Strategie: Flucht nach vorn?

Im Juni 2016 hatte Matthias Müller, damals neuer Chef der Volkswagen AG, die „TOGETHER — Strategie 2025“ vorgetragen. Als Antwort auf die „Dieselthematik“ (Müller). Ist die VW-Strategie nur taktische Flucht nach vorn — bloßer Themenwechsel gegenüber dem „Dieselthematik“-Skandal? Oder als neue Ausrichtung der VW-Führung ein in der Unternehmenskultur fest verankerter Weg nach vorn?

Mit dem „Dieselthematik“-Skandal sind die ein Jahr zuvor in den USA aufgeflogenen Software-Manipulationen gemeint, die niedrige Abgas- (Stickoxid- und CO2-Werte) und Verbrauchswerte vortäuschten. Zähneknirschend mögen selbst die durch Wertverlust der Diesel-PKWs geschädigten Kunden das Gelingen der Strategie 2025 erhoffen. Warum?

„Ein Skandal von dieser Größe stellt die ganze Branche infrage“, hatte Carlos Tavares, Vorstandsvorsitzender von PSA Peugeot Citroën, Frankreichs größtem Autohersteller, schon 2015 gewarnt. *1) Der PSA-Konzern habe, so Tavares, Abgastest-Betrug nicht betrieben, mit dem von VW „sauberes“, Kraftstoff sparendes Fahrverhalten in der Praxis vorgetäuscht wurde.

VW-Konkurrent Tavares hatte die Gefahr für die Autoindustrie durch den VW-Skandal keineswegs übertrieben.

Die amtliche Statistik zeigt die Bedeutung der Auto­mobil­industrie schon allein für Deutschland: „Im Jahr 2016 gab es in Deutsch­land 1327 Betriebe von Unter­nehmen mit 20 und mehr tätigen Personen, die Kraft­wagen und Kraft­wagen­teile produzierten. Hier arbeiteten rund 828 000 Personen — das entsprach 14 % der insgesamt in den Betrieben des Verar­beitenden Gewerbes Beschäftigten … 63 % des 2016 erzielten Umsatzes (257 von 407 Milliarden Euro, RS) wurden im Ausland erwirtschaftet.“ *2)

Deshalb urteilte Professor Marcel Fratzscher, Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW): „Eine Krise der Automobilindustrie ist eine Gefahr für die gesamte deutsche Volkswirtschaft„. *3)

Das Urteil Fratzschers ist umso ernster zu nehmen, weil die Autoindustrie in Deutschland noch heute von Negativ-Meldungen heimgesucht wird, was nicht nur ihre Reputation, sondern auch das internationale Ansehen des Industriestandorts Deutschland beschädigt.

Gerade Volkswagen, einer der nach Absatz weltweit größten Autobauer,*4) obendrein im Miteigentum des Landes Niedersachen (20 % Stimmrechtsanteil im Aufsichtsrat) und mit besonders starker Mitbestimmung durch die IG-Metall, kommt nicht aus den Negativ-Schlagzeilen. Wer hätte in diesem Unternehmen noch vor wenigen Jahren ein „Klumpenrisiko“, eine „Gefahr für die gesamte deutsche Volkswirtschaft“ (Fratzscher), vermutet?

  • 2016: Top-Manager von VW wollten trotz drohender Milliardenstrafen im Abgas-Skandal nicht auf ihre Boni verzichten. „Die alten Seilschaften, in denen Management, der Porsche-Clan, Gewerkschaft und das Land Niedersachsen ihre Interessen austarieren, funktionieren immer noch. Bitter.“ So wird selbst in wirtschaftsfreundlichen Medien gewertet. *5)
  • 2016: Streit zwischen Volkswagen und Zuliefer-Unternehmen. Fast 30000 VW-Mitarbeiter konnten nicht planmäßig ihrer Arbeit nachgehen. *6) Der VW-Konzern beantragte Kurzarbeit. Dies führte zu empörten Reaktionen in der Öffentlichkeit. Denn solche Konflikte, ausgetragen zu Lasten unbeteiligter Dritter, kosten das Geld der Steuerzahler, nicht nur durch das Kurzarbeitergeld, sondern auch durch Steuerausfälle. Sinken somit die Konfliktkosten für die Konfliktparteien, könnte der Streit länger dauern oder gar eskalieren. *7)
  • 2017: VW (mit Audi und Porsche), BMW und Daimler werden Kartell-Absprachen zum Nachteil von Kunden und Zulieferern vorgeworfen. „Um Absprachen bezüglich Lieferanten und Strategien soll es gegangen sein, aber auch um die verbotene Schummelsoftware für Dieselmotoren. Jahrelang sollen sich deutsche Autounternehmen abgesprochen haben.“ *8)
  • 2018: In diesen Tagen melden die Medien neue Ermittlungen zu Abgas-Manipulationen bei Audi und Porsche, Töchtern des VW-Konzerns.

„Ich will heute über die Zukunft reden, gerade weil dieser Tage unsere jüngere Vergangenheit so im Fokus steht“, mit diesen Worten eröffnete VW-Chef Matthias Müller 2016 eine Rede in Österreich. *9)

Ein sonderbares Motiv, um über eine Zukunftsstrategie zu reden: Bietet sich die Zukunft nur deshalb als Thema der Unternehmens-Kommunikation an, weil beim Volkswagenkonzern der Blick zurück oder der Blick auf das Heute zu sehr mit Skandalen und heftiger öffentlicher Kritik verbunden ist?

Gewinnt Matthias Müllers „TOGETHER — Strategie 2025″ an Glaubwürdigkeit, wenn er selbst sie als kritischen Fragen ausweichende „Flucht nach vorn“ darzustellen scheint?

Wegen der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung der Volkswagen AG sei hier die „TOGETHER — Strategie 2025“ kurz referiert.

Die langfristig, „strategisch“, bis 2025 angestrebten Ziele lassen sich vereinfachend zusammenfassen: *10)

  • Transformation des Kerngeschäfts durch neu definierte Marken für wachstumsträchtige Segmente und Regionen in vier großen Varianten, die sich am „Kundenerlebnis“ (User Experience) orientieren: Economy-Segment (Preisgünstige Marken) mit Partnern aus Asien, Volumenmodelle (Massenmarken), Premiumfahrzeuge (Spitzenqualität) und Sportwagen (sog. Superpremium-Marken wie z.B. Porsche, Lamborghini). Diese neuen Fahrzeuge würden mit Verbrennungsmotoren ausgestattet und auch bis 2030 etwa zwei Drittel des Absatzes neuer Fahrzeuge umfassen.
  • Elektromobilität als neues VW-Markenzeichen: Ein Drittel der neuen Fahrzeuge würde bis 2025 rein elektrisch angetrieben. Der Absatz solle dann zwei bis drei Mio. Elektroautos pro Jahr erreichen.
  • Aufbau der Batterietechnologie zu einer Kernkompetenz des VW-Konzerns. Hier liege der Schlüssel zur Elektromobilität, da der Wertschöpfungsanteil der Batterien bei vollelektrischen Fahrzeugen 20 bis 30 Prozent erreiche.
  • Personenkraftwagen (PKW) und Nutzfahrzeuge (Truck und Bus) stehen im Dienste des strategischen Ziels, neue Mobilitätsdienstleistungen und Transportlösungen anzubieten.
  • Selbstfahrende Autos, das autonome Fahren für den Individualverkehr und für den Transport von Menschen und Waren in den großen Städten, sollen bereits ab 2020 marktreif entwickelt werden. In diesem Zukunftsfeld neuer autonomer Mobilitätslösungen wolle VW eine führende Rolle spielen und unabhängig von Zulieferungen Dritter sein.
  • Der Begriff „TOGETHER“ stehe für eine Denkweise und Haltung der Gemeinsamkeit „mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, gemeinsam mit bzw. für unsere Kunden, mit unseren Aktionären und Geschäftspartnern.“ Matthias Müller garantiere persönlich: „Integrität, Verantwortung und Nachhaltigkeit sind keine Lippenbekenntnisse, sondern elementare Bausteine für unsere Zukunft: Unsere wichtigste Währung sind Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in unsere Marken, in unsere Produkte und in Volkswagen als Ganzes. Wie schnell Vertrauen verloren geht, das mussten wir im vergangenen Herbst schmerzlich erfahren. Und wie schwer es zurückzugewinnen ist, das erleben wir in diesen Tagen. Ich stehe persönlich dafür ein, dass wir unserer Mission gerecht werden.“ *10)

Matthias Müller hat seit dem fatalen Herbst 2015 die entscheidenden Weichenstellungen für den strategischen und kulturellen Wandel bei VW vollzogen. Für diese Führungsleistung hoch anerkannt, wurde Matthias Müller im 65. Lebensjahr als Vorstandsvorsitzender von Dr. Herbert Diess (60 Jahre) abgelöst. *11)

Dr. Diess bilanzierte bei Amtsantritt im April 2018 den Stand und die verbleibenden Aufgaben der „TOGETHER — Strategie 2025“ im einzelnen. Diese Bilanz kann hier übergangen werden.

Entscheidend ist hier der Rückblick auf den Abgas-Skandal im Hinblick auf die Prävention solcher Führungsfehler:

  • Ist durch den strategischen und kulturellen Wandel in der VW-Führung eine Wiederholung des Abgas-Skandals ausgeschlossen? Eines Betrugs-Skandals, 2015 in den USA aufgedeckt, durch den nicht nur VW, sondern die gesamte Autoindustrie und der Standort Deutschland schwer geschädigt wurden?
  • Warum konnten sachkundige Mitarbeiter, von den betrügerischen Software-Manipulationen wissend, angeblich nicht wagen, den detailversessenen VW-Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn zu informieren?
  • Trotz Staatsbeteiligung, Mitbestimmung und Gewerkschaftsmacht hatte es bei VW offenbar keinen Schutz für potentielle „whistleblower“ gegeben, die deshalb nicht wagten, vor existenzgefährdendem Betrug zu warnen. Keinen Schutz für informierte „whistleblower“ gab es — weder durch den mächtigen Vorsitzenden des Konzernbetriebsrats, Bernd Osterloh, noch durch den Sozialdemokraten und IG-Metaller Dr. Karlheinz Blessing, Personalvorstand des Volkswagen Konzerns, der nunmehr abgelöst wurde.

Dr. Diess thematisierte das dem Skandal zugrundeliegende Problem von „Denkweise und Haltung“ in der VW-Vergangenheit sehr deutlich. Diess bekräftigte den von Matthias Müller eingeleiteten strategischen und kulturellen Wandel in der VW-Führung, indem er zwei Grundsätze hervorhob *12):

  • Die neu definierten Markengruppen gewährleisteten „eine stärker subsidiäre Führung des Konzerns“, so dass sich künftig „nicht das Mächtige, sondern das Richtige“ durchsetzen werde.
  • Ferner gewährleiste das „strategische Ziel des Funktionalbereichs Recht und Integrität, diese Faktoren als Grundlage des täglichen Handelns im Konzern zu verankern — und damit … Kunden und Mitarbeiter vor Compliance-Risiken zu schützen und den Funktionalbereich als Kompetenzzentrum für Integrität und Recht, Datenschutz sowie Compliance und Risikomanagement zu positionieren.“

Im Interesse des Industriestandorts Deutschland ist dieser Neuausrichtung der VW AG nachhaltiger Erfolg zu wünschen. Damit sich die „TOGETHER — Strategie 2025“ nicht als Flucht, sondern als nachhaltig fester Weg nach vorn erweist.

*1) PSA-CHEF CARLOS TAVARES IM INTERVIEW. Audi ist Vorbild für Marke DS. 26.11.2015. Jens Katemann; https://www.auto-motor-und-sport.de/news/psa-chef-carlos-tavares-im-interview-10260451.html.

*2) IM FOKUS vom 27.07.2017. Automobilindustrie: 407 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2016; https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/ImFokus/IndustrieVerarbeitendesGewerbe…

*3) DTS-Meldung vom 30.07.2017, 07:00 Uhr. DIW-Chef ( Prof. Marcel Fratzscher, RS): Autokrise. Gefahr für gesamte deutsche Volkswirtschaft. (Hervorhebung RS).

*4) statista. Das Statistik-Portal. Statistiken und Studien aus über 22.500 Quellen; https://de.statista.com/themen/1346/automobilindustrie/Statistiken zur Automobilindustrie Deutschland (2016, 2017).

*5) Kommentar. VWs doppeltes Gesicht. Die VW-Manager bekommen ihre üppigen Gehälter weiter, die Arbeitnehmer machen ebenfalls keine Zugeständnisse — das zeigt: Die alten Seilschaften funktionieren immer noch. Bitter. 21.05.2016, von CARSTEN GERMIS, HAMBURG; http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/kommentar-vws-doppeltes-gesicht-14244165.html.

*6) 22. August 2016. Volkswagen. 30 000 VW-Mitarbeiter im Zwangsurlaub. Von Michael Bauchmüller, Thomas Fromm und Klaus Ott; http://www.sueddeutsche.de/politik/volkswagen-mitarbeiter-im-zwangsurlaub-1.3131243

*7) Wirtschaftsdienst. Beschaffungskonflikte: Volkswagen und seine Zulieferer. Vitali Gretschko, Nicolas Fugger, Philippe Gillen. (Vitali Gretschko ist Leiter der Forschungsgruppe Marktdesign am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Nicolas Fugger und Philippe Gillen sind Mitarbeiter in der Forschungsgruppe.) 96. Jahrgang, 2016, Heft 9. S. 626-627.

*8) MEINUNG MARKTWIRTSCHAFT. Kartelle sind schlecht und gehören verboten? Nicht immer. Von Thomas Straubhaar. Stand: 26.07.2017; https://www.welt.de/wirtschaft/article167016175/Kartelle-sind-schlecht.

*9) VW-Chef Müller: „Krise hat auch Türen geöffnet“. Viel Zukunftsmusik und nur einen kurzen Blick in den Rückspiegel gab es beim Besuch von Matthias Müller in Linz. Von MARKUS ROHRHOFER. 7. September 2016; derstandard.at/2000043968979/VW-Chef-Mueller-Die-Krise-hat-auch-Tueren-geoeffnet.

*10) Matthias Müller, Vorstandsvorsitzender des Volkswagen Konzerns. Rede. Pressekonferenz „TOGETHER – Strategie 2025″, am 16. Juni 2016 Autostadt, Wolfsburg.

*11) Der Aufsichtsratsvorsitzende Hans Dieter Pötsch dankte Müller ausdrücklich für sein Engagement: „Matthias Müller hat Herausragendes für den Volkswagen Konzern geleistet. Er hat im Herbst 2015 den Vorstandsvorsitz übernommen, als das Unternehmen vor der größten Herausforderung seiner Geschichte stand. Er hat Volkswagen nicht nur sicher durch diese Zeit gesteuert, sondern mit seinem Team den Konzern auch strategisch grundlegend neu ausgerichtet, den Kulturwandel in die Wege geleitet und mit großem persönlichen Einsatz dafür gesorgt, dass der Volkswagen Konzern nicht nur in der Spur geblieben ist, sondern robuster als jemals zuvor dasteht. Dafür gebührt ihm der Dank des gesamten Unternehmens“. (Pressemitteilung. Volkswagen Konzern. Wolfsburg, 12. April 2018. Umfassende Weiterentwicklung der Führungsstruktur des Volkswagen Konzerns beschlossen. Hervorhebung RS).

*12) Umfassende Weiterentwicklung der Führungsstruktur des Volkswagen Konzerns beschlossen; https://www.volkswagenag.com/de/news/2018/04/VW_Group_Umfassende_Weiterentwicklung.html. (Hervorhebungen RS).