Sternstunde Mitglieder-Votum.

Die Grünen in Schleswig-Holstein, die FDP in Nordrhein-Westfalen, die SPD im Bund — diese Parteien haben vor der Bildung einer Koalitionsregierung ihre Mitglieder befragt. Solche Mitglieder-Befragungen werden derzeit kontrovers beurteilt.

Das mag viele Bürger überraschen; denn eine „Mehrheit der Deutschen .. befürwortet es, dass die SPD ihre Basis befragen will. So halten das 63 Prozent der Befragten laut einer repräsentativen Emnid-Umfrage für richtig.“ *1)

Nun hatte Martin Schulz, SPD-Vorsitzender, schon vor der Bundestagswahl am 24. September 2017 über das Mitglieder-Votum zum Vertrag über die Große Koalition (CDU/CSU und SPD) 2013 festgestellt: „Eine Sternstunde der innerparteilichen Demokratie … Dahinter können und wollen wir nicht zurück.“ *2) Dass Martin Schulz dieses Wahlversprechen hält, ehrt ihn und seine Partei.

Dies sei hier hervorgehoben gegenüber der teils dürftigen, teils gewichtigen Kritik: „Führende Politikwissenschaftler und Verfassungsjuristen kritisieren den Beschluss der SPD, zunächst die Parteibasis zu befragen, bevor sie Koalitionsgespräche führen oder einen Koalitionsvertrag unterzeichnen“ wolle. *1)

Diese Kritik sollte nicht so verstanden werden, dass in unserer Demokratie die Meinungen von Parteimitgliedern über koalitionspolitische Entscheidungen ihrer Parteiführung belanglos wären. Dies entspräche sicher nicht dem Sinn und Zweck unseres Verfassungsgebotes für Parteien. Es lautet: „Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen.“ (Artikel 21 (1) Grundgesetz).

Beginnen wir jedoch mit der dürftigsten Stellungnahme: „Die Befragung zeigt die Unsicherheit von Martin Schulz“, meint Prof. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für politische Bildung in Tutzing. *3) Diese Aussage ist schon deshalb unsinnig, weil ein mit dem Parteivorstand abgestimmtes und eingehaltenes Wahlversprechen überhaupt nichts mit vermeintlicher „Unsicherheit von Martin Schulz“ zu tun haben kann.

Ähnlich bedauerlicher qualitativer Rang kommt der Polemik des Münchner Politologen Prof. Werner Weidenfeld zu. Der hält „diese Strategie für ´politisch-kulturell zweifelhaft`, seines Erachtens strahlt sie ´Inkompetenz` aus.“ *1)

Gewichtig erscheinen dagegen die kritischen Bemerkungen des Mainzer Politikwissenschaftlers Prof. Jürgen Falter.

Im Unterschied zu Weidenfeld scheint Falter weniger „Strategie“, sondern eher „Taktik“ hinter dem SPD-Wahlversprechen des Mitglieder-Votums für eine Regierungskoalition zu sehen.

Die SPD gewinne damit ein „erhebliche(s) Druckmittel, indem sie mit Verweis auf den noch ausstehenden Mitgliederentscheid Positionen durchsetzen kann, die sonst die Gegenseite wegverhandeln könnte“. *1)

Dies mag aus Sicht der CDU/CSU, dem potentiellen SPD-Koalitionspartner, kritisch beurteilt werden. Nachdem jedoch den Christ-Politikern die Koalition mit FDP und Grünen („Jamaika“) misslungen ist, müssen sie jetzt an die „staatspolitische Verantwortung“ der oppositionsbereiten SPD appellieren, um regieren zu können. Nach dem Beschluss des SPD-Vorstands, die Aufgabe der Opposition anzunehmen, ist der SPD jetzt nach Kursänderung das Recht, das „Druckmittel“ des Mitglieder-Votums einzusetzen, nicht wirklich abzusprechen.

Die Kritik Falters erscheint dennoch wichtig. Weil sie die SPD nunmehr in die Pflicht nimmt, ihre Mitglieder von einer erneuten Großen Koalition zu überzeugen — nicht primär mit Versprechen weiterer Umverteilungspolitik, sondern in dieser Krisenzeit Europas tatsächlich aus „staatspolitischer Verantwortung“.

Auch die Kritik des Historikers Prof. Paul Nolte und des ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht, Prof. Udo Di Fabio, ist bedeutsam und sollte von der SPD-Führung und den SPD-Mitgliedern sehr ernst genommen werden.

Beide Persönlichkeiten mahnen zurecht, dass auch für die SPD das Ergebnis der Bundestagswahl nicht ihren rd. 500 Tausend Parteimitgliedern, sondern den vielfältigen Entscheidungen von fast 62 Mio. Wahlberechtigten geschuldet ist. Die SPD erhielt als Partei 9.5 Mio. (Zweit-)Stimmen. Über die Koalitionspolitik soll jedoch nur von einer halben Million Parteimitglieder entschieden werden; dies erscheint sicher diskussionswürdig.

Prof. Nolte: „Ich finde es bedenklich, eine Regierungsbildung oder Koalitionsentscheidung in die Hände eines Parteimitgliedschafts-Plebiszits zu legen … Das Volk hat gewählt, die Parteien bzw. Fraktionen haben den Auftrag zur Regierungsbildung.“ *2) Und auch Prof. Di Fabio argumentiert in ähnlicher Weise: „In der Demokratie wird eine konzeptionelle Führung sowohl in der Regierung als auch in der Parteiführung als Verfassungserwartung vorausgesetzt.“ *1)

Bei solch grundsätzlichen und hochrangigen Warnungen an die SPD, politische Führung nicht an die Parteimitglieder zu delegieren, verwundert gleichwohl der Appell an die Verfassungstreue der SPD durch Prof. Wolfgang Reinhart, Fraktionschef der CDU im Landtag Baden-Württembergs.

Reinhart bemüht das „freie Mandat der Abgeordneten“ gegen die SPD-Mitglieder-Befragung; denn die Bundestagsabgeordneten seien es, „die Lösungen und Entscheidungen — laut Verfassung — aushandeln müssen.“ *1) Hier scheint ein führender CDU-Politiker nahezu anmaßend das Grundgesetz zu benutzen — ausgerechnet gegen die SPD, die herausragenden historischen Anteil an unserer Verfassung hat.

Erheitern mag ja die Vorstellung, wie Reinhart als für die CDU-Fraktionsdisziplin verantwortlicher Fraktionsvorsitzender im Landtag Baden-Württembergs wohl mit dem „freien Mandat der Abgeordneten“ umgeht. Nicht ohne Grund heißt Reinharts Funktion im britischen Parlament „Whip“, das kommt von Peitsche … Doch Spaß beiseite: Verfassungspolitische Anmaßung kann dem Juristen Prof. Reinhart deshalb vorgeworfen werden, weil das Bundesverfassungsgericht bereits im Dezember 2013 die Zulässigkeit des damaligen SPD-Mitglieder-Votums zur Großen Koalition bejaht hat.

Unsere höchsten Richter haben in der SPD-Mitglieder-Befragung jedenfalls keinen Verstoß gegen das „freie Mandat der Abgeordneten“ (Prof. Reinhart, MdL) nach Artikel 38 (1) Grundgesetz gesehen. Der Artikel 38 GG legt fest: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages … sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

Das Bundesverfassungsgericht hatte seinerzeit den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, „der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) zu untersagen, in einer Abstimmung ihrer Mitglieder über das Zustandekommen einer Großen Koalition zu entscheiden“. *4)

Eine Verfassungsbeschwerde gegen diese SPD-Maßnahme wäre ohnehin unzulässig, wie die Richter in eindrucksvoller Klarheit darlegten *4):

  • „Im Wege der Verfassungsbeschwerde können nur Akte der öffentlichen Gewalt angegriffen werden … An einem solchen Akt fehlt es hier. Mit der Durchführung einer Abstimmung über einen Koalitionsvertrag unter ihren Mitgliedern übt die SPD keine öffentliche Gewalt aus. Öffentliche Gewalt ist vornehmlich der Staat in seiner Einheit, repräsentiert durch irgendein Organ. Parteien sind nicht Teil des Staates. Sie wirken in den Bereich der Staatlichkeit lediglich hinein, ohne ihm anzugehören.“
  • Ferner sei „nicht erkennbar, dass die vom Antragsteller beanstandete Abstimmung für die betroffenen Abgeordneten Verpflichtungen begründen könnte, die über die mit der Fraktionsdisziplin verbundenen hinausgingen.“
  • Wie „die politischen Parteien diesen parlamentarischen Willensbildungsprozess innerparteilich vorbereiten, obliegt unter Beachtung der — jedenfalls hier — nicht verletzten Vorgaben aus Art. 21 und 38 GG sowie des Parteiengesetzes grundsätzlich ihrer autonomen Gestaltung.“

Daher wurde in der Presse seinerzeit zusammenfassend und etwas vereinfacht festgestellt: „Das Bundesverfassungsgericht hat grünes Licht für die Mitgliederabstimmung der SPD über die große Koalition gegeben. Es sei allein Sache der SPD, wie sie ihre parteiinterne Willensbildung organisiere.“ *5)

Die SPD-Mitglieder mögen die Warnungen der Professoren Nolte und Di Fabio dankbar in ihr Urteil beim kommenden Mitglieder-Votum über die erneute GroKo aufnehmen. Und leichterhand die Kritik abtun am von Martin Schulz zugesagten Mitglieder-Votum durch Amateurpsychologen (Prof. Ursula Münch) oder die etwas dreiste Beschwörung unserer Verfassung gegen die SPD-Befragung durch den CDU-Fraktionsvorsitzenden Prof. Wolfgang Reinhart, MdL Baden-Württemberg.

Die SPD-Mitglieder sollten anerkennen, dass ihre Parteiführung für die Sondierungen und Koalitionsgespräche mit der CDU/CSU um innerparteilichen Konsens wirbt. Und sie sollten sich auch ihrer „staatspolitischen Verantwortung“ als SPD-Mitglieder bewusst sein.

Denn es ist gewiss eine „Sternstunde der innerparteilichen Demokratie“ (Martin Schulz), wenn die SPD-Führung um das Votum bittet für vielleicht harte aber notwendige Kompromisse mit der CDU/CSU. Damit Deutschland baldmöglichst eine stabile Regierung mit erfahrenem Führungspersonal bekommt.

*1) Politik. Politikwissenschaftler kritisieren Basis-Strategie der SPD-Führung. Samstag, 16.12.2017; https://www.focus.de/magazin/archiv/politik-politikwissenschaftler-kritisieren-basis-strategie-der-spd-fuehrung_id_7989301.html.

*2) Politik. 15. September 2017. Mitgliederbefragung. Schulz will abstimmen lassen. Der SPD-Chef möchte vor einer Regierungsbeteiligung die Parteimitglieder befragen. Gegen bestimmte Koalitionen ist mit Widerstand zu rechnen. Von Christoph Hickmann, Süddeutsche.de.

*3) Politikwissenschaftlerin Prof. Ursula Münch. „Die Befragung zeigt die Unsicherheit von Martin Schulz“. SPD-Chef Schulz will die Parteibasis zu einer möglichen Regierungsbildung mit der Union befragen. Der frühe Zeitpunkt dafür sei ohne Not gewählt, sagt Prof. Ursula Münch, die Direktorin der Akademie für politische Bildung, 24.11.2017; https://www.br.de/mediathek/video/politikwissenschaftlerin-prof-ursula-muench-die-befragung-zeigt-die-unsicherheit-von-martin-schulz-av:5.

*4) BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 06. Dezember 2013

– 2 BvQ 55/13 – Rn. (1-12), http://www.bverfg.de/e/qk20131206_2bvq005513.html.

*5) Bundesverfassungsgericht zu SPD Mitgliedervotum. SPD darf Mitglieder befragen. 06.12.2013 14:55 Uhr; http://www.fr.de/politik/bundesverfassungsgericht-zu-spd-mitgliedervotum-spd-darf-mitglieder-befragen-a-630764.