SPD — hilft eine Vision gegen Vertrauensverlust?
Der SPD-Parteitag von Ende Juni hat nicht dazu geführt, die 16 %-Niederlage bei der Bundestagswahl (Februar 2025) durch bessere Zustimmungswerte in der Wählerschaft zu überwinden. Im Gegenteil.
1. SPD: Der Aufschwung bleibt aus.
Die SPD-Umfragen sinken sogar: 13 % im ARD DeutschlandTrend (infratest dimap, Juli 2025). Auch das Debakel bei der Wahl von Verfassungsrichtern, das vor allem der CDU/CSU zuzurechnen war, hat der SPD nicht geholfen. Der Unmut in der Öffentlichkeit scheint aktuellen Umfragen zufolge beide Parteien der Regierungskoalition zu treffen. *1) Sogar Bundespräsident Steinmeier kritisiert: „Ich glaube, wenn man einen Blick in die Zeitungen vom Wochenende wirft, dann lernt man sofort, die Koalition hat sich jedenfalls selbst beschädigt“. *2)
Wenn die Regierungsarbeit auch der SPD beschädigt ist, kann vielleicht die Feststellung im Antragsbuch zum SPD-Parteitag helfen: „Unsere erste Antwort auf den Vertrauensverlust ist ein entschiedener Schritt weg vom kleinteiligen, zielgruppenspezifschen Politikangebot hin zu einem umfassenden Politikansatz mit einer sozialdemokratischen Vision.“ *3)
2. Hilft der SPD eine Vision erneuerter Sozialdemokratie?
Zwar hörte man beim SPD-Parteitag gelegentlich Floskeln von einer sozialdemokratischen Vision. Die SPD-Spitzen wissen schon, welche Worte in einer gespaltenen Partei fallen müssen.
Deshalb hat mich eine junge Stimme beeindruckt: „Das Visionäre niemals vergessen! Vor uns ist etwas viel Größeres, Sozialdemokratie für Zusammenhalt auf dieser Welt und in unserem Land.“ So etwa Frau Annabel Schumacher vom Netzwerk “SPD.Klima.Gerecht“ auf dem SPD-Parteitag am 28. Juni 2025. Ihr Herzenswunsch nach einer Vision für die Sozialdemokratie wirkte auf mich als glaubwürdiger “cri de coeur“.
Mit diesem Wort “cri de coeur“ hatte Michael Ellman den Aufruf für eine Erneuerung der Sozialdemokratie gewürdigt, den Domenico Mario Nuti 2018 in tiefer Sorge um die Zukunft unserer Welt entworfen hatte. *4)
Für junge Sozialdemokraten wie Frau Annabel Schumacher wird hier versucht, diese Vision der Sozialdemokratie des großen Europäers und Forschers über Politik- und Wirtschaftssysteme, Prof. Dr. Domenico Mario Nuti, zu referieren. *5)
3. D. M. Nutis Vision für die Sozialdemokratie.
Zunächst ist kurz darzustellen, wer Domenico Mario Nuti (1937 – 2020) war.
3.1. D.M. Nuti — Ökonom und Europäer.
Der Ökonom Nuti sah die Aufgabe seiner Forschung über den Vergleich von Wirtschaftssystemen darin, die internationalen Wirtschaftsbeziehungen zu verstehen, um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern.
In diesem Bestreben habe ihn eine umfassende europäische Perspektive ausgezeichnet, betonte Ellman in seinem Nachruf.
Als gebürtiger Italiener hatte Nuti dort und in Polen studiert und im britischen Cambridge promoviert. Die Lehren der polnischen Ökonomen Oskar Ryszard Lange und Michał Kalecki haben Nuti geprägt, wie er selbst betonte *5). Lehre und Forschung in Birmingham und London, in Florenz und Rom, Aufgaben in der Europäischen Kommission in Brüssel sowie als Wirtschaftsberater der polnischen Regierung erhoben Nuti in den Rang eines “Modell-Europäers“ (Ellman), dessen Rat europaweit gesucht wurde. *4)
3.2. D. M. Nuti — Sorge um die Zukunft der Welt.
Nutis wissenschaftlicher Weg habe ihn “immunisiert“ (Ellman) gegenüber national begrenzten Sichtweisen. So habe Nuti sein Leben als Forscher und Lehrer vor allem der Untersuchung verschiedener Varianten des Sozialismus gewidmet und daraus seine persönliche Zielvorstellung und Vision einer erneuerten Sozialdemokratie entwickelt. *4)
Nuti sah seine Vision der Sozialdemokratie im Gegensatz zur “perverted social democracy“ (Nuti), die Tony Blair in Großbritannien (New Labour) und Gerhard Schröder (Neue Mitte) in Deutschland zu unbestreitbaren Wahlerfolgen geführt hatten.
Nuti verwarf das Blair/Schröder-Projekt der Sozialdemokratie, weil es sich aus seiner Sicht auf die folgenden “hyperliberalen“ (Nuti) Grundsätze gestützt habe: *5)
- Den Primat freier nationaler und internationaler Märkte, die Freiheit des Handels und Kapitalverkehrs, ferner einer Gleichgültigkeit gegenüber der Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung durch maßlos wachsenden Reichtum einer Minderheitsklasse von unternehmerischen und besitzenden Profiteuren dieser globalen Marktliberaliserung.
- Die Privatisierung von staatlichen oder genossenschaftlichen Unternehmen und damit weitgehender Verzicht auf die unternehmerische Rolle des Staates. Dies müsse zur Kollektivierung wirtschaftlicher Risiken zu Lasten der Bevölkerung bei gleichzeitiger Privatisierung der Gewinne führen.
- Den Blair/Schröder-Grundsatz “A healthy public finance should be a reason of pride for social democrats … Socialdemocrats, moreover, should not tolerate excessive levels of public debt, which imposes an excessive burden on future generations and could have other undesired distributive effect. All the money spent for the service of a high public debt is not available for other priorities .. among which an increase in investment in education, formation or transport infrastructure”. *5) Nuti kritisierte diese Grundsätze; denn sie beschränkten die anti-zyklische staatliche Intervention (rs: d.h. z. B. durch schuldenfinanzierte staatlich Förderung der Nachfrage) in wirtschaftlichen Krisen. Dem Staat blieben im Blair/Schröder-Modell eher nur “strukturelle Reformen“ — aus Nutis Sicht bedeuten sie vor allem: prekäre Beschäftigung zu niedrigen Löhnen, leichtere Entlassung von Arbeitnehmern, Schwächung der Gewerkschaften und der sozialstaatlichen Ansprüche.
“Tough rules for government spending and borrowing“ *6) verursachten — so Nutis freilich angreifbares Urteil — zusammen mit übertriebenem Markt-“hyperliberalism“, mit freier Fahrt für die Globalisierung, mit massenhafter, unkontrollierter Migration und freiem Kapitalverkehr ab 2007/2008 „the worst economic, financial and political crisis in the modern age, whose disastrous effects we are still suffering today“. Diesen Zustand verantworte „the perverted social democracy that today has lost electoral consensus in the greater part of the whole developed world“. *5) (S.7 ff.) Zum Vorteil rechtspopulistischer Parteien, die darin eine demokratische Reaktion auf Fehlentwicklungen sehen.
Nuti plädierte daher für ein neues sozialdemokratisches Modell mit den folgenden Merkmalen, hier vereinfachend dargestellt: *5 (S. 13 ff)
- Eine Marktwirtschaft mit erheblich verstärkten finanz-, geld- und verschuldungspolitischen Befugnissen für die Intervention in Krisen durch den Staat.
- In längerfristig wichtigen Sektoren der nationalen Wirtschaft sollten staatliche Unternehmen die Investitions-Politik fördern und notfalls direkte Preiskontrollen erleichtern.
- Beruflich qualifizierende Bildungseinrichtungen und der Sozialstaat seien zu stärken, sowohl um eine Politik hoher und stabiler Beschäftigung zu sichern, als auch für eine Bekämpfung von Armut und ferner ausreichender Sicherung gegen Arbeitslosigkeit, für Gesundheit und für das Alter.
- Eine die heimische Wirtschaft schützende Außenhandelspolitik solle die Verlierer von freiem Handel oder fallweise notwendigem Protektionismus entschädigen. Dazu gehöre eine Industriepolitik, die technischen Fortschritt, Innovation, steigende Arbeitsproduktivität und Exportorientierung fördere.
- Multinationale Unternehmen sollten härter besteuert und deren Flucht in “Steuerparadiese“ drastisch eingeschränkt werden.
- Mit schärferem steuerlich Zugriff sei es möglich, großzügig ausgestattete staatliche Einrichtungen wie Büchereien, Schwimmbäder, Turnhallen, Parkanlagen und Krankenhäuser zu schaffen. Die Bürgerschaft könnte so davor bewahrt werden, soziale Dienste von privatisierten Anbietern zu nicht tragbaren Preisen kaufen zu müssen.
Nuti hatte seine sozialdemokratische Zielvorstellung 2018 entwickelt, als auch die Kriegsdrohungen durch Russland und China schon erkannt waren.
Mit „tiefem Pessimismus“ (Nuti) habe der bedeutende Europäer und Forscher auf die Welt der Großmächte unter Trump, Xi Jinping und Putin geblickt, als er seine sozialdemokratische Vision 2018 in Warschau vortrug: *5) (S. 15)
- Eine Welt der Gewaltkonflikte zwischen verfeindeten Regionen, ethnischen Gruppen und Religionen;
- eine Welt, deren Ressourcen geplündert werden, deren Wüsten sich ausdehnen, deren Klima und Biodiversität bedroht sind;
- eine Welt in der Elend, Unwissenheit, Krankheit und wirtschaftlicher Verfall sich verbreiten;
- eine Welt, die mit unkontrollierter Digitalisierung “monumentaler Ungerechtigkeit“ (Nuti) in der Verteilung der Einkommen und Vermögen entgegen treibt.
4. Kein SPD-Konsens für eine Zukunfts-Vision.
Die deutsche Sozialdemokratie hat sich seit vielen Jahren vom Schröder/Blair-Modell abgewendet: Die Zeit ist vorbei, dass die deutsche Sozialdemokratie auf weitgehend freien, globalen Handel, auf geld- und finanzpolitische Stabilität, auf das sozialpolitische Gleichgewicht zwischen Fordern und Fördern sowie strenge Kontrolle staatlicher Ausgaben und Schulden setzte.
Allerdings ist die Zeit nach dem brutalen Krieg Russlands gegen die Ukraine seit 2022 auch gekommen, dass Europa wachsender Bedrohung durch Putins Regime ausgesetzt ist. Dies macht starke militärische Aufrüstung notwendig. Auch die deutsche Infrastruktur (insbesondere Verkehrswege) ist den aktuellen Bedrohungslagen anzupassen.
Die Demokratien Europas müssen dringend gegenüber Kriegsdrohungen verteidigungsfähig werden — gerade angesichts des wahrscheinlicher werdenden militärischen Szenarios: Dass China Taiwan angreift und deshalb von Putin verlangt, europäische NATO-Mitglieder, wie z. B. die baltischen Länder, zu attackieren, um die Verteidigungskraft der Demokratien zu spalten und zu schwächen. *7)
Um in solcher Welt zu überleben, um die europäischen Demokratien zu schützen, ist die verteidigungspolitische Priorität unausweichlich. Diese schwerwiegende Priorität unserer Zeit setzt strenge Kontrolle der staatlichen Ausgaben voraus.
Professor Nutis Pessimismus im Blick auf seine Vision einer erneuerten Sozialdemokratie wird in unserer Zeit wachsender Kriegsdrohungen leider bestätigt.
Die SPD muss ihre Politik an den prioritären Notwendigkeiten unserer Zeit ausrichten. Nur dies wird gegen weiteren Vertrauensverlust in der Wählerschaft helfen. Nicht die Suche nach einer sozialdemokratischen Vision, die Professor Nuti schon 2018 klarer dargestellt hat, als es in einer gespaltenen SPD möglich wäre.
Einer SPD, die wie ihr “Friedens-Manifest“ für Dialog mit Russland und für geringere Rüstungsausgaben *8) noch kurz vor dem Parteitag zeigte, dass sie in der Wahrnehmung der existenziellen Bedrohung Europas durch Russland und China tief gespalten ist.
*1) ARD-DeutschlandTrend: Nächster Dämpfer für SPD: „Nach einem Parteitag, der eigentlich Aufschwung nach der schwachen Bundestagswahl bringen sollte, erleben die Sozialdemokraten stattdessen den nächsten Tiefschlag: Wäre am kommenden Sonntag Bundestagswahl, käme die SPD laut ARD-DeutschlandTrend (Juli 2025) auf 13 Prozent und verliert damit zwei Prozentpunkte gegenüber Juni. Damit nähert sie sich ihrem historischen Tief von 12 Prozent im Jahr 2019 an“. 03.07.2025; https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/ard-deutschlandtrend-naechster-daempfer-fuer-spd. Neue Umfragen (Sonntagsfragen Bundestagswahl RTL/n-tv Trendbarometer von Forsa) vom 22. Juli 2025 bestätigen das schwache Ansehen der SPD und der Regierungskoalition sowie den Zuwachs der rechts- und linksextremen Parteien: „Union 25 Prozent (-1), AfD 25 Prozent (+1), SPD 13 Prozent, Grüne 12 Prozent, Linke 13 Prozent (+1), BSW 4 Prozent, FDP 3 Prozent (-1), Sonstige 4 Prozent“; https://capital-beat.tv/sonntagsfrage-bundestagswahl-rtl-ntv-trendbarometer-von-forsa-am-dienstag-22-juli-2025/
*2) Frank-Walter Steinmeier nennt schwarz-rote Koalition »beschädigt« nach Richterstreit. 14.07.2025; https://www.spiegel.de/politik/frank-walter-steinmeier-nennt-schwarz-rote-koalition-beschaedigt-nach-richterstreit
*3) Bundesparteitag der SPD. 27. bis 29. Juni. 2025. Antragsbuch. Antrag L01: Veränderung beginnt mit uns. Antragsteller*in: SPD Parteivorstand. … 2. Programmatische Orientierung. Ziff. 60 – 63; https://parteitag.spd.de/fileadmin/parteitag/Dokumente/Antraege_oBPT2025/SPD_Antragsbuch_oBPT_2025.pdf
*4) Prof. Dr. Michael Ellman. Tribute to Domenico Mario Nuti. Cambridge Journal of Economics, Volume 45, Issue 6, November 2021, Pages 1361–1372. Published: 29 October 2021; https://www.researchgate.net/publication/355805690_Tribute_to_Domenico_Mario_Nuti.
*5) Prof. Dr. Domenico Mario Nuti, Emeritus Professor, Sapienza University of Rome. THE RISE, FALL AND FUTURE OF SOCIALISM. European Association for Comparative Economic Systems, Warsaw, 6-8 September 2018.
*6) Tony Blair hatte 1997 die britischen Wahlen gewonnen und bis 2007 als Premierminister durch Siege in drei Unterhauswahlen die Regierung erfolgreich geführt. Auf einer kleinen, breit verteilten Karte “new Labour new life for Britain“ standen 1997 “New Labour`s early pledges“ mit der Aufforderung an die Wählerschaft, anhand dieser Karte zu kontrollieren, ob die Versprechungen eingehalten werden. Damit wurde den Briten nach 18 Jahren konservativer Regierung die Sicherheit vermittelt, dass eine Labour-Regierung die Inflationsrate niedrig hält und die Wirtschaft stärkt.
*7) Sönke Neitzel bei Lanz. „Wir leben nicht in einer Pippi-Langstrumpf-Welt“. Bei Lanz erklärt der Militärhistoriker Sönke Neitzel, welches Bedrohungsszenario der Nato die meisten Sorgen macht. Von Marko Schlichting. 24.07.2025; https://www.n-tv.de/politik/Wir-leben-nicht-in-einer-Pippi-Langstrumpf-Welt-article25921448.html
*8) Friedens-Manifest: SPD-Politiker fordern mehr Diplomatie statt Aufrüstung. Zwei Wochen vor dem SPD-Bundesparteitag fordern prominente Mitglieder des Erhard-Eppler-Kreises in einem Manifest mehr diplomatische Anstrengungen, weniger Rüstungsausgaben und Gespräche auch mit Russland. Zu US-Mittelstreckenraketen haben sie auch eine klare Meinung. VON JONAS JORDAN. 11. JUNI 2025; https://vorwaerts.de/inland/eppler-kreis-spd-politiker-fordern-mehr-diplomatie-statt-aufruestung