Russland – wessen Gesichts-Verlust?

Einer der bedeutenden Kenner der Russländischen Föderation, Prof. Dr. Peter W. Schulze, hat eine Information des weltweiten Netzwerks Avaaz.org. weitergeleitet.

Dies ist für mich ein so glaubwürdiges politisches Aval, dass ich sofort mit Unterschrift das Ziel der Kampagne für universale Werte unterstützt habe.

Im konkreten Fall wird aufgerufen, die „Arctic 30“ vor unverhältnismäßiger Strafsanktion durch russische Gerichtsbarkeit zu bewahren. Diese Greenpeace-Aktivisten aus 17 Ländern wurden wohl nach einigem „Gerangel“ mit robust eingreifenden russischen Sicherheitskräften bei dem Versuch festgenommen, die Offshore Öl-Bohrinsel Pirazlomnaya zu entern.

Dort – etwa 1000 km östlich von Murmansk, in der Pechora-See, rd. 60 km von der Küste entfernt – fördert Gazprom aus 20 m Tiefe Erdöl.

Wegen „bandenmäßiger Piraterie“ könnten den Umwelt-Aktivisten vom Greenpeace-Schiff „Arctic Sunrise“ 15 Jahre Knast in Russland drohen. Zu diesem Vorwurf wird berichtet *1), dass Präsident Putin zwar das internationale Recht durch die Greenpeace-Aktion gebrochen sehe, dies aber nicht als Piraterie bewerte.

Da Russland Mitglied des Europarates ist, gibt es beim Staatspräsidialamt auch einen Beirat für Fragen der Menschenrechte. Dessen Vorsitzender Mikhail Fedotov habe sich ähnlich geäußert.

Ferner hat sich die niederländische Regierung in den Konflikt eingeschaltet, da die „Arctic Sunrise“ unter ihrer Flagge unterwegs ist und rechtswidrig in internationalen Gewässern aufgebracht worden sei.

Jörg Feddern, Greenpeace, verteidigt seine Kameraden engagiert, aber etwas einfältig: „Wir handeln nicht aus Eigennutz, sondern wir handeln im Sinne der Natur, der Umwelt, um sie zu schützen vor Ausbeutung und egoistischen Interessen.“ *2)

Die offenbar mehrfach von Russland vor der Attacke auf die Bohrinsel gewarnten Umweltschützer erfahren zwar große menschliche Solidarität und auch Unterstützung durch den niederlandischen Staat. Aber völkerrechtlich wird Russlands Position so bewertet, dass ein langwieriger Rechtstreit mit dem Königreich der Niederlande zu erwarten ist.

Der SPIEGEL zitiert dazu angesehene Fachleute: Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen „erlaubt dem Küstenstaat, um Öl- und Gasförderplattformen herum eine Sicherheitszone einzurichten, die maximal 500 Meter breit sein darf … Und in dieser Zone kann der Staat ´geeignete Maßnahmen` ergreifen, um die Sicherheit der Schifffahrt und der Plattform zu sichern … Was nun ‚geeignete Maßnahmen‘ sind, wird in diesem Fall sicherlich streitig bleiben“. *3)

Nun also sitzen unsere Greenpeace-Helden ein, begleitet von unseren guten Wünschen auf baldige Freilassung.

Dieser Vorgang hat mich allerdings aufwachen lassen und insofern beschämt, weil es leider wahr ist: Die jungen Frauen der Band „Pussy Riot“ sind von uns fast vergessen worden. *4)

Für eine Anti-Putin-Demonstration in der Christus-Erlöser-Kirche in Moskau wurden Nadeshda („Hoffnung“) Tolokonnikova und Maria Aljochina von einem Moskauer Gericht zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Erst im März 2014 würden sie frei kommen.

Staatsanwalt und Richter hatten in zwei Instanzen behauptet, die jungen Frauen hätten „zu religiösem Hass“ anstiften wollen, und es sei „moralischer Schaden für die anwesenden Gläubigen“ entstanden. *5)

Dies allein zeigt ein Verhältnis zwischen Staat und Kirche, das mehr als demonstrationswürdig ist.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte in scharfer Form kritisiert, „das unverhältnismäßig harte Urteil (stehe) nicht im Einklang mit den europäischen Werten von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.“ *5)

Auch die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Heinrich-Böll-Stiftung haben den politischen Charakter des Protestes der Pussy Riot im Rahmen demokratischer Bildung thematisiert. *6)

Jens Siegert *6) verweist auf einen Aufruf Präsident Putins zur Mäßigung, dem dann auch die orthodoxe Kirche gefolgt sei. Aber Siegert sieht hier eher ein Zeichen der Schwäche und verspäteter Versuche, den Schaden zu begrenzen: Die „Zwickmühle zwischen Gesichtsverlust bei Freilassung (oder gar Freispruch) und öffentlicher Empörung bei einer Lagerhaftsstrafe war schon zugeschnappt.“ (Hervorhebung: RS).

In dieser Falle stecke – so Siegert – auch „die Russisch-Orthodoxe Kirche. Der Aufruf zu harter Strafe durch den Sprecher des Außenamts des Moskauer Patriarchats, Wsewolod Tschaplin, hat das Bild einer eng mit dem Staat verflochtenen, alttestamentarisch-rachsüchtigen und strafenden Kirche hinterlassen.“ Maßvolle Stimmen von Priestern seien danach kaum mehr angehört worden.

Mich haben das Rückgrat, der Mut, die Zivilcourage von Nadeshda Tolokonnikova vor Gericht und in dem fürchterlichen Straflager tief beeindruckt. Ja, und zugleich beschämt, weil auch ich als Teil einer kosmopolitischen Zivilgesellschaft bei solch skandalösen Verstößen gegen die Menschenrechte in diesem Fall so schnell zur Tagesordnung überging.

Und dieser politische Skandal findet in einem Land statt, das Mitglied des Europarates ist. Des Europarates in Straßburg, der Regierungen zusammenbringt, um für „fundamentale Werte“ zu wirken, für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat, „für die Freiheit der Meinungsäußerung und der Medien sowie für die Versammlungsfreiheit, für Gleichstellung und den Schutz von Minderheiten.“ *7)

Hier sehen wir Ausschnitte zum Wert der Freiheit der Meinungsäußerung in der Russländischen Föderation. *8)

Staatspräsident Putin im Staatssender NTW: Der Name der Gruppe klinge „sogar auf englisch ziemlich unanständig.“
Nadeshda Tolokonnikova vor Gericht: „Pussy Riot ist sicherlich weniger unanständig als Putins Äußerung, er wolle Terroristen auf dem Scheißhaus abmurksen“ *8)

Zum Vorschlag, ein „Gnadengesuch“ an Präsident Putin zu richten, schreibt Nadeshda Tolokonnikova noch vor dem Urteil des Gerichts an die wohlmeinende, regimekritische Zeitung „Nowaja Gaseta“: „Machen Sie Witze? Natürlich nicht. Eher sollte er uns und Sie um Gnade bitten“. *5)

In einem offenen Brief vom 11. Oktober 2013 schreibt Nadeshda Tolokonnikova über die unbeschreiblichen Zustände in der Strafkolonie Mordovia, gegen die sie mit einem Hungerstreik protestierte:

„Ich habe die völlige Resignation und den stillen Schrecken in den Augen der Frauen gesehen“. Eines der Camps unterscheide sich vom anderen lediglich dadurch, dass unbequeme Gefangene von den Mithäftlingen statt von den Wärtern geprügelt würden. Wer dann noch nicht zerbrochen sei, auf den warteten zwei Argumente in den Strafzellen: eisige Kälte und weitere Prügel.

Nadeshda Tolokonnikova ruft die Menschen um Hilfe auf, damit die Lebens- und Arbeitsbedingungen für Gefangene in Mordovia und in ganz Russland verbessert werden.

Als beleidigend und respektlos empfinde sie Unterstellungen von einzelnen Mitgliedern des Beirates für Menschenrechte beim Präsidentenamt, ihr Hungerstreik sei von ausländischem Einfluss geleitet. „Dies ist meine Strafe, mein Kampf, mein Recht, meine Gesundheit, mein Leben … Ich wähle meinen eigenen Weg der Festigkeit und Ehrlichkeit.“ *9)

Hier sind wir alle Zeugen eines dramatischen Gesichts-Verlustes: des russischen Präsidenten, der Regierung, der Justiz, der Kirche dieses europäischen Landes.

Und uns Europäern selbst droht der Gesichts-Verlust, wenn wir zum Schicksal dieser unbeugsamen Freiheitskämpferin Nadeshda Tolokonnikova und ihrer weggesperrten Gefährtin Maria Aljochina weiterhin schweigen.

*1) www.bbc.co.uk/news/world-europe-24463515

*2) www.dradio.de/dlf/sendungen/umwelt/2286893/

*3) Im Griff der Grenzschützer, von Christoph Seidler, spiegel.de, 20. September 2013. Die von Herrn Seidler befragten Rechtsexperten sind Professor Doris König, Bucerius Law School, Hamburg, und Professor Henning Jessen, Institut für Seerecht und Seehandelsrecht der Universität Hamburg.

*4) dradio.de; Aktuell vom 17.08.2013, Pussy Riot sind fast vergessen. Dies gilt nicht für die Redakteurin der FAZ, Frau Kerstin Holm, die sich vorbildlich mit der Situation Nadeshda Tolokonnikovas auseinandersetzt.

*5) Pussy Riot müssen zwei Jahre ins Straflager, spiegel.de, 17. August 2012.

*6) Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) Bayernforum Europa-Akademie; Der Fall  ́Pussy Riot ́ als Spiegelbild des geistigen und politischen Lebens im heutigen Russland, Vortrag und Diskussion mit Dr. Petr Fedosov, Moskau, Freitag, 12. Oktober 2012 sowie FES, www.fes-mv.de/media/VeranstaltungenPDF/176507.pdf; Ziel: »Lupenreine« Demokratie? – Protestkulturen am Rand von Europa; 24. September 2013. Ferner: Jens Siegert, Pussy Riots Folgen; http://russland.boellblog.org/author/jens/Publiziert am 24. August 2012.

*7) Vgl. Der Europarat in Kürze, Was wir tun. http://www.coe.int/aboutCoe/index.asp?page=nosObjectifs&l=de

*8) Vgl. Benjamin Bidder, Willkür in zweiter Instanz, spiegel.de/; 10. Oktober 2012.

*9) Nadya Tolokonnikova, 11th October 2013, Camp Hospital Medical Centre No. 21, Barashevo Village, Mordovia. http://hro.rightsinrussia.info/hro-org/pussyriot-62, Nadezhda Tolokonnikova breaks the ‚information blockade‘. (Übers. RS).