Stille Heldinnen.

Die Tony Blair Faith Foundation veröffentlicht jedes Jahr eine Blog-Serie, um herausragende Frauen zum Internationalen Frauentag der UN zu ehren. In diesem Jahr bekennt Tony Blair:

„My Female Faith Hero: Catholic Sisters“.*). Diese Heldinnen beschränken sich nicht auf Hingabe an den Glauben, sondern handeln in einem der gefährlichsten Gewerbe der Welt.

Der Handel mit Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden, bringe den kriminellen Banden jährlich 34 Mrd. US-Dollar Reingewinn, stellt Tony Blair fest. Die Catholic Sisters widmen sich dem Dienst für die missbrauchten Opfer des Frauenhandels. Sie informieren über die hinterhältigen Fallen („Job-Angebote“) der Verbrecher, schützen die Frauen in sicheren Häusern, helfen ihnen, den brutalen Banden der Zuhälter zu entkommen, ermöglichen sichere Rückkehr zu ihren Familien – all dies und vieles mehr bei täglichen Drohungen.

In diesen unerschrockenen Persönlichkeiten sieht Tony Blair ein Beispiel dafür, dass „Religion eine Kraft des Guten“ gegenüber den Problemen der Globalität sein kann.

Dies ist eine große Initiative Tony Blairs. Jeder Bürger kann seiner Idee folgen und einmal über eine ihren Glauben lebende Frau nachdenken, die vollständig selbstlos der Gemeinschaft gedient hat, in die sie gestellt war.

In reichlich verspäteter Dankbarkeit erinnere ich zwei solcher Persönlichkeiten, die nichts anderes getan haben, als unbeirrt ihrem selbst gewählten Auftrag und ihrer Berufung zu folgen.

Eine dieser Frauen widmete sich mit stets guter Laune und gleichmütiger Freundlichkeit einer Horde pubertierender, mehr oder weniger nerviger Teenager in Schulenburg a. d. Leine. Sie half dem engagierten Pastor Günther Reinboth geduldig, diesen Haufen z.B. mit Theaterspielen zusammen zu halten. Bewundernswert, wie beide ertrugen, dass bei diesen Darbietungen wenig Talent, dafür aber viel absurdes Ego zusammentrafen. Und wohlgemerkt: Dies alles leistete Schwester Ursula nach einem anstrengenden Tag mit vielfältigen Pflegediensten. Auch für greise ehemalige Landarbeiterinnen, die nicht selten heftigsten Widerstand gegen ihnen ungewohnte Pflege-Ansinnen leisteten.

Einige Jahre vorher, 1955 war es wohl, hatte ich eine weitere bemerkenswerte Persönlichkeit kennen gelernt. Dies lag an der Fahrschüler-Laufbahn. Eine Bande, deren Ziel die Nutzung jeder halbwegs plausiblen Gelegenheit war, die Schule zu schwänzen. Dazu bedurfte es rigorosen Zusammenhalts. Und in Einzelfällen einer Qualifikation für die Herstellung schriftlicher Belege, für die ich Eignung mitbrachte. Dies führte zum Bedürfnis des 13-Jährigen nach einer ruhigen Umgebung, die sich in der Baracke der Hildesheimer Bahnhofsmission fand.

Dort führte das Regiment Fräulein Ehrengard von Trotha, eine resolute hochgewachsene Dame mit randloser, goldfarbener Brille, rötlich blondem Haar, frischer Gesichtsfarbe, stahlblauen Augen, einer blauweißen Tracht mit Häubchen. Der vielleicht 35 qm große Raum war besonders um die Mittagszeit prall gefüllt mit reisenden Flüchtlingen oder Heimatsuchenden, die eine Suppe bekamen, denen mit Rat und Tat weitergeholfen wurde.

Als einer der in jenen Jahren dort eher seltener auftauchenden Fahrschüler war ich vor allem an einem Angebot der Mission interessiert: einer langen Reihe von Heften des Reader`s Digest, über die sich Schulbesuch und Familienheimfahrt hinzogen. Essen oder eine Erfrischung erbat, brauchte und erwartete ich nie. Und die knappen Mittel der Mission wurden offensichtlich mit konsequentester Sparsamkeit verwaltet.

Dabei zeigt die Leiterin, Fräulein von Trotha, einen robusten Sinn für Humor im Umgang mit einer oft rabiaten, nörgelnden und fordernden Kundschaft. Und sie hielt ein scharfes Auge auf übles Gesindel. Dieser Personenkreis war in der Regel schnell wieder draußen. Von dem klaren Blick Fräulein von Trothas unmissverständlich verwiesen auf den großen Wartesaal des Bahnhofs, wo sie mit ihren Anliegen vielleicht weiter kamen.

Unvergesslich ist mir eine Szene, die Fräulein von Trothas Herzensgüte offenbarte. Ein etwa 60-jähriger ziemlich zerlumpt gekleideter Mann trat ein. So breit wie groß, sehr knorrige Gestalt, mit gelichtetem, aber struppigem Haar auf einem furchterregenden Schädel, dessen unterer Teil in einem Vollbart endete. Dieser gewaltige Bart ersetzte den Schal im Winter 1955-56. Durch eine große, dunkle Hornbrille musterte er mich ungehalten mit stark vergrößerten Augen, um dann an meinem Tisch Platz zu nehmen.

Sofort holte der Hüne aus einem mit Bindfaden zusammengehaltenen Köfferchen einen etwa 20 cm hohen Stapel Papiere im DIN A 5 Format hervor, die mit einer äußerst markanten Handschrift bedeckt waren. Dann begann er zu schreiben, mit Füller. Bei dem Versuch, den Inhalt seiner Bemühungen zu erkunden, entfiel mir der Reader´s Digest, und auch ein paar Steine eines Mühlespiels gingen zu Boden. Das rief ungeheure Tobsucht des Gastes hervor: „Ruhe, Ruhe, äußerste Ruhe, Du Dummkopf, damit ich meine Werke schreiben kann!“

Fräulein von Trotha näherte sich behutsam. Der fürchterlich struppige, herkulische Herr schrieb indessen unbewegt weiter. Fräulein von Trotha flüsterte mir zu: „Verhalte Dich still! Dieser Herr ist ein ganz bedeutender Geist. Du brauchst ihn nicht zu fürchten. Verhalte Dich still.“ Ich las meinen Reader`s Digest. Hörte wie die Feder meines Nachbarn behaglich und stetig kratzte. Friede herrschte in der kleinen Hildesheimer Bahnhofsmission.

Frau Ehrengard von Trotha, so berichtete die örtliche Presse später, wurde als „Hildesheimer Persönlichkeit“ zum „Guten Geist des Hauptbahnhofs“. 1971 ging sie in den Ruhestand, hoch gewürdigt für ihren Dienst vom Diakonischen Werk des Kirchenkreises Hildesheim. Ende Februar 1986 ist Frau Ehrengard von Trotha im 80. Lebensjahr verstorben. 55 Jahre, nachdem ich sie kennen lernen durfte, konnte ich zu ihrem letzten Spendenwunsch beitragen.

Frau von Trotha hat nach dem Flüchtlingselend der 1950er Jahre viel für die wachsende Schar der Fahrschüler getan. Ich sehe sie noch immer vor mir. Ihr forschend klarer Blick erkannte Bedürftige und Pappenheimer schnell. Die Bahnhofsmission unter ihrer Leitung war „a tight ship“, würde Tony Blair sagen. Effektiv und mit Güte geführt!

*) huffingtonpost.co.uk; 08.03.2012