Saal 600: das Nürnberger Vermächtnis.

 

Die große Rede, durch die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Festakt zum 75. Jahrestag der Nürnberger Prozesse prägte, hat weltweit beeindruckt. *1)

Die Stadt Nürnberg hatte am Freitagabend, 20. November 2020, an den 75. Jahrestag des Beginns der Nürnberger Prozesse erinnert. Ehrengast des Abends war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Die Rede des Bundespräsidenten überzeugte vor allem als Aufruf zu der heute und hierzulande besonders notwendigen Erinnerungsarbeit: unermessliche deutsche Schuld, das Nürnberger Gericht, die Urteile über die höchsten Vertreter des Nazistaates — dieses “Nürnberger Vermächtnis“ (Steinmeier), diesen Rechtsakt von 1945 verdankt die Welt der Zusammenarbeit der vier Siegermächte — USA, UdSSR, Großbritannien, Frankreich.

Die zentralen Gedanken des Bundespräsidenten Steinmeier werden einen festen Platz in Deutschlands Geschichtsunterricht und politischer Bildung einnehmen: *2)

  • Im Trümmerfeld unseres “moralisch und materiell bis auf die Grundmauern“ zerstörten Landes begann am 20. November 1945 im Saal 600 des Nürnberger Justizgebäudes der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof.
  • Die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges legten in diesem Saal den Grundstein für die Rechtsordnung einer neuen Welt. Erstmals standen die Spitzen eines Staates vor Gericht und sollten angeklagt werden, für die schwersten Verbrechen, die die Weltgeschichte bis dahin erlebt hatte: für die Entfesselung eines Angriffskrieges, für Kriegsverbrechen und für Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
  • Das Londoner Viermächte-Abkommen vom 8. August 1945 (Londoner Statut) hatte eine doppelte Erneuerung für das Völkerrecht geschaffen: Verankerung einer individuellen strafrechtlichen Verantwortung der Personen, die sich schwerster Verbrechen schuldig gemacht hatten, und die Eröffnung strafrechtlicher Verfolgungsmöglichkeiten. Und die Schaffung eines Straftatbestandes der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der in den Nürnberger Prozessen vor 75 Jahren erstmals zur Anwendung kam.
  • Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg war eine Revolution. Er schrieb nicht nur Rechtsgeschichte, er schrieb Weltgeschichte: … die Entstehung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit … Ohne den Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg gäbe es den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag heute nicht. In Deutschland ebnete Nürnberg den Weg zu einer nationalen juristischen Aufarbeitung der NS-Geschichte.
  • Ohne Nürnberg wären Kriegsherren aus Serbien, Kroatien oder aus Ruanda wegen Massenmord, Folter und Vergewaltigung nicht bestraft worden; würde auch Völkermord heute nicht als Straftat geahndet. Ohne Nürnberg gäbe es kein Weltrechtsprinzip und könnten nationale Gerichte nicht gegen Völkerrechtsverbrechen vorgehen. Sie hätten kaum Handhabe gegen zwei nach Deutschland geflohene ehemalige Angehörige des syrischen Geheimdienstes, die sich derzeit wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in ihrem Heimatland vor einem Koblenzer Gericht verantworten müssen.
  • Ohne Nürnberg gäbe es weniger Hoffnung auf Gerechtigkeit – auch für die Opfer … Völkerrechtsverbrechen sind ein Zivilisationsbruch. Bleiben sie sanktionslos, leidet nicht nur das Recht, sondern es nimmt die Menschheit insgesamt Schaden. Das Ziel muss sein, das gebrochene Recht im Namen der Menschheit selbst wiederherzustellen. Im Konflikt mit der Macht muss sich das Recht behaupten. Es kann die Macht nicht immer überwinden, aber es kann ihr doch Grenzen setzen.
  • Das ist das Vermächtnis von Nürnberg. Wir Deutsche sind in besonderer Weise dazu aufgerufen, dieses Vermächtnis weiterzutragen und zu verteidigen.

Gerade diesen letztgenannten Kernsatz unseres Staatsoberhauptes über das Vermächtnis von Nürnberg sollten wir Deutsche als bleibende Verpflichtung annehmen.

Weltmächte wie die USA, Russland, China, Indien neben einer Reihe anderer Staaten sind dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag nicht beigetreten. Denn, so Bundespräsident Steinmeier: „Weltweit verpflichtende Normen werden als Einschränkung der eigenen Macht empfunden.“ *2)

Mit unserem Staatsoberhaupt hoffen wir, dass der “Wert internationaler Strafgerichtsbarkeit“ künftig immer stärker anerkannt wird. Dass der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag „durch sein Wirken das Vertrauen in seine Unparteilichkeit und völkerrechtliche Unbestechlichkeit stärken kann, die er braucht, um die Skeptiker zu überzeugen.“ *2)

Diese Hoffnung des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier sollte das Engagement der Deutschen für die Menschenrechte, für das Völkerrecht und auch für das Völkerstrafrecht leiten.

Im Gedenken an das Vermächtnis von Nürnberg, Justizpalast, Saal 600!

*1) die diskussion. Festakt 75. Jahrestag der Nürnberger Prozesse; 20. November 2020; https://www.phoenix.de/sendungen/gespraeche/die-diskussion/festakt-75-jahrestag-der-nuernberger-prozesse-a-1867320.html.

*2) Bundespräsident Steinmeier. Nürnberger Prozess. 75. Jahrestag des Beginns der Nürnberger Prozesse.nNürnberg, 20. November 2020; https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2020/11/201120-Festakt-Nuernberg.html. RS: Zur Illustration der historischen Urteilskraft des Bundespräsidenten werden einige Kernsätze ausgewählt und wortgetreu wiedergegeben (Hervorhebungen RS). Dennoch ist zu betonen, dass deutsche Staatsbürger die vollständige Rede unseres Staatsoberhauptes lesen sollten. Gerade weil der braune Sumpf sich wieder ausbreitet!