Tatarenmeldungen – Beispiel Arbeitsmarkt.

An welch biblischen Plagen ist Deutschland in den letzten Jahrzehnten knapp vorbei geschrammt: Zerstörung durch Wirtschaftswachstum, Schwefelsäure vom Himmel, Sterben unserer Wälder, Versteppung und Wüstenei, Katastrophe der deutschen Vereinigung, globale Eiszeit oder Verdampfung im Hitze-Schock, atomarer Gau, Terror und Seuchen. Bis jetzt gerade noch davongekommen!

Erst wenige Monate sind es her, da graute uns vor dem Tag der Arbeit, dem 1. Mai 2011. Millionen Polen waren angekündigt. Die würden unserem desolaten Arbeitsmarkt den Rest geben und die fleißigen Arbeitnehmer allesamt ins Prekariat befördern. Herr Professor Butterwegge hatte das Desaster schon lange vorausgesagt. Bei aller Sorge, die mich befällt, wenn ich ihn reden höre, bleibt es doch anständig, dass er als Beamter und Wissenschaftler auf jede gebotene Zurückhaltung pfeift und sich intensiv für Arme und prekär Beschäftigte engagiert.

Herr Butterwegge steht auch nicht allein. Heute bei Pinar Atalay/Phönix Frau Ulrike Hermann/taz: Bei ihr hören sich sogar die Sozialskandale nett an. Von Verdi kam Chefökonom Dierk Hirschel: Mehr Chef als Ökonom, zeigte er sich immun gegen Fakten und bonzenhaft durch den Aufruf, die Agendagesetze zu kippen und die Gewerkschaftsmacht zu stärken.  Hoffentlich resignieren Arbeitsmarktexperten wie Herr Hinze (HWWI) oder Herr Eichhorst (IZA) gegenüber solch intransigenten Gesprächspartnern nicht und stellen sich weiterhin der öffentlichen Debatte.

Zurück zu Prof. Butterwegge. Ob er befürchtet, dass die Gewerkschaften sich nur für ihre Mitglieder interessieren? Die beschäftigten „Insider“ des Arbeitsmarktes? Dass die Forderung des DGB nach flächendeckendem gesetzlichen Mindestlohn nur erhoben wird, um einen fahrstuhlartigen Lohnschub für seine tariflich geschützten Zielgruppen auszulösen, der die Gewerkschaften wieder richtig ins Geschäft bringen könnte? Während zugleich viele prekär beschäftigten „Outsider“ des Arbeitsmarktes durch den 9-10 Euro-Mindestlohn pro Stunde  von Arbeitslosigkeit bedroht werden? Und deshalb durch rigidere Arbeitsmarkt-Regulierung geschützt werden müssen? D.h. Abschaffung aller von Kanzler Schröders Agenda 2010 geschaffenen „Brücken in den Arbeitsmarkt“ (Leiharbeit, Fristverträge, Mini-Jobs etc.)?

Gestern sagte uns Prof. Butterwegge in Phönix: „Wenn Stellen geschaffen werden, sind es nur prekäre“. Die Unternehmen nutzten die Agenda-Gesetze, damit sie billige, abhängige, verängstigte Mitarbeiter bekommen. Die Entwicklung gehe weg von der sozialversicherungs-pflichtigen, vor Kündigung geschützten Arbeit hin zur Leiharbeit und – noch elender – zur Schinderei mit Werkvertrag.

Seine Erklärung für die Misere: „Es hat mit dem Marktradikalismus und dieser neoliberalen Ideologie zu tun, überall nur Konkurrenz …“.

Da versuche ich, Hoffnung bei der Bundesagentur für Arbeit zu finden und suche ihren Monatsbericht Juni 2011 auf. Der Bürger braucht nicht in die letzten Details – Saisonbereinigung, Abgrenzung der Definitionen etc. – einzusteigen, um durch die Lektüre ein wenig Ruhe zu finden.

41 Mio. Erwerbstätige, so viele hatten wir noch nie. Über 28 Mio. sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, wie vor der Krise. Im Vergleich zum Vorjahr: +2,5%; Zahl der teilzeitig Sozialversicherungspflichtigen: +5%. Bei den Erwerbsfähigen mit Lohnersatzleistungen ein Minus von 8%; Zahl der Arbeitslosengeld I-Empfänger: -20%; 6% weniger erwerbsfähige Arbeitslosengeld II-Bezieher („Hartz IV“). Noch befinden sich 1.3 Mio. Menschen in staatlich geförderten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, das sind 21% weniger als vor einem Jahr. 30% mehr Offene Stellen sind zu besetzen, das gesamtwirtschaftliche Stellenangebot steigt um 61%.

Genug der Zahlen! Für ältere Arbeitnehmer, allein erziehende Frauen oder solche Menschen, die für die Stellenmärkte nicht passend qualifiziert sind, bleibt es schwierig, einen Arbeitsplatz zu finden. Arbeitsmarktpolitik und komplementäre Maßnahmen wie Qualifizierung, Ganztagsschulen, KiTa´s etc. bleiben notwendig.

Die Bundesagentur stellt fest: „Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung (d.h. von Arbeitslosigkeit Bedrohte in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, RS)  haben im Juni weiter abgenommen … Getragen wird diese positive Entwicklung vom Aufbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung.“ (Bundesagentur für Arbeit, Monatsbericht Juni 2011, S.11). Was ist denn das, Herr Prof. Butterwegge? Sehen die ignoranten Neoliberalen der BfA nicht, dass alles nur prekär ist?

Wie positiv ist denn die Entwicklung am deutschen Arbeitsmarkt zu bewerten? Wo stehen wir im europäischen Vergleich? Die Antwort: Mit großem Abstand an der Spitze der vergleichbar großen, heterogenen Länder der EU. Nur kleine Länder wie Holland, Österreich und Luxemburg weisen niedrigere Erwerbslosenquoten auf als Deutschland (a.a.O. Abb. 11, S.18).

Die Agenda 2010, von Bundeskanzler Schröder durchgesetzt, hat ermöglicht, dass die anziehende Konjunktur sehr starke Beschäftigungseffekte auslöst. Auch der demographisch bedingte Rückgang des Angebots an Arbeitskräften (a.a.O., S. 12) mag zu dem Ergebnis beigetragen haben. Dennoch steht hinter dieser Entwicklung ein großer Erfolg sozialdemokratischer Arbeitsmarktpolitik. Ein Erfolg der Agendapolitik, die eben nicht den Anschlag auf den sozialen Frieden darstellt, den Prof. Butterwegge und nicht wenige Gewerkschaftler immer wieder beklagen.

Zwei Monate nach dem fatalen 1. Mai 2011 hören wir auch nichts mehr von der polnischen Horror-Invasion. Der Einwand Günther Verheugens, direkt von der deutsch-polnischen Grenze, von der Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, hat sich als zutreffend erwiesen: Er sehe keinen großen Zustrom, dafür aber große Vorteile, nämlich eine Milderung des Mangels an Fachkräften, den Engpass für nachhaltiges Wirtschaftswachstum.

Was erklärt das Schüren von Ängsten jenseits der Realität? Ein kluger Politikwissenschaftler, Professor Thomas Meyer, sprach einmal von „Inszenierung des Scheins“. Geht es den Regisseuren der Aufregung um Einschaltquoten, Zeitungsauflagen, öffentliche Aufmerksamkeit oder politische Mobilisierung für Gewinn bei Umfragen bzw. Wahlen? Sind Wichtigtuerei oder Mitläufertum an der Eskalation des Dramatischen beteiligt?

Übertreibung liegt wohl in der Natur des Menschen. Vor über 30 Jahren analysierte der große Makroökonom Rüdiger Dornbusch das „overshooting“, die überschießende Reaktion von Wechselkursen bei schwankenden Devisenmärkten. Ähnliche, durch die „Fundamentaldaten“ kaum erklärbare Ausschläge der Kurse haben wir auch an Börsen erlebt.

Bei Devisenmärkten und Börsen aber handelt es sich um Veranstaltungen vermeintlich rational kalkulierender Akteure. Wenn also sogar dort Übertreibungen üblich sind, braucht es uns nicht zu wundern, wie es in Politik, Presse oder TV zugeht, die von Emotionen leben. Dass sich nun auch manche  Wissenschaftler von der „Inszenierung bösen Scheins“ infizieren lassen, muss der Steuerzahler noch lernen. Dem immer eingehämmert wird, wie wichtig der Griff in seine Tasche wegen Bildung und Forschung sei, übrigens einem der quantitativ unbedeutenderen Budgetposten (6-7 % BIP-Anteil).

Trösten wir uns mit der bewährten Erkenntnis, die ich einem erfahrenen Personalchef verdanke: „Was regt ihr Euch denn auf, Ihr wisst doch, wie sie sind.“