Schadet Merkel Europa?

Die Geste des Willkommens für die Flüchtlinge durch Bundeskanzlerin Merkel Anfang September mag bewundert oder kritisiert werden. Was jetzt zählt, ist die Fähigkeit der Bundeskanzlerin, zwei Krisen abzuwenden, die das Europäische Einigungswerk gefährden.

Zu beiden Krisen hat die Bundeskanzlerin erklärt: Europa wird scheitern, erstens, wenn der Euro scheitert, zweitens, wenn die Lösung der Flüchtlingskrise scheitert.

Sehen wir, das Beste hoffend, von Griechenland ab, so bleibt die Frage: Hat Merkels Flüchtlingspolitik den Zusammenhalt in der Europäischen Union (EU) gestärkt oder geschwächt?

Zu der drohenden Kooperationsverweigerung der Visegrad-Länder *1) hatte die Bundeskanzlerin festgestellt: „Versagt Europa in der Flüchtlingsfrage, … wird (es) nicht das Europa sein, das wir uns vorstellen und … was wir als Gründungsmythos auch heute weiterentwickeln müssen.“ *2)

Damit wird die Verantwortung für den „Gründungsmythos Europa“ von Frau Merkel vor allem den Visegrad-Ländern zugewiesen. Und Merkel wiederholt ihre rhetorische Figur: Wenn man Flüchtlingen kein freundliches Gesicht zeigen darf, dann ist das nicht mein Land. Und steigert dies sogar noch: Wenn Europa in der Flüchtlingsfrage nicht Verteilungsquoten zustimme, dann sei das nicht unser (!) Europa.

Diese Äußerungen Merkels haben unterschiedliche Reaktionen ausgelöst.

Wer den moralischen Aspekt der Debatte betont, wie zum Beispiel Vertreter von Kirchen, Gewerkschaften oder namhafte Intellektuelle, sieht in Bundeskanzlerin Merkel ein Vorbild für Europa und seine Pflicht zur Solidarität mit den Flüchtlingen.

Einige Wissenschaftler und Publizisten, die nicht primär moralisch, sondern europapolitisch argumentieren, urteilen aus einer anderen Perspektive. Diese Sicht soll hier in Bezug auf Großbritannien etwas ausführlicher referiert werden, um auf die Frage dieses Blogs eine Antwort zu versuchen. Denn eine Umfrage des Instituts Forsa von Anfang Oktober ergab, „dass wichtige Teile der britischen Reformagenda … die Zustimmung der Deutschen finden.“ 3) Dies Ergebnis stützt die europapolitische Relevanz Großbritanniens für den Versuch einer Antwort auf die eingangs gestellte Frage.

Der Politikwissenschaftler Prof. Werner Patzelt sieht in Merkels Flüchtlingspolitik eine Überstrapazierung europäischer Solidarität. Weil, so Patzelt, „wir unsere, auf Unbegrenztheit der Einwanderung setzende Zuwanderungspolitik über das europäische Quotensystem auch anderen Staaten aufdrängen wollen, nicht zuletzt solchen, die das um keinen Preis in ihrem Land haben wollen und wo deren Bevölkerungen das auch bei ihren Regierungen ablehnten, wenn sie sich auf eine solche Politik einließen.“ *4)

Nicht nur in unserer östlichen EU-Nachbarschaft wird Merkels Politik anmaßende „Aufdringlichkeit“ angelastet.

Das zeigt ein Blick nach Großbritannien. Die Kritik an der Kanzlerin, die dort nach ihren wiederholten Willkommensgesten geäußert wurde, gewinnt schon dadurch an Plausibilität, dass inzwischen die deutsche Flüchtlingspolitik auf Korrekturkurs ist. Und damit harte britische Kritik (und auch die der CSU!) nachträglich zu bestätigen scheint.

Im gemäßigt liberal-konservativen Teil des britischen Medienspektrums wird Bundeskanzlerin Merkel vorgeworfen, sie habe eine erschreckende Lage noch verschlimmert. *5)

1. Am 01. September „erklärte Deutschland, dass jeder dort ankommende Syrer Asyl beantragen könne. In den Tagen danach erreichten 25.000 den Hauptbahnhof München, und die Zahl wächst schnell.“ Merkels Willkommensgeste, als aufgeklärt-moralische Führungskraft dargestellt, sei in Wirklichkeit Folge von „Panik und wirrem Denken“. *5)

2. Merkels Willkommen für syrische Flüchtlinge habe viele Tausende in die Fänge skrupelloser Menschenhändler und in menschliches Elend geführt. Die Menschen zu ermutigen, ihre Flucht fortzusetzen, habe sich als gefährlich erwiesen: „Die 71 Flüchtlinge, die an einer österreichischen Autobahn tot aufgefunden wurden, könnten noch leben, hätten sie ihre Flucht in Budapest beendet.“ *5) Diese Tragödie sei auch verursacht durch den „Sog“ Merkelscher Versprechen, der die Flüchtlinge nicht eher ruhen lasse, als bis sie Deutschland erreicht hätten.

3. Merkels Forderung, der Rest Europas solle sich an den Lasten der Einwanderung beteiligen, werde überdies politische Instabilität bewirken. Dies zeige der Aufwuchs rechtsextremer Parteien in Europa.

4. Schließlich gefährde Merkels „Politik der offenen Tür“ einen Wiederaufbau Syriens nach dem Ende des Bürgerkriegs. Während Großbritannien nur Flüchtlinge aus den Syrien benachbarten Lagern aufnehme, akzeptiere Deutschland nur jene, die es bis in die Bundesrepublik geschafft haben — also nur die eher wohlhabenden Mitglieder der ehemals syrischen Gesellschaft, die Menschenhändler bezahlen konnten. Ohne diese Schichten werde das verwüstete Land den Wiederaufbau jedoch kaum schaffen.

Der europaweit angesehene Wirtschaftspolitiker und Publizist Will Hutton, der im Mitte-Links-Spektrum britischer Politik herausragt, sieht dagegen Bundeskanzlerin Merkels Position in der Flüchtlingsfrage als beispielhaft für Europas Werte der Menschlichkeit.

Hutton verweist jedoch auch auf die Kehrseite der chaotisch verlaufenden Migration: Wie „der Einwanderungs-Skeptiker David Goodhart überzeugend argumentiert, befürchten die „Gastgeber“-Gemeinschaften, dass Einwanderer die Sozialstrukturen ausnutzen, die über Jahrzehnte aufgebaut wurden, und für die neue Migranten keinen Beitrag geleistet hätten.“ *6) Sich rücksichtslos über solch starke Befindlichkeiten hinwegzusetzen, wäre aus Huttons Sicht ein „Kardinalfehler“.

Kanzlerin Merkels mit Frankreich abgestimmter Aufruf zu einer „pan-europäischen Antwort“ auf die Flüchtlingskrise — gemeinschaftlich finanzierte Zentren zur Registrierung und Prüfung der Migranten in Griechenland und Italien, koordiniertes Vorgehen gegen Schlepperbanden und Verteilen der Asylbewerber — finde in Großbritannien keine politische Resonanz.

Die Regierung unter Premier David Cameron suche die Vorteile der EU-Mitgliedschaft ohne die entsprechenden Verpflichtungen, kritisiert Hutton. Mit der Wahl des euroskeptischen Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden der Labour Party sei jedoch auch von dort keine „mutige politische Vision“ für Europa zu erwarten. Corbyn würde sogar den Rückzug Großbritanniens von der „common European cause“ beschleunigen. Eine düstere Aussicht, schließt Will Hutton.

Der Historiker und Journalist Philip Stephens sieht in Corbyns Wahlerfolg den Ausdruck für die „Wirkungsmacht von Gefühlen in der heutigen britischen Politik.“ *7) Stephens weist damit auf die Sorge der britischen Regierung zum Ausgang des bis spätestens Ende 2017 geplanten Referendums über den Verbleib in der EU. Für den Verbleib in der EU spreche „die kühle Kalkulation des nationalen Interesses. Wenn die Wähler ihrem Kopf folgten, bliebe Großbritannien Mitglied der EU.“ Dies sei jedoch sehr unsicher geworden: „Eine unheilige Allianz von extrem Rechten und extrem Linken könnte erreichen, dass sich Großbritannien von seinem eigenen Kontinent abtrennt.“ *7)

Philip Stephens meint, die „wirre Antwort der EU“ auf die syrischen Flüchtlinge in diesem Sommer habe die Überzeugung der „Out“-Befürworter gestärkt, dass das Referendum von ihnen gewonnen werden könne: Als Entscheidung zwischen unkontrollierter Migration und wieder zu sichernden nationalen Grenzen.

Wer die Entscheidungen der EU-Mitglieder Ostmitteleuropas respektiert und sich eine EU ohne Großbritannien nicht wünscht, der kann zu dem Ergebnis kommen: Ja, Bundeskanzlerin Merkel hat mit ihren Willkommensgesten vom „moral highground“ in diesem Sommer dem Zusammenhalt in der Europäischen Union geschadet.

*1) Polen, Slowakische Republik, Tschechien, Ungarn.

*2) www.stern.de/video-merkel-fordert-mut-in-fluechtlingskrise — wir-schaffen… 31.08.2015.

*3) Gemeint sind folgende auch von Deutschen lt. Forsa-Umfrage befürwortete europapolitische Reformvorschläge der britischen Regierung Cameron: die Rückverlagerung von Zuständigkeiten auf die EU-Mitgliedstaaten (54 % pro), das Vetorecht für die nationalen Parlamente (64 % pro) und die Möglichkeit den Zugang zu Sozialleistungen für EU-Ausländer zu begrenzen (69 % pro).

Vgl.: Deutschland zeigt Offenheit für britische Reformvorschläge. Am 13. Oktober wurden die Ergebnisse unserer Forsa-Umfrage in Berlin vorgestellt; http://www.openeuropeberlin.de/Content/Documents/Event_BCCG_EU_131015.pdf.

*4) Deutschlandfunk. Phänomen Pegida. „Wir züchten eine antidemokratische Grundeinstellung“. Werner Patzelt im Gespräch mit Jochen Spengler, 19. Oktober 2015.

*5) The Spectator. Merkel’s grandstanding on Syrian refugees will lead to many more deaths at sea. The incentive is greater for people to risk the perilous journey to Europe. James Forsyth, 12 September 2015.

*6) Will Hutton, Angela Merkel’s humane stance on immigration is a lesson to us all. The German leader has stood up to be counted. Europe should rally to her side. The Guardian. Sunday 30 August 2015.

*7) Philip Stephens, Jeremy Corbyn victory tilts the balance towards Brexit; http://www.ft.com/. September 13, 2015.