Sozialdemokratische Loyalität.

Der große Sozialdemokrat Franz Müntefering warf kürzlich Oskar Lafontaine vor, dass er als Finanzminister unter Bundeskanzler Schröder nicht einmal zu “simpler sozialdemokratischer Loyalität“ fähig war. *1) 

1. „Sozialdemokratische Loyalität“ und SPD-Amtsträger.

Politisch Engagierte, die Mitglied der SPD sind, mögen sich fragen, was Münteferings Wort von “sozialdemokratischer Loyalität“ für sie bedeutet.

Münteferings hartes Urteil über Lafontaine überzeugt: Lafontaine verdankte die Ämter als SPD-Vorsitzender und Finanzminister nicht nur seiner eigenen Führungskraft, sondern vor allem der des angesehenen Wahlsiegers von 1998 und neuen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Dieser strebte eine eher wirtschaftsliberale Reformagenda an, um den Sozialstaat durch reduzierte Arbeitslosigkeit zu stabilisieren, jener eine stärker umverteilende Sozialagenda mit Belastungen für die Wirtschaft. „In der Regierungsverantwortung musste das zu Konflikten führen“, analysierte Parteienforscher Frank Decker. *2)

Nach Konfrontationen mit Bundeskanzler Schröder über die Richtung der Wirtschaftspolitik erfolgte Lafontaines bedenkenloser Rücktritt von seinen Regierungs- und Parteiämtern. Dies wurde auch von Hans Jochen Vogel scharf verurteilt: Lafontaine habe den SPD-Parteivorsitz „weggeworfen wie einen schmutzigen Anzug“. *2) 

Hier wird deutlich, was die Forderung Franz Münteferings nach “sozialdemokratischer Loyalität“ über den Fall Lafontaines hinaus bedeutet: Bindung politischer Amtsträger für die SPD an solidarisches Verhalten gegenüber den SPD-Führungsgremien und ihren politischen Positionen; denn diesen verdanken sie die Berufung in ihr Amt. 

2. Bindet “sozialdemokratische Loyalität“ auch die SPD-Mitglieder?

Erstreckt sich die von Müntefering geforderte “sozialdemokratische Loyalität“ auch auf die SPD-Mitglieder? Im Sinne der Bindung an politische Standortbestimmungen der SPD-Führungsgremien wie Parteivorstand, Regierungs- und Fraktionsführung im Bund oder in Bundesländern?

Der Versuch einer Antwort auf diese Frage sei an Hans Jochen Vogels großem geistigen Erbe ausgerichtet: Er hat uns Sozialdemokraten glaubwürdig orientierende Wegweisungen hinterlassen.  

  • Hans-Jochen Vogel hatte „in einem Zeitungsinterview aus Anlass seines 90. Geburtstags bekräftigt, dass Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Einsatz für die Schwächeren für ihn wie seit 150 Jahren die Kernwerte der Sozialdemokratie seien.“ *3)
  • Hans Jochen Vogel hielt in einem bedeutenden politischen Gespräch mit dem Journalisten Heribert Prantl fest, was für ihn Politik bedeutet: „Einflussnahme auf die Ordnung und die Gestaltung des Gemeinwesens auf Grund bestimmter Wertvorstellungen und eines konkreten Menschenbildes. Natürlich muss in der Politik auch gestritten und um Macht gekämpft werden. Aber nicht zum Selbstzweck, sondern um mit der bewahrten oder erkämpften Macht die bessere Lösung durchzusetzen.“ Die Politik selbst habe sich am Grundgesetz zu orientieren: „Es ist nicht nur eine Institutionen- und Verfahrensordnung, sondern gibt — etwa im Grundrechtsteil — auch dem Menschenbild und den Werten Ausdruck, auf denen es beruht.“ *4, S. 22)
  • Die Politik in Deutschland habe “die Menschen .. immer wieder dazu herausgefordert, sich mit ihr auseinanderzusetzen und auch am Disput über die maßgebenden … Wertvorstellungen teilzunehmen.“ *4, S. 23)
  • Dem Wettbewerb der Parteien „wies Vogel bei aller berechtigten Kritik an Missständen eine zentrale Rolle im politischen System zu: ´Wahr ist auch, dass die Parteien für eine funktionierende Demokratie unentbehrlich sind`“. *3) 

Mitglieder der SPD dürfen somit von den SPD-Führungsgremien nicht zu Konformität mit deren Positionen aufgefordert oder gar genötigt werden. Denn dann wäre die SPD keine demokratische Partei, wie es das Grundgesetz in Art. 21 (1) und im Katalog der Grundrechte des Menschen gebietet. 

Jedes SPD-Mitglied kann sich an den von Hans Jochen Vogel betonten “Kernwerten der Sozialdemokratie — Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Einsatz für die Schwächeren“ orientieren — in der Innen- wie in der Außenpolitik. Und jedes SPD-Mitglied kann die Politik der SPD-Führung nach eigener Überzeugung bewerten — im demokratischen Meinungsstreit und im Wettbewerb der Parteien um Regierungsmacht.

3. Anwendungsfall: “Sozialdemokratische Loyalität“ für die Ukraine.

Eine kritische Auseinandersetzung mit der von Bundeskanzler Scholz und dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Mützenich (MdB) vorgegebenen SPD-Linie erscheint in der Ukrainepolitik notwendig. Denn “sozialdemokratische Loyalität“, im Sinne der von Hans Jochen Vogel benannten “Kernwerte der Sozialdemokratie — Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Einsatz für die Schwächeren“ gebührt gerade der Ukraine. 

Dieses langjährige Partnerland der EU und der NATO wird von Russland in brutalster Weise angegriffen und zertrümmert. Die schweren Opfer im Abwehrkampf gegen den verbrecherischen Vernichtungskrieg Russlands, die Menschen in der Ukraine ertragen müssen, dienen auch den Sicherheitsinteressen der Europäischen Union und der NATO.

Daher ist auch für Sozialdemokraten eine kritische Auseinandersetzung insbesondere mit der Frage des SPD-Fraktionsvorsitzenden Mützenich geboten, ob es „nicht an der Zeit (ist), dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“ *10) 

Dies zeigen beispielhaft einige Gegenüberstellungen von Anspruch und Wirklichkeit in der Ukrainepolitik des Bundeskanzlers Scholz:

  • Anspruch Scholz: „Von Anfang an haben wir die Ukraine in ihrem heldenhaften Verteidigungskampf unterstützt – finanziell, politisch und mit der Lieferung von Waffen.“ *5) Wirklichkeit: „Bei seiner Darstellung der deutschen Unterstützung der Ukraine zeichnet Winfried Schneider-Deters den langen Weg der Berliner Regierung von der Lachnummer der 5000 Helme bis zu den zuletzt im Sommer 2023 beschlossenen schweren Verteidigungspaketen nach“, urteilt Prof. Dr. Klaus Gestwa, Historiker und Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Eberhard Karls Universität in Tübingen.*6)
  • Anspruch Scholz: „Scholz verwies darauf, dass Deutschland der zweitgrößte Waffenlieferant der Ukraine ist. Das müsse erst einmal anerkannt werden, forderte er.“ *7) Wirklichkeit: Scholz` Aussage ist zwar richtig, fraglich ist aber, ob angesichts der Wirtschaftskraft Deutschlands besondere Anerkennung für die Ukrainehilfe geboten ist. Der Vergleich der Zusagen von Militärhilfe an die Ukraine (Januar 2022 bis 15. Januar 2024) zeigt: Rang 1: USA (42.2 Mrd. €), Rang 2: Deutschland (17.7 Mrd. €}. Auch bei den gesamten bilateralen Zusagen an Regierungshilfen für die Ukraine (Januar 2022 bis 15. Januar 2024) folgt den USA (67.71 Mrd. €) Deutschland auf Rang zwei (Gesamte bilaterale Zusage von 22.06 Mrd. € plus dem deutschen Anteil an den Zusagen der EU von 18.94 Mrd. €., also insgesamt 41 Mrd. €). Die Zusagen durch Frankreich und Großbritannien erreichen jeweils nicht die Hälfte der deutschen Zusagen. Dennoch liegt Deutschland, wenn die Regierungshilfen für die Ukraine, einschließlich der Kosten für die ukrainischen Flüchtlinge, auf die Wirtschaftskraft (Bruttoinlandsprodukt) bezogen werden, nur auf Platz 10 in der Rangliste — hinter Estland, Polen, Lettland, Dänemark, der Tschechischen Republik, Litauen, Bulgarien, der Slowakischen Republik und Norwegen. *8)

Eine Analyse des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) der Universität Kiel stellt fest: In der Militärhilfe für die Ukraine liege Deutschland zwar an der Spitze der europäischen Länder, aber „die Daten zeigen auch eine große Differenz zwischen zugesagter und aktuell bereitgestellter Hilfe.“ *9)

Dies sei deshalb problematisch, weil es angesichts der Blockade durch Donald Trumps Republikaner sehr ungewiss erscheine, ob aus den USA, dem mit Abstand stärksten Geberland für die Ukraine, im Jahr 2024 weitere Militärhilfe zu erwarten ist. Der IfW-Forschungsdirektor Prof. Dr. Christoph Trebesch warnt daher: „Sollte es keine weitere Militärhilfe durch die USA geben, müsse Europa seine laufende Militärhilfe für die Ukraine zumindest verdoppeln. Dies sei zwar eine Herausforderung, jedoch letztlich eine Frage des politischen Willens. Die Länder der EU gehören weltweit zu den reichsten und haben bisher nicht einmal 1 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts von 2021 für die Hilfe an die Ukraine ausgegeben.“ *9) 

Im Lichte dieser Aussage des IfW ist die kritische Debatte über die Ukrainehilfe Deutschlands und der EU zu beurteilen — gerade wenn “sozialdemokratische Loyalität“ gegenüber der Ukraine thematisiert wird.

Die aktuelle Kritik an der SPD-Ukrainepolitik durch eine Gruppe von Historikern, die selbst Mitglieder der SPD sind, wiegt daher schwer: *11)

  • „Scholz lasse die ´nötige Klarheit und unzweideutige Solidarität vermissen`, wenn es darum gehe, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren dürfe.
  • In der Frage von Waffenlieferungen seien die von Kanzler, Fraktions- und Parteispitzen vorgetragenen Begründungen ´ immer wieder willkürlich, erratisch und nicht selten faktisch falsch`. 
  • ´ Wenn Kanzler und Parteispitze rote Linien nicht etwa für Russland, sondern ausschließlich für die deutsche Politik ziehen, schwächen sie die deutsche Sicherheitspolitik nachhaltig und spielen Russland in die Hände.`
  • Die Einlassungen des Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich zu einem ´Einfrieren` des Krieges seien ´fatal` … ´Die Vorstellung, Risiken würden allein durch Zurückhaltung minimiert, ignoriert die Eskalationsgefahr, die entsteht, wenn Putin keine Grenzen gesetzt werden.`“

4. Fazit

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat die seit Wochen laufende Debatte über die deutsche Unterstützung für die Ukraine scharf kritisiert: „Die Debatte in Deutschland ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten.“ *7)  Angesichts der wissenschaftlichen Analysen zur deutschen Ukraine-Politik und der kritischen Stellungnahme bedeutender Historiker stellt sich die Frage: 

Wird  der maßlos wirkende Vorwurf von Bundeskanzler Scholz gegen die Debatte über die SPD-Ukrainepolitik ihn letztlich selbst treffen? 

*1) „Er blickt in den Spiegel und findet sich toll“. Von t-online, lex. 11.03.2024; https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_100362050/oskar-lafontaine-25-jahren-nach-austritt-teilt-muentefering-ueber-ihn-aus.html. Hinweis: Münteferings Gastbeitrag für die „Süddeutsche Zeitung“ erschien zur 25. Wiederkehr von Lafontaines Rücktritt als Finanzminister, als SPD-Vorsitzender sowie als SPD-MdB am 11. März 1999. 2005 folgte Lafontaines Austritt aus der SPD. 

*2) General-Anzeiger Bonn. Vor 20 Jahren. Darum trat Oskar Lafontaine zurück. Von Nils Rüdel. 11.03.2019. https://ga.de/news/politik/deutschland/darum-trat-oskar-lafontaine-zurueck_aid-44023319

*3) Hans Jochen Vogel. Artikel in Wikipedia. Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Jochen_Vogel

*4) Hans Jochen Vogel im Gespräch mit Heribert Prantl. Politik und Anstand. Warum wir ohne Werte nicht leben können. Freiburg, Basel, Wien 2005.

*5) Im Wortlaut. Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz und dem Präsidenten der Ukraine, Selenskyj am 16. Februar 2024 in Berlin. Mitschrift Pressekonferenz. Freitag, 16. Februar 2024; https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/pressekonferenz-von-bundeskanzler-scholz-und-dem-praesidenten-der-ukraine-selenskyj-am-16-februar-2024-in-berlin-2260288

*6) Prof. Dr. Klaus Gestwa. Vorwort zu: Winfried Schneider-Deters. Russlands Krieg in der Ukraine. Deutsche Debatten um Frieden, Faschismus und Kriegsverbrechen, 2022 – 2023; Stuttgart 2023. Siehe auch das zweibändige Werk des in der Ukraine lebenden Autors W. Schneider-Deters: Ukrainische Schicksalsjahre 2013 – 2019. Berliner Wissenschaft Verlag 2021. Prof. Gestwa würdigt die Studien des Autors: „Zusammen mit Karl Schlögel und Timothy Snyder gehörte Winfried Schneider-Deters zu denjenigen, die früh mit beklemmender Weitsicht voraussahen, dass der russische Krieg gegen die Ukraine schon 2014 begonnen hatte … Die westlichen Regierungen konnten sich nicht durchringen, den an sie von Moskau aus herangetragenen Konfrontationskurs anzunehmen, um mit politischer Entschiedenheit und harten Sanktionen dem neo-imperialen Expansionsdrang des Putin-Regimes entgegenzutreten und so rechtzeitig einzudämmen.“ (Vorwort, S. 15; Hervorhebung RS)

*7) Kanzler verteidigt sein Vorgehen: Scholz nennt Waffen-Debatte lächerlich.19.03.2024; https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/scholz-taurus-debatte-unterstuetzung-ukraine-krieg-russland-100.html

*8) Ukraine Support Tracker. A Database of Military, Financial and Humanitarian Aid to Ukraine. Update Feb. 16, 2024: data since January 24, 2022, and through January 15, 2024; https://www.ifw-kiel.de/topics/war-against-ukraine/ukraine-support-tracker (Hervorhebung RS)

*9) Europe has a long way to go to replace US aid — large gap between commitments and allocations.16.02.2024; https://www.ifw-kiel.de/publications/news/europe-has-a-long-way-to-go-to-replace-us-aid-large-gap-between-commitments-and-allocations/. Für Deutschland betrage die insgesamt zugesagte Militärhilfe seit Februar 2022 (17.7 Mrd. €) und die tatsächlich bereitgestellte Militärhilfe (9.4 Mrd. €). Ähnliche Unterschiede zeigen sich auch bei den anderen europäischen Ländern. (Übersetzung RS).

*10) UKRAINE-LIVEBLOG. Mützenich: Auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren kann. AKTUALISIERT AM 14.03.2024; faz.net

*11) Kanzler-Partei und die Ukraine. Ein Brandbrief, der die SPD aufschrecken müsste. Von Sebastian Huld. 27.03.2024; https://www.n-tv.de/politik/Ein-Brandbrief-der-die-SPD-aufschrecken-muesste-article24834617.html