Regierung und politische Führung.
Vor Wahlen werden die Rufe nach “politischer Führung“ laut: „Die Menschen müssen wissen, dass die Ampel von einem Sozialdemokraten geführt wird“ — fordern die SPD-Spitzen. *1)
Versuchen wir zu verstehen, was Wählerinnen und Wähler über politische Regierungsführung “wissen müssen“.
1. Tony Blair: Grundsätze politischer Führung.
Als Referenz zu diesem Thema mag einer der als Ratgeber meist gesuchten Politiker unserer Zeit helfen, der außerdem in Büchern über seine Erfahrungen als Regierungschef informiert hat: der ehemalige britische Premierminister Tony Blair. *2)
Blair urteilt, dass politische Führung parteiübergreifend respektiert werden könne, wenn sie die Urteilskraft und Entschlossenheit für aus ihrer Sicht notwendige, aber zutiefst unpopuläre Entscheidungen aufbringt. *3)
Gerade zu diesem Punkt hat Fareed Zakaria Tony Blair mit Feststellungen konfrontiert, die hier im Hinblick auf die Lage der deutschen Demokratie etwas ausführlicher referiert werden: *4)
- Blairs Regierungszeit von 1997 bis 2007 sei geprägt gewesen durch globalen Wandel in Richtung von Demokratisierung und Liberalisierung weltweiter Märkte und sogar von globaler Zusammenarbeit auch mit den Regierungen Russlands und Chinas.
- Heute jedoch — so Fareed Zakaria — würden jene kooperativen Trends genau in die entgegengesetzte Richtung weisen (Russlands Krieg in Europa, Krieg im Nahen Osten sowie Kriegsdrohungen durch China vor allem gegen Taiwan). Zusätzlich breite sich ein reaktionärer Populismus gerade in westlichen Demokratien aus. In Deutschland ist der “rechte“ (AfD) wie der linke Populismus (BSW, Die Linke, Teile der SPD-Linken) durch Appeasement gegenüber Putins Aggressionskrieg gekennzeichnet.
- Zakaria fragt, ob in westlichen Demokratien angesichts des ausgewucherten Populismus politische Führung noch möglich sei? Könnten in Blairs Verständnis gebotene, aber auch notfalls „zutiefst unpopuläre Entscheidungen“ *3) überhaupt durchgesetzt werden?
- Zakaria verweist auf viele politische Führungspersonen, die sich vor allem bei der Zuwanderung und dem Protektionismus der in der Bevölkerung verbreiteten Gefühlslage anpassen. Blair könnte deshalb vorgehalten werden — so Zakaria — er habe ja keine Wahlen mehr zu bestehen.
2. Tony Blair: Regierungsführung in der “Zeitenwende“ (O. Scholz).
Tony Blair weicht diesen herausfordernden Problemstellungen Fareed Zakarias nicht aus. Blair greift sie vielmehr auf, um die aus seiner Erfahrung gewonnenen Grundsätze politischer Führung zu präzisieren: *4)
Der heutige “Epochenbruch“ (Bundespräsident Steinmeier) erschwere politische Führung außerordentlich. Dennoch bleiben — so Tony Blairs Überzeugung — die Grundsätze auch wahlpolitisch erfolgreicher Führung bestehen.
Der programmatische Standort der Regierungsspitze, ihre politische Richtung und die Ziele ihres Programms müssten der Wählerschaft in “absoluter Klarheit“ dargelegt werden. Dazu gehöre auch die Vorbereitung auf unabweisbar gebotene, wenn auch unpopuläre Maßnahmen. Dies bleibe der beste Weg, um Wahlen gewinnen zu können.
Im Gespräch mit Fareed Zakaria wendet Tony Blair diese Grundsätze politischer Führung an auf das globale Umfeld der “Zeitenwende“ (Bundeskanzler Scholz).
2.1. Konflikt: Demokratischer “Westen“ — Autokratien Russland, China.
Der Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine führte unmittelbar in den geopolitischen Konflikt zwischen dem “Westen“ und Russland mit China an seiner Seite. Dieser Konflikt hat nicht nur zu einer Spirale der Aufrüstung geführt, die von den Autokratien Russland und China ausging. Er drückt sich zunehmend aus in der Rivalität um Einfluss auf die Länder des “Globalen Südens“.
Zakaria befragte Blair zu den Überzeugungen von Putin und Xi, dass ihre Autokratien den Demokratien überlegen seien. Demokratische Führung funktioniere nicht, weil sie nur kurzfristig auf oberflächliche Politik orientiert sei und bei außenpolitischem Druck keine längerfristige Standfestigkeit aufbringe. Die Unzufriedenheit ihrer Bevölkerungen zeige dies. Es sei das Zeitalter der Autokratien angebrochen.
Blair hingegen verweist auf die Systemschwäche der Autokratien durch das Unterdrücken einer offenen politischen Herausforderung und einer frei organisierten Opposition. Das habe sich bei Putin gezeigt, der — ohne Widerspruch zuzulassen — geglaubt habe, die Ukraine leicht besetzen zu können. In ähnlicher Weise habe Xi in der Covidkrise versagt, weil seiner Politik der informierte oppositionelle Widerspruch fehlte.
Blair urteilt zusammengefasst:
- Da die Autokratien Putins und Xis nicht offen für Widerspruch gegen ihre Führung sind, berge dies ernste Gefahren für den Weltfrieden.
- Aufgabe der Demokratien sei, ihre Leistungsfähigkeit zu effektiven Problemlösungen zu beweisen. Die Herausforderung der Demokratien sei Effektivität.
- Die gerade von Putin und Xi unterstützten Populisten in den Demokratien nutzten den Ärger der Menschen über Probleme wie Migration oder unsichere Arbeitsplätze durch globalen Wettbewerb. Deshalb müssten die demokratischen Führungen wirksame politische Maßnahmen leisten.
2.2. Herausforderungen für die Migrationspolitik.
Es sei der Lage unangemessen, so Blair, die Sorgen der Menschen über die Zuwanderung als Populismus diskreditieren. Populisten benutzten die Ängste vor unkontrollierter Zuwanderung, aber sie böten keine politisch umsetzbare Lösung.
Es sei legitim, dass die Menschen Ordnung, Regeln und Kontrolle wünschen, wenn die Regierung über Migration entscheidet. Gebe es diese Ordnung und ihre Regeln nicht, entstehe der Eindruck, dass Zuwanderung dem Belieben der Migranten überlassen werde. Durch migrationspolitischen Kontrollverlust entstehen Vorurteile und Verlust des Vertrauens in die Staatsorgane, weil die Regierungen unwillig oder unfähig erscheinen, die Probleme zu bearbeiten und Regeln durchzusetzen.
Daher schulden die verantwortlichen politischen Instanzen den Bürgern funktionierende Maßnahmen: Wie Zuwanderung kontrolliert wird, wie damit verbundene neue Formen von Kriminalität bekämpft werden, wie sichergestellt wird, dass Migranten sich gemäß den Werten des Landes integrieren.
Bloße Empörung über die Populisten nutze gar nichts, stellte Blair fest.
2.3. Herausforderung durch wirtschaftlichen Nationalismus.
Gegen die protektionistische Versuchung, Unternehmen und Arbeitsplätze vor technologischer Innovation und Wettbewerb zu schützen, argumentiert Blair mit der historischen wirtschaftlichen Erfahrung: Je stärker Länder sich gegen technologischen Wandel, Freihandel und Wettbewerb abgeschottet haben, desto weniger Wohlstand sei die Folge gewesen.
Eine Abschottungspolitik, oft ideologisch mit der Forderung verbunden, „der Staat müsse mehr tun“ (Blair *4)), hemme unternehmerische Aktivität, Innovation und Entwicklung. Außerdem verteuerten steigende Kosten durch Steuern, Sozialabgaben und Löhne die Lebenshaltung.
Das Beispiel der deutschen Autoindustrie (Volkswagen!) illustriert Blairs Warnung vor der ökonomischen Forderung nach mehr Staatsintervention als Antwort auf den „massiven Wandel in der realen Welt“ (Blair *4)): „Die Bundesregierung forderte den VW-Konzern auf, Jobs zu erhalten … Die Haltung des Kanzlers dazu sei .. klar — ´nämlich, dass mögliche falsche Managemententscheidungen aus der Vergangenheit nicht zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehen dürfen`“. *5)
Deutschland steht gewiss vor großen wirtschaftlich-technologischen Herausforderungen durch zunehmenden Wettbewerbsdruck und Digitalisierung, durch klimapolitisch notwendige Dekarbonisierung und durch demographische Engpässe in der Arbeitnehmerschaft.
Derzeit könnte jedoch in Deutschland der Eindruck entstehen, dass sich die politische Antwort auf die ernsten sozialen Probleme, die von der Standortschwäche industrieller Unternehmen in Deutschland ausgehen, in Anklagen gegenüber deren Management erschöpft.
Tony Blair konstatiert bei vielen politischen Forderungen heutiger “Mitte-Links-Parteien“ ein “anti-globalization sentiment“, das die “effektive“ Bearbeitung dieser Herausforderungen erschwere: „The problem of democracy is efficacy“. *4)
Gerade bei “Mitte-Links-Parteien“ haben die von Blair kritisierten kommunikativen Unklarheiten oft die Ursache, dass wegen parteiinterner Konflikte in eine „Spagat“-Rhetorik ausgewichen wird, die strittige Positionen beschönigen oder verbinden wolle. Das dürfte auf die verbreitete Kritik am Stil der politischen Kommunikation des Bundeskanzlers Scholz zutreffen, der nicht nur seine Regierungs-Koalition zusammenhalten muss. Überdies ist er nicht Vorsitzender seiner SPD, was zusätzliche Rücksicht auf deren Flügel erfordert.
3. Kontrovers: Forderung nach politischer Führung in Deutschland.
Abschließend ein kurzer Blick auf die deutsche Debatte um politische Führung. Hier ist überzeugendes Beispiel für politische Führung durch “absolute Klarheit“ (Blair) in der Kommunikation die Aussage der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig: *6)
- Marktwirtschaft ja, aber sozial abgefedert.
- Soziale Sicherheit ja, aber unter Einhaltung des Leistungsprinzips.
- Zuwanderung ja, aber geordnet und gekoppelt an Integrationsbereitschaft.
- Klima- und Umweltschutz ja, aber machbar für alle.
Darüber hinaus sieht Schwesig „jetzt die Zeit gekommen, dass Olaf Scholz stärker vorangeht und ganz klar zu den großen gesellschaftlichen Dingen sagt, wie er sich das vorstellt“. *7)
Dieser Aufforderung Schwesigs an den Bundeskanzler, jetzt seiner Aufgabe nachzukommen, die Regierung zu führen, steht durchaus eine Führungsleistung Scholz` zu den transatlantischen Beziehungen und zur EU-Perspektive der Westbalkan-Länder gegenüber. Zu diesen außenpolitischen Politikfeldern hat Scholz “absolut klare“ Positionen formuliert. Jedoch sind diese eher unstrittig.
Anders sieht dies bei der Ukrainehilfe und der Verteidigungspolitik aus. Da hat Scholz es mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Mützenich zu tun, dem SPD-Historiker Appeasement-Politik gegenüber Russland vorgeworfen haben.
- Zwar betont Scholz immer wieder, das Deutschland nach den USA die größte Ukraine-Hilfe leiste. Bezogen auf die deutsche Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) erreicht Deutschland jedoch nur den 17. Rang. *8)
- Das ist angesichts der Lage im Vernichtungskrieg Russlands gegen das verwüstete Land, das langjährige Partnerschaft mit der NATO und der EU (Beitrittskandidat!) verbindet, ebenso unzureichend wie die deutschen Ausgaben für die Verteidigung. Prof. Dr. Moritz Schularick, Präsident des IfW Kiel, sagt zur Antwort der Bundesregierung auf die Bedrohung Europas durch Russland: „Die Zeitenwende ist bislang nur eine Worthülse.“ *9)
- Und dazu kommen irritierend wechselhafte Äußerungen von Scholz. Noch im Juni 2024 lautete sein Versprechen an Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj: „Unser Ziel ist klar: Die Freiheit, die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine zu erhalten.“ *10)
- Nur drei Monate später benennt Scholz als Voraussetzung für eine Friedenslösung, “dass Putin einsieht, dass er nicht die ganze Ukraine fressen kann“. *11)
Bundeskanzler Scholz sagte wiederholt “Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch“ — zuletzt bei seiner Sommerpressekonferenz 2024. *12)
In Europas schwerster Bedrohung durch Russland: Wer hat solche Führung bestellt?
*1) Siehe: Neuer SPD-General Matthias Miersch: Für Scholz wird es ungemütlich. Von Daniel Mützel. 12.10.2024; https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_100507934/neuer-spd-general-matthias-miersch-fuer-scholz-wird-es-ungemuetlich.html (Hinweis: Mit den SPD-Spitzen sind hier die beiden SPD-Vorsitzenden Klingbeil und Esken sowie Generalsekretär Miersch gemeint. – Hervorhebung RS)
*2) Sir Anthony Blair war von 1994 bis 2007 Vorsitzender der Labour-Partei und von 1997 bis 2007 britischer Premierminister. Er ist bis heute der einzige Vorsitzende der Labour Party, der drei aufeinander folgende Wahlsiege (1997, 2001, 2005) erringen konnte.
*3) Dieser Gedanke über politische Führung findet sich bei: Tony Blair. A Journey. London 2010. Seite 547. Hier genüge als Hinweis: Die ehemaligen sozialdemokratischen Regierungschefs Gerhard Schröder (*2, S. 501f.) und Tony Blair treffen bis heute Vorwürfe vor allem von der politischen Linken, dass sie eine “neoliberale“ Wirtschafts- und Sozialpolitik betrieben hätten. Tony Blair wird zusätzlich kritisiert, weil er Großbritannien am Irakkrieg gegen das Regime des Saddam Hussein beteiligte. (Dazu sei hier auf Tony Blairs Aussagen verwiesen: „I have often reflected as to whether I was wrong. I ask you to reflect as to whether I may have been right.“ (Siehe *2) S. 374 ff.)
*4) Anlass für dieses Gespräch war das neu erschiene Buch von Tony Blair “On Leadership: Lessons for the 21st Century“. Siehe den Abschnitt der CNN-Sendung vom 29.09.2024: FAREED ZAKARIA „Next on GPS, I talked to Britain’s former prime minister, Tony Blair, about what sort of leadership is needed in these very troubled times“; https://transcripts.cnn.com/show/fzgps/date/2024-09-29/segment/01.
*5) Sparpläne beim Autobauer: Scholz fordert VW auf, Jobs zu erhalten. Stand: 28.10.2024 16:37 Uhr; https://www.ndr.de/nachrichten/info/Sparplaene-beim-Autobauer-Scholz-fordert-VW-auf-Jobs-zu-erhalten,vw6280.html
* 6) Rede von Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig beim Festakt zum 34. Jahrestag der Deutschen Einheit. Ort: Staatstheater Schwerin. 3. Oktober 2024; https://www.bundesrat.de/SharedDocs/pm/2024/032.html?nn=4352554
*7) Maischberger . Schwesig verteilt „politische Ohrfeige“ an Scholz. 8. 10. 2024; https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_100505812/maischberger-i-manuela-schwesig-verteilt-politische-ohrfeige-an-olaf-scholz.html
*8) Daten des Ukraine Support Trackers — 19th release (covering January 24, 2022 to August 31, 2024). Siehe: Bilateral Allocations (percent of 2021 GDP); https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/daten-des-ukraine-support-trackers-26206/
*9) Kiel Institute. Kriegstüchtig in Jahrzehnten: Deutschland rüstet viel zu langsam gegen russische Bedrohung auf. 10.09.2024; https://www.ifw-kiel.de/fileadmin/Dateiverwaltung/Media/Images/News_Press_Releases/2024/mi2024-09-10_report1_tabelle_de.svg
*10) Ukraine Recovery Conference 2024. Deutschland steht weiter fest an der Seite der Ukraine. Bundeskanzler Scholz hat in der Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj bekräftigt, was die Unterstützerinnen und Unterstützer der Ukraine Recovery Conference eint. Das Ziel sei klar: Die Freiheit, Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine zu erhalten. Mitschrift Pressekonferenz Dienstag, 11. Juni 2024; https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/ukraine-recovery-conference-2024-pk-scholz-selenskyj-2291828
*11) Ukraine-Talk bei Illner: „Die Nato ist auf Russlands Sorgen präzise eingegangen“. 19.09.2024; https://www.t-online.de/nachrichten/ukraine/id_100493434/ukraine-talk-bei-illner-die-nato-ist-auf-russlands-sorgen-praezise-eingegangen-.html
*12) Sommer-Pressekonferenz des Kanzlers 2024. „Ich freue mich auf Ihre Fragen“. Mitschrift Pressekonferenz. Mittwoch, 24. Juli 2024; https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kanzler-sommer-pressekonferenz-2024-2300722