Sieger und Claqueure.

Wer hellenische Konflikt- und Verhandlungsfähigkeit zwar nicht selbst erfahren hat, aber weiß, dass kein Land der Eurozone auch nur annähernd so viele Milliarden kassierte wie Griechenland (500 Mrd. € seit 1981), der könnte die Syriza-Strategen des „Nein“ für verrückt halten.

Regierungschefs und Finanzminister der 18 Euroländer, der Präsident der EU-Kommission, die Geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF), die Europäische Zentralbank (EZB) — sie alle standen hinter einem Milliarden-Paketangebot für Griechenland. Dies Paket wurde noch durch mittelfristige EU-Strukturhilfen in Höhe von 35 Mrd. € ergänzt. Insgesamt ein beispiellos aufwendiges Angebot für Wachstum, sozialen Ausgleich, Finanzstabilität — für Ziele, die allerdings von der griechischen Regierung begleitende Reformen der öffentlichen Verwaltung und der Wirtschaftspolitik erforderten.

Überdies sind der Tsipras-Regierung ein weiteres, drittes Mrd.-Hilfspaket und eine Umschuldung in Aussicht gestellt worden, wenn nur dringend notwendige Reformen angepackt würden. *1) Die Reformen der öffentlichen Verwaltung und der Wirtschaftspolitik sind umso notwendiger, als die Mrd.-Hilfsprogramme zielführend umgesetzt werden müssen, damit sie dem griechischen Volk nützen können.

Das Ansinnen der Gläubiger-Institutionen, für das angebotene Milliarden-Paket über Gegenleistung durch Reformen zu verhandeln, war bekanntlich für Syriza: Terrorismus, Erpressung, Fortsetzung der Folter des blutenden Griechenland usw.. Deshalb mussten Würde, Stolz und Demokratie der Hellenen durch ein  60%-“Oxi“=Nein siegreich verteidigt werden.

Nun laufen wir Gefahr einer Grexit-Debatte (Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone) mit dem Risiko, dass der Streit über den finanzpolitischen Verhandlungsprozess sich ausweitet zu militärstrategischen Kontroversen um das NATO-Mitglied Griechenland. Unsere GroKo-Politiker widersprechen den Grexit-Forderungen bisher, äußern sich aber hart gegen die Syriza-Manöver: Einreißer von Brücken, Erpresser und Volksbelüger auf schmutziger Tour … *2).

Viele Bürger sind zu Recht beeindruckt von den eisernen Nerven der Verhandlungsführer, die mit der Regierung Tsipras um eine dauerhafte Lösung ringen. Und die Bürger haben das Recht, von diesen Verhandlungen zu erwarten, dass den Milliarden-Hilfen ein Reformprogramm entspricht, das in Griechenland wirtschaftliches Wachstum schaffen kann. Und einen Staat mit einer Verwaltung, der seine Einnahmen und Ausgaben unter Kontrolle bringt, sowie EU-Zuwendungen und Hilfskredite transparent und zielgerecht verwendet.

Syriza regiert im sechsten Monat, hat eine stabilisierte Wirtschafts- und Budgetlage übernommen, aber bisher nichts geleistet außer dem, was sie am besten kann: Kampagnen!

Mittlerweile hat Syriza selbst das herbeigeführt, was sie den „Terroristen“ der Eurozone und dem „Blutsauger“ Bundesfinanzminister Schäuble vorwirft: Armut, massiv steigende Arbeitslosigkeit, Flucht von Kapital und Investoren. Deshalb ist die EU gezwungen, humanitäre Hilfsprogramme vorzubereiten. Nicht für diese frivole Regierung, nicht für das besonders lautstarke, privilegierte Personal in Staat, Behörden und Staatsunternehmen, sondern für die Griechen in Not.

Die Syriza-Regierung, die bisher ihre Arbeitskraft auf das Fordern von Hilfskrediten und von europäischer Solidarität zur Rettung der hellenischen Würde beschränkt hat, versäumt das existenziell Wichtigste: eine Wirtschaftspolitik, die Handwerk, Bauern, Kleinbetriebe und Händler wenigstens arbeiten lässt!

Die heutige ZDF-Info-Sendung „Griechenland Tragödie“ *3) enthielt eine eindrucksvolle Episode, die zeigt, wie diese Regierung versagt, welchen wirtschaftlichen Schaden sie anrichtet..

Eine verzweifelte Unternehmerin (D. wie deutschstämmig), die Melonen nach Deutschland exportiert. Unternehmerin D. hat drei Probleme, die sie wie viele andere Klein- und Mittelbetriebe (KuM) in den Ruin treiben.

Erstens: Strangulierung der Zahlungsfähigkeit. Die Krise, in die Syriza die griechischen Banken gestürzt hat, zerstört die für KuM-Betriebe lebenswichtigen Kreditbeziehungen, v.a. den Lieferantenkredit. D. sieht sich gezwungen, jetzt sämtliche Kredite zurückzuzahlen, weil die Drohung über ihr und vielen ähnlichen Unternehmen hängt, dass es plötzlich keine Euro mehr gibt. Dann blieben ihr nur die auf Euro lautenden Schulden. D. kann sich kaum um ihr Geschäft kümmern, da sie ständig um ihre Euroguthaben kämpfen muss. So wollte Unternehmerin D. am Berichtstag Kredite in Höhe von 15 Tsd. € zurückzahlen, die Bank stellte diesen benötigten €-Betrag jedoch nicht bereit. Frau D. berichtet, dass viele der KuM-Betriebe vor solchen Problemen stehen. Die Folge ist, dass die Lieferverflechtung im griechischen Binnenmarkt für diese Unternehmen zerreißt.

Zweitens: Da der bargeldlose Zahlungs- und Kreditverkehr über die Banken nicht mehr funktioniert, muss Unternehmerin D. nach Deutschland reisen, um ihre Euro-Barreserven zusammen zu kratzen. Denn in Griechenland werden Waren und Leistungen nur noch gegen sofortige €-Barzahlung erbracht. Mit € 20 Tsd. für die allernötigsten Transaktionen ausgestattet, lebt Unternehmerin D. nun in ständiger Angst vor Überfällen, da die hohe Bargeldhortung der Selbständigen sich bei Kriminellen herumgesprochen hat.

Drittens: Zusammenbruch der gewohnten Transportwege. Exportorientierte Landwirtschaft in Griechenland beruht häufig — das Beispiel von Unternehmerin D. zeigte es — auf der Nutzung von LKW-Transporten für Hellas-Importe. Diese Transportkapazität wurde relativ preiswert angeboten, um Leerfahrten bei der Rückkehr zu vermeiden. Unter Syriza sind die Transport-Fuhren nach Griechenland drastisch geschrumpft. Unternehmerin D. findet kaum noch die für den Transport nach Deutschland genutzten Kühllaster. Die Transportkosten für die Melonen sind zu hoch.

Ergebnis: Unternehmerin D. schließt ihren Betrieb. Die ihr zuliefernden Bauern sind ruiniert. Die Melonen verfaulen auf den Feldern. Die deutschen Importeure von Melonen suchen sich andere Lieferanten. Damit sind die griechischen Melonenbauern und -exporteure unter Umständen auf lange Zeit aus dem Geschäft geworfen.

Unternehmerin D. ein Einzelfall? Nun, man braucht nicht allzu viel ökonomische Vorstellungskraft, um diese Frage zu beantworten. Wie kann denn ein Binnenhandel und erst recht ein Außenhandel von lokalen Klein- und Mittelbetrieben überleben, wenn der Lieferantenkredit, der flexible Transport und — mit allseits drohenden Zahlungsausfällen — die Lieferketten blockiert sind? Der offenkundige wirtschaftlichen Zusammenbruch in Griechenland (außer bisher anscheinend der Tourismus) bestätigt ja die ruinösen Bedingungen für Unternehmer wie Frau D.

Und damit kommen wir zu den Claqueuren des „Oxi“. Nicht das von Syriza belogene, aufgehetzte griechische Volk ist hier gemeint. Nein, gemeint sind die ganz großen Claqueure des „Oxi“, die beiden Träger des Nobelpreises der Schwedischen Reichsbank für Ökonomie, Krugman und Stiglitz.

Paul Krugman erhielt 2008 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Analysen zur Struktur des internationalen Handels und der Standortwahl für wirtschaftliche Aktivität. Seine theoretische Innovation führte Außenhandel, Wirtschaftsgeografie und weltweit wirkende Kräfte der Verstädterung zusammen.

Joseph E. Stiglitz teilte den Nobelpreis 2001 für Wirtschaftswissenschaften mit George A. Akerlof und A. Michael Spence für die Beiträge zur Analyse von Märkten unter den Bedingungen asymmetrischer Information. Das sind Märkte, bei denen die Marktteilnehmer einer Seite, z.B. einige Anbieter, bessere Informationen haben als die der anderen Seite, Nachfrager oder kleinere Konkurrenten. Diese Informations-Asymmetrien erklären Qualitätsmängel, Ausbeutung, Übervorteilung, Preisexzesse und desaströse Fehlinvestitionen — kurz Fehlentwicklungen, die man eigentlich im Wettbewerb auf Märkten nicht erwartet. Die Bedeutung dieser Analysen für Missbrauch auf Arbeits-, Finanz- oder Immobilienmärkten ist vielfach durch Erfahrung belegt.

Krugman und Stiglitz gebührt Hochachtung für ihr wissenschaftliches Werk, das durch den Nobelpreis der Schwedischen Reichsbank gewürdigt wurde.

Für das publizistische Engagement beider Nobelpreisträger auf wichtigen Themenfeldern der globalen Wirtschaft und der Wirtschafts- und Sozialpolitik in einer Reihe von Ländern ist den großen Ökonomen zu danken. Und natürlich ist kritische Lektüre und Auseinandersetzung mit ihren Thesen Teil der achtungsvollen Aufmerksamkeit, die sie verdienen..

Krugman und Stiglitz unterstützen derzeit intensiv die Regierung Tsipras und ihre „Nein“-Politik gegenüber den kreditgebenden „Institutionen“ (EU, Euro-Gruppe, IWF, EZB). Die Argumentation in ihren aktuellen Beiträgen ist lesens- und bedenkenswert und spielt Ministerpräsident Tsipras direkt in die Hände.

Ja, die Sparpolitik in einem übermäßig verschuldeten Land wie Griechenland musste zu einer drastischen Reduktion der Übernachfrage, die durch neue Schulden getrieben wird, und damit zu einer schweren Rezession führen.

Beide Autoren, Krugman und Stiglitz, urteilen jedoch herabsetzend über das von EU-Kommissionspräsident Juncker in den Details veröffentlichte Paketangebot, das letzte in einer Kette von Hilfskrediten an die Regierung Tsipras. Und ganz offensichtlich beurteilen sie die Perspektiven für Wachstum und Beschäftigung, die von den neuen Hilfsangeboten und Reformen ausgehen können, ebenso herabsetzend wie Tsipras, der dieses Programm durch eine Desinformationskampagne mit „Nein“ beantworten ließ.

Krugman ist zwar vertraut mit den internationalen Handelsbeziehungen, jedoch ist nicht sicher, ob ihn die praktischen Probleme überhaupt bewegen, die Exporteuren wie Frau D. durch die Regierung Tsipras aufgebürdet werden. Dafür beschäftigt er sich allerdings mit Bundesfinanzminister Schäuble und erklärt ihn zum Dummkopf, der „in fünf Jahren nichts dazugelernt“ habe. *4)

Hätte Krugman wenigstens soviel über die Verhandlungen der Institutionen mit Griechenland „dazugelernt“, dass er nicht solchen indiskutablen Unsinn verbreitete wie: „ .. das Ultimatum der Troika verkörpert das Ende jeder Vortäuschung griechischer Unabhängigkeit“ *5)

Für Stiglitz verdient das Angebot der EU-Institutionen und des IWF für Wachstum, sozialen Ausgleich und Reform-Hilfe für Griechenland das Urteil: „ … auch die jüngste Initiative folgt dem .. falschen Ansatz … Das sind schlicht Rezessionsprogramme.“ *6)

Ein eher schlichtes Verdikt. Umso schlichter erscheint es, als die Urteilsbasis von Stiglitz dem Vergleich mit der akkumulierten Information und Erfahrung der EU-Verhandlungsführer und deren Beratern nicht ernsthaft standhalten kann. Ist Stiglitz seiner nobilitierten Idee so fern, dass er das hier ins Auge springende Beispiel für drastische Asymmetrie des Informationsstandes in seiner Polemik nicht wahrnimmt?

Dieser Hinweis auf informationelle Asymmetrie zwischen Stiglitz und den Verhandlungsführern der „Institutionen“ klingt sicher ein wenig abstrakt, ist er doch der Achtung vor dem Nobelpreis für Stiglitz geschuldet.

Sehr viel klarer hat unsere Welt-Torhüterin Nadine Angerer aus ganz anderem Anlass das Problem umrissen, für dessen Analyse auf Märkten Stiglitz den Nobelpreis erhielt. Eine Analyse asymmetrischen Informationsstandes, die sich nun gegen Stiglitz selbst zu kehren scheint.

Frau Angerer stellte fest: „Es ist immer leicht, Sachen von außen zu beurteilen. Wenn man keine Ahnung hat, muss man erst mal die Hintergründe kennen.“ 7)

*1) Drohender Grexit. Was Merkel den Griechen noch alles angeboten hat. Spiegel Online. 30. Juni 2015. Von Florian Gathmann, Nicolai Kwasniewski und Severin Weiland.

*2) Siehe: GRIECHEN-KRISE. Das sagen Politiker zum Nein; 05.07.2015, bild.de.

*3) Reportage. Die Griechenland Tragödie. ZDF-Info am 6. Juli 2015.

*4) Schelte von Ökonomen. Es ist ja nicht Amerikas Geld. In der Griechenland-Debatte prügeln Amerikas Ökonomen gnadenlos auf die Deutschen ein. Dafür gibt es kulturelle Gründe – und ganz praktische. 02.07.2015, von Winand von Petersdorf, faz.net.

*5) Greece Over the Brink. Paul Krugman. JUNE 29, 2015, http://www.nytimes.com/2015/06/29/opinion/paul-krugman-greece-over-the-brink.html. (Übersetzung, RS).

*6) GRIECHENLAND. „Ein RiesenRiesenfehler“. Die angeblichen Rettungsprogramme für Griechenland sind völlig falsch angelegt, sagt der Nobelpreisträger Jopseh Stiglitz. Die Griechen sollten deshalb mit Nein stimmen. Von Heike Buchter. DIE ZEIT, 27/2015,

3. Juli 2015.

*7) Frau Nadine Angerer im TV-Interview nach dem Spiel gegen England.