SPD: J-Kurve?

Wer als Sozialdemokrat immer wieder vor der Abkehr von der Reformagenda 2010 gewarnt hat, die Bundeskanzler Gerhard Schröder 2002 einleitete, wird keine Genugtuung über den Absturz der SPD empfinden.

CDU/CSU haben sich die Agenda-Politik angeeignet, und die SPD gibt dazu den Junior-Partner in drei GroKos seit 2005. Dabei fiel sie in Wahlen bzw. in Umfragen von 35 % (2005) auf derzeit 11.5 %.

Wie konnte es zu diesem Niedergang der SPD kommen? Hier kann es nur eine persönliche Stellungnahme zu mutmaßlichen Ursachen geben.

1. Linkskurs für Umverteilung.

Der noble Wert der Gerechtigkeit hat die SPD zu monothematischer Umverteilung von den “Reichen“ zu den “Armen“ verleitet. Das könnte hart arbeitende Mittelschichten, selbst Kanzler Schröders „neue, solidarische Mitte“, bei der Wahrnehmung ihrer Interessen überfordert und vertrieben haben.

2. Das “Gesetz vom abnehmenden Ertragszuwachs“ einer monothematischen Sozialpolitik.

Aus der Produktionswirtschaft ist als empirische Beobachtung bekannt: vermehrter Einsatz eines Produktionsfaktors (Input) kann bei gleichbleibendem Einsatz aller übrigen Inputs die Produktion eines Gutes (Output) zunächst steigern. Dies wird aber schließlich zu abnehmenden mengenmäßigen Ertragszuwächsen führen, die wegen zunehmend schlechteren Zusammenwirkens der verschiedenen Produktionsfaktoren (Arbeitskräfte, Rohstoffe, Zwischenprodukte, Maschinen, Gebäude, Land) negativ werden. Und damit zum Rückgang der Produktion führen.

Auch in der Politik lassen sich abnehmende Ertragszuwächse von Einzelmaßnahmen bei Vernachlässigung anderer Politikfelder beobachten: Die SPD hat ihre Politik auf Umverteilung sowie die Instrumente des “tax and spend“ verengt, also auf das Besteuern der sogenannten Reichen für Ausgaben zugunsten der sog. Armen. Dazu passt die Idee, neuerdings zusätzlich eine Vermögenssteuer zu erheben.

Die SPD vernachlässigt bei ihrem Linkskurs die Wirtschaftspolitik — Förderung des Erwirtschaftens vor dem Verteilen — ebenso wie ein Vertrauen schaffendes sicherheits- und verteidigungspolitisches Profil. Die politischen Ertragszuwächse (Wahl- oder Umfrageresultate) des “Ein-Thema-Tax and spend“ sind trotz steigender Sozial-Ausgaben kleiner und sogar negativ geworden. Die SPD hat das Vertrauen und den Umfragestatus einer Volkspartei verloren.

Die Wählerinnen und Wähler wanderten ab. Obwohl doch die SPD soviel “Soziales“ für “Soziale Gerechtigkeit“ durchgesetzt habe! Und dennoch dafür nicht von der Wählerschaft honoriert werde. Dies ist keinesfalls als „Undankbarkeit“ gegen die SPD zu bewerten. Sondern eher Zeichen für die Klugheit der Wahlbürger, die wissen, dass alle diese “Ich gebe dir“-Wahlgeschäfte von ihnen selbst mit Steuern und Sozialabgaben zu bezahlen sind. There is no such thing as a free lunch … Viele Wähler mag der Verdacht beschleichen, dass SPD-Abgeordnete bei abnehmender Aussicht auf Wiederwahl die Wähler durch „Wahlgeschenke“ kaufen wollen, um den eigenen MdB-Arbeitsplatz zu retten. Damit wäre endgültiger Vertrauensverlust besiegelt.

Es mag erbittern, dass von der regional erfolgreichsten Volkspartei Deutschlands, der CSU, der SPD geraten werden muss: „Zeigt die Bandbreite einer Volkspartei“! *1)

3. Kampf um die Partei statt um die Wählerschaft.

Vom SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil ist zu hören, „ein Jahr lang habe man in die Partei hinein gehorcht, rund 10 000 Vorschläge und Ideen ausgewertet.“ Die Wirtschaft fordert daher bereits „eine Sozialabgabenbremse“ (Arbeitgeber-Präsident Ingo Kramer). Linke mögen sich freuen: „Das ist SPD pur, ein klarer Linksruck, Ergebnis des Erneuerungsprozesses.“ *2) Sigmar Gabriel war dagegen zu vernehmen: „Linker als die Linkspartei geworden“. *3)

Wer den Ideen progressiver Macher wie Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder gefolgt ist, kann die Dummheit der Aussage Klingbeils kaum fassen: „In die Partei hineingehorcht!“ Statt in die Vielfalt der Werte und Interessen einer heterogenen Wählerschaft! Nach dem Motto, mit dem Tony Blair “New Labour“ von Wahlsieg zu Wahlsieg führte: „Labour listens, Labour learns, Labour leads“!

4. Auswahl aus dem Scherbenhaufen?

Kurz vor dem 1. September — den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen und dem Ablauf der Bewerbungsfrist für den SPD-Vorsitz — scheint der an sich demokratische Auswahl- und Wettbewerbsprozess für den SPD-Vorsitz zu einer ruinösen Vorführung gegenseitiger Feindseligkeit zu verkommen. Linke GroKo-feindliche Kandidaturen gegen Vizekanzler Olaf Scholz — da scheint jedes Mittel erlaubt. Der kommissarische SPD-Vorstand — Ministerpräsidentinnen Dreyer und Schwesig sowie Thorsten Schäfer-Gümbel — darf offenbar keine Meinung und erst recht keine Präferenz für die künftige Führung der SPD haben. Die Wirkung dieser Konflikte zwischen den Vorsitz-Kandidaturen auf die Wähler mag sich jeder ausmalen.

Vor den Wahlen in Sachsen und Brandenburg am 1. September und der bis dahin anhaltenden Bewerbungsfrist für den SPD-Vorsitz stellt sich die Frage nach dem J-Kurven-Effekt dieser Ereignisse: Muss es noch schlechter werden, ehe es besser wird? Grafisch sieht dies wie ein großes J aus, erst runter, bevor es hoch gehen könnte — z.B. bei Wahlen und Umfragen nach einem Führungswechsel-Ereignis.

Kann es überhaupt wieder besser werden für die SPD? Vielleicht! Oder ist der “point of no return“ des Vertrauensverlustes gegenüber der SPD bereits überschritten?

Wer hat denn in dieser Brut von Partei-„Freunden“ noch genug Ansehen und Autorität, um die SPD in die Zukunft zu führen? Als „Volkspartei“ für die Interessen der Wählerschaft. Und eben nicht für die Interessen verschiedenster Gruppierungen von Parteifunktionären.

*1) „Die SPD ist im Augenblick in einer schwierigen Situation“. Der CSU-Politiker Stefan Müller (CSU) appelliert an die SPD, ihrer Verantwortung als Regierungspartei gerecht zu werden. Eine Flucht aus der Verantwortung habe noch nie zu mehr Zustimmung geführt, sagte er im Dlf. Die Union habe aus Rücksicht ständig Zugeständnisse bei allen für den Herbst geplanten Themen gemacht. Stefan Müller im Gespräch mit Silvia Engels. 19.08.2019; https://www.deutschlandfunk.de/stefan-mueller-csu-die-spd-ist-im-augenblick-in-einer.694.de.html?dram:article_id=456657

*2) SPD. Die Hartz-IV-Abwicklung. 10. Februar 2019; https://www.wiwo.de/politik/deutschland/spd-die-hartz-iv-abwicklung/23971530.html

*3) DEUTSCHLAND. EX-SPD-CHEF. „Linker als die Linkspartei geworden“ – Gabriel rechnet mit SPD ab. Veröffentlicht am 02.08.2019; https://www.welt.de/politik/deutschland/article197892293/Gabriel-rechnet-mit-SPD-ab-Linker-als-die-Linkspartei-geworden.html