sie sich dem verbrecherischen Aggressor Russland und seinen “Verhandlungsangeboten“ zuwenden, die in Wirklichkeit auf die Kapitulation der Ukraine und einen Diktatfrieden abzielen.
Dieser Befund nach der Europawahl hat „das Land in eine andere Situation gebracht“, wie Ministerpräsident Haseloff feststellte.*6) Deshalb wird seiner Aussage zugestimmt.
3. Schneider, Ostbeauftragter der Bundesregierung: Normalisierung zwischen Ost- und Westdeutschland?
Carsten Schneider, MdB, Staatsminister beim Bundeskanzler und Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland, bezweifelt, dass die eher Russland-nahen Parteien, AfD und BSW, sich für diese Haltung auf ihre ostdeutsche Wählerschaft berufen können: „Gerade Ostdeutsche wissen: Unter Moskaus Joch willst du nicht leben“. *9)
- Dieser Satz des Ostbeauftragten Schneider ist zwar nicht zu bestreiten. Jedoch könnte er das Kernanliegen der ostdeutschen Wählerinnen und Wähler von AfD und BSW verfehlen.
- Carsten Schneider selbst betont den “ausgeprägten Wunsch nach Harmonie und auch nach Frieden“ 9) in der ostdeutschen Wählerschaft.
- AfD und BSW könnten auch deshalb so stark gewählt worden sein, weil viele Ostdeutsche glauben, Deutschland könne vor der Aggressionspolitik des Kreml bewahrt werden, wenn der positiven Haltung zu Russland durch AfD und BSW gefolgt würde.
Carsten Schneider ist dennoch zuzustimmen, wenn er kritisiert, dass Deutschland zu lange Vertrauen in den russischen Präsidenten Putin gesetzt habe. „Ein Leben in Frieden und in Freiheit gibt es nur, wenn wir uns auch an den mittel- und osteuropäischen Ländern orientieren, die sehr genau wissen, woher die Gefahr für sie kommt“. *9) Dass diese Einsicht in Ostdeutschland nicht gewirkt hat, ist wohl mangelndem Aufklären und Führen durch die Bundesregierung zuzuschreiben.
Weiterhin scheint Carsten Schneider die für den Ostbeauftragten der Bundesregierung durchaus peinliche Tatsache zu ignorieren, „wie groß die Unzufriedenheit der Menschen mit der Bundesregierung aber auch mit Europa sei“, die Ministerpräsident Haseloff beklagt hat. *5)
Für Schneider sind anscheinend rund 45 % EU-Wahlanteil von AfD und BSW in den ostdeutschen Flächenländern nicht Ausdruck von Krise, Problemen und schlechter Stimmung. Schneider besteht auf einer optimistischen Perspektive: „Noch nie stand Ostdeutschland wirtschaftlich seit der Wiedervereinigung so gut da wie jetzt. Diesen Aufschwung gilt es durch kluge gemeinsame Politik von Bund und Ländern zu verstärken.“ *10)
Für diese Politik sieht Schneider deutliche Erfolgschancen: *9)
- Abgewanderte Ostdeutsche kehrten in ihre Heimat zurück und weitere Arbeitskräfte zögen hinzu.
- Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt seien so gut wie noch nie. Deshalb werden sich die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland abbauen.
- „Bei Infrastruktur und Arbeitslosigkeit sei das bereits geschehen“. Bei den Löhnen werde diese Entwicklung auch eintreten, wenn „mehr Tarifverträge und eine größere gewerkschaftliche Organisation der Arbeitnehmer die Umstände verbessern“.
Schneider betont daher die Chancen für eine “Normalisierung“ der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschland. Insofern seien „die mit den Ergebnissen der Europawahl zutage getretenen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland .. weniger dramatisch.“ *9) Diese Hoffnung wird in Deutschland gewiss weitgehend geteilt.
4. Hoffnung zum 3. Oktober 2024
Am 3. Oktober 2024 werden die Festreden zum Tag der Deutschen Einheit gehalten werden. Fast 35 Jahre nach dem Fall der Mauer in Berlin am 9. November 1989.
Mecklenburg-Vorpommern wird die Feierlichkeiten am 3. Oktober 2024 ausrichten, weil es dann den Vorsitz im Bundesrat innehat. „Mit dem Blick nach vorn, den weiten Horizont vor Augen und voller Vorfreude: So machen wir uns 2024 auf den Weg — zum Bürgerfest in Schwerin zum Tag der Deutschen Einheit. Vom 2. bis 4. Oktober 2024 wollen wir gemeinsam und vereint feiern — und wir laden Sie und Euch dazu in unsere schöne Landeshauptstadt ein.“ *11)
Gut 100 Tage bleiben der Bundesregierung und den Regierungsparteien SPD (13.9 %), Grüne (11.9 %) und FDP (5.2 %), um den Schock der Europawahl zu überwinden: 45 % für AfD und BSW in den ostdeutschen Flächenländern. 100 Tage werden einer neuen Regierung zugestanden, bevor man ihre Leistungskraft beurteilt. Die Bundesregierung amtiert jedoch bereits seit Ende 2021. Gerade von ihrer Handlungsfähigkeit wird abhängen, welche Festreden die Deutschen am 3. Oktober 2024 hören werden.
*1) AfD/BSW-Wahlergebnis Europawahl 2024. Ostdeutsche Flächenländer. Brandenburg 27.5 % / 13.8 % ; Mecklenburg-Vorpommern 28.3 % / 16.4% ; Sachsen 31.8 % / 12.6 % ; Sachsen-Anhalt 30.5 % / 15 %; Thüringen 30.7 % / 15 %; (Hinweis Berlin: Grüne 19.6 %; CDU 17.6 %; SPD 13.2 %; Die Linke 7.3 %; AfD 11.6 %; BSW 8.7 %. Andere Parteien unter 5 %). https://bundeswahlleiterin.de/europawahlen/2024/ergebnisse/bund-99.html
*2) Nach Europawahl. Ramelow warnt vor Kluft zwischen Ost und West. 11.06.2024 | 04:27; https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/ramelow-europawahl-spaltung-ostdeutschland-westdeutschland-100.html
*3) Wikipedia. Kosten der deutschen Einheit; https://de.wikipedia.org/wiki Kosten_der_deutschen_Einheit#
*4) „Das ist eine Paradoxie“. Ramelow beklagt hohe Umfragewerte für Wagenknecht-Bündnis in Thüringen. 19.06.2024, 16:35 Uhr; https://www.tagesspiegel.de/politik/das-ist-eine-paradoxie-ramelow-beklagt-hohe-umfragewerte-fur-wagenknecht-bundnis-in-thuringen-11854688.html
*5) Energiepolitik und Migration: Haseloff fordert Umdenken. 18.06.2024 ∙ Morgenmagazin ∙ Das Erste; https://www.ardmediathek.de/video/morgenmagazin/energiepolitik-und-migration-haseloff-fordert-umdenken/das-erste/
*6) Union vor AfD stärkste Kraft. Europawahl 2024: Ergebnisse und Reaktionen. 12.06.2024 | 19:19; https://www.zdf.de/nachrichten/politik/europawahl-2024-deutschland-eu-liveticker-100.html
*7) Vor Ostministerpräsidenten-Treffen. Haseloff: Wir verdrängen derzeit viele Probleme in Deutschland. 18.06.24; https://www.deutschlandfunk.de/haseloff-wir-verdraengen-derzeit-viele-probleme-in-deutschland-100.html
*8) Ukrainischer Präsident im Bundestag. Viel Applaus für Selenskyj – BSW und AfD boykottieren Rede. Stand: 11.06.2024 18:54 Uhr; https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/selenskyj-rede-bundestag-100.html
*9) Schneider im ntv-Frühstart. „Gerade Ostdeutsche wissen: Unter Moskaus Joch willst du nicht leben“. 18.06.2024, 11:22 Uhr; https://www.n-tv.de/politik/Gerade-Ostdeutsche-wissen-Unter-Moskaus-Joch-willst-du-nicht-leben-article25022622.html
*10) Carsten Schneider. Aufschwung für Ostdeutschland verstärken. 21.06.2024; https://www.ostbeauftragter.de/ostb-de/aktuelles/aufschwung-fuer-ostdeutschland-verstaerken-2293478
* 11) UNSERE EINLADUNG. MECKLENBURG-VORPOMMERN BEGRÜSST SIE UND EUCH ZUM TAG DER DEUTSCHEN EINHEIT 2024 IN SCHWERIN; https://tag-der-deutschen-einheit.de/