Terror-Aufarbeitung.

Terrorismus ist zu einer der gefährlichsten Bedrohungen unserer Zeit geworden. Erklärt eine Terrorgruppe ihr „Projekt“ für beendet — derzeit die ETA, vor 20 Jahren die RAF — wird unausweichlich gefragt werden, ob deren Geschichte zufriedenstellend „aufgearbeitet“ wurde. *1)

Die Aussagen zum „Gewaltverzicht“ von RAF und ETA ähneln sich. Was nicht nur angesichts gemeinsamer linksextremistischer Ideologie erklärbar ist. Gleichermaßen wurde statt des „Befreiungsprojekts durch revolutionäre Gewalt“ der Anspruch auf ein „Befreiungsprojekt durch legitimen politischen Kampf“ erhoben.

Nach einem Überblick zur Rechtfertigungs-„Lyrik“ (EL PAÍS) der beiden Terrorgruppen RAF und ETA wird im folgenden die ablehnende Reaktion darauf als „Aufarbeitung“ interpretiert und kurz referiert. *2)

1. Ausgangspunkt: Nazi-Faschismus.

Das repressive politische Nachwirken des Nazi-Faschismus habe RAF wie ETA zum „revolutionären Befreiungskampf“ gezwungen.

  • Die RAF behauptet in ihrer Erklärung vom 20. April 1998 („Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte“): „Die RAF hat nach dem Nazi-Faschismus mit diesen deutschen Traditionen gebrochen und ihnen jegliche Zustimmung entzogen.“ *2b)
  • Die ETA wiederum habe seit der Bombardierung der baskischen Stadt Guernica durch den Nazi-Faschismus (1937 durch die deutsche „Legion Condor“) „gegen dieses Erbe der Gewalt und des Leidens“ *2a) die Waffen erhoben — für die Befreiung und den Aufbau eines baskischen Staates.

„Aufarbeitung“: der Versuch, die Gewaltaktionen von ETA und RAF mit dem angeblich persistenten Nazi-Faschismus in Spanien und der Bundesrepublik Deutschland zu rechtfertigen, wird zurückgewiesen.

  • In Spanien habe der Terror ausgerechnet im Übergang zur Demokratie, zur Freiheit und zum Rechtsstaat besonders blutig gewütet. Deshalb sei die Rechtfertigung der ETA „verlogen“. *2a)
  • In Deutschland wird diese Rechtfertigung als „vermessen“ (Kraushaar) bewertet und klinge, „als habe die RAF persönlich für eine neue Gesellschaftsordnung gesorgt.“ *2b)

2. Das „Projekt der Befreiung“.

Mit diesem Projekt begründen RAF und ETA ihre Gewaltaktionen.

  • Die RAF habe „den Befreiungskrieg in der Bundesrepublik aufgenommen … Wir haben die Konfrontation gegen die Macht gewollt … die Kontinuitäten der deutschen Geschichte mit Widerstand zu durchkreuzen.“ *2b)
  • Die ETA wiederum habe gekämpft „für das Recht zu entscheiden“, für die „nationale Anerkennung eines wiedervereinigten, unabhängigen, sozialistischen“ baskischen Staates. *2a)

„Aufarbeitung“: Der Befreiungs-Anspruch von ETA wie der RAF wird als unglaubwürdig bewertet.

  • Spanien weise „eine nicht akzeptable Lyrik“ der ETA zurück, „die eine Geschichte des Terrors und des Todes verschleiern soll.“ *2a)
  • In Deutschland wirke die RAF-Rhetorik der Befreiung absurd. Zumal die Phrasen „vom Ton her fast an den anti-napoleonischen Duktus der preußischen Partisanen erinnern“, wie Kraushaar feststellt. *2b)

3. Anmaßendes Vermächtnis für die Zukunft.

Die Erklärungen von RAF und ETA zum Verzicht auf weitere Gewalt werden als Kontinuität eines anmaßenden Selbstbildes beurteilt.

  • Die RAF gebe ihre bewaffneten Aktionen auf, weil sie „die politischen und gegenkulturellen Prozesse“ unterbewertet hätte. Aber: „Wir stehen zu unserer Geschichte. Die RAF war der revolutionäre Versuch einer Minderheit … Wir sind froh, Teil dieses Versuchs gewesen zu sein … die RAF — ebenso wie die gesamte bisherige Linke — ist nichts als ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Befreiung.“ Die RAF sei „im Gang der Geschichte unkorrumpierbar“ geblieben.
  • Die ETA vertrete weiterhin ihren Einsatz für die Unabhängigkeit eines baskischen Staates, „damit kommenden Generationen eine andere Zukunft geboten werde.“ Und dieser Kampf der ETA werde geführt „mit der gleichen Verantwortlichkeit und Ehrlichkeit wie bisher.“ *2a)

„Aufarbeitung“: In Spanien wie in der Bundesrepublik Deutschland wurde die „Lyrik“ des Gewaltverzichts von ETA bzw. RAF als betrügerisch und selbstgerecht wahrgenommen. Vor allem wegen der Weigerung, an der Aufklärung der Morde mitzuwirken.

  • „ETA kann uns nicht betrügen“, so die Redaktion von EL PAÍS in ihrem Editorial. Die „Demokratie dürfe nicht erlauben, dass sich die Bande von ihrer kriminellen Geschichte rein wasche.“*2a)
  • Kraushaar kritisiert, dass die RAF mit Rosa Luxemburgs Wort „Ich war, ich bin, ich werde sein“ versucht habe, „deren moralisch unbestechlichen Ruf zu okkupieren und sich damit noch einmal mythisch zu erhöhen … Die Sätze sind von einem unerträglichen Pathos der Selbstgerechtigkeit getragen“. *2b)

4. Ist der Terror abschließend „aufgearbeitet“?

In Spanien scheint die Haltung gegenüber dem Terror der ETA „aufgearbeitet“ und damit geklärt: „Auf Nimmer-Wiedersehen, ETA“! *3)

Die ETA sei „nach mehr als einem halben Jahrhundert der Gewalt durch die spanische Demokratie besiegt worden.“ Der Befreiungs-„Liturgie“ der ETA „schulde niemand auch nur die allergeringste Anerkennung.“ Denn die ETA habe gerade den wirklich befreienden „Übergang zur Demokratie durch seinerzeit besonders blutigen Terror erschwert.“ *3)

Noch immer sei der von der baskischen Regierung und den baskischen politischen Parteien beschrittene Weg, „eine Normalität zu erarbeiten“, mit „schweren Zumutungen und Lasten für die Opfer des Terrorismus verbunden.“ In dem Land, das zu verteidigen die ETA vorgab, sei „gegen das heiligste demokratische Recht, das Recht auf Leben, am allerschlimmsten gewütet worden.“ *3)

In Deutschland herrschte bisher weithin Konsens — Jan Philipp Reemtsma hatte die Worte gefunden — „dass der RAF-Terrorismus nur Größenwahn gewesen ist und dass es nur um die Lust an der Gewalt ging.“ *1)

Aber nach Jahrzehnten erfährt diese Sicht auf die RAF Widerspruch, z. B. derzeit durch den angesehenen Regisseur Andres Veiel. *1)

Zwar sieht Veiel in der RAF „eine Wiederholung faschistoider Strukturen … eine ganz klare paramilitärische Struktur, also Rote Armee Fraktion.“

Aber dann geht Veiel so weit zu behaupten, „dass der Kriegsgeist auf zwei Seiten vorhanden war. Das waren ja überwiegend Wehrmachtsoffiziere, erfolgreiche Wehrmachtsoffiziere, wenn man an Bundeskanzler Helmut Schmidt denkt. Und dieser Geist von Befehl, Durchgreifen, Standhaftigkeit, der war da ja genauso vorhanden. Wenn man so will, war es ein Krieg von ganz wenigen gegen die Nachhut von Wehrmachtsoffizieren des Dritten Reiches, die mit einer ähnlichen Ideologie aufeinander gekracht sind, mit einer ähnlichen Unversöhnlichkeit.“ *1)

Weiterhin gibt Veiel seinem „Glauben“ zum blutigen Terror-Herbst 1977 insofern Ausdruck, „dass diese Bundesrepublik durch diesen Herbst gehen musste, um zu sich selbst zu kommen. Sie ist demokratischer geworden, es gab Platz für eine neue Partei, die Grünen, es gab Platz für eine neue Zeitung, nämlich die taz. Das heißt, in diesem linken Spektrum ist plötzlich eine Demokratisierungsbewegung angekommen, die der Republik insgesamt gut getan hat.“ *1)

Sozialdemokraten würdigen sicher die Reformpolitik (“Mehr Demokratie wagen“) unter den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt. Solche Bürger mögen zum Geschichtsbild Veiels fragen: Ausgerechnet die RAF als Katalysator einer Demokratisierungsbewegung in Deutschland? Dieses auch von der RAF in der Erklärung von 1998 gepflegte Selbstbild war bereits 2007 (s.o. Punkt 1 unter „Aufarbeitung“) von Kraushaar als „vermessen“ abgelehnt worden. *2b)

Veiel kritisiert Bundeskanzler Helmut Schmidt als Vertreter „einer ähnlichen Ideologie“ wie die der RAF: „dieser Geist von Befehl, Durchgreifen, Standhaftigkeit, der war da ja genauso vorhanden.“ *1)

Dieser Sicht Veiels — auf den deutschen Staat der 1970er Jahre, den Bundeskanzler Helmut Schmidt und seine Auffassung von Pflicht in der Mordkampagne von Terroristen 1977 — sei ein Blick in unser Grundgesetz vom 29. Mai 1949 entgegen gesetzt.

Artikel 2 (2): Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Und Artikel 1 (3) fordert dazu: Die .. Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

War somit die Bundesregierung gegenüber der terroristischen Gewalt nicht zu der von Veiel kritisierten „Standhaftigkeit“ verpflichtet?

Wer waren denn die Protagonisten und Täter der RAF, um sich ein Recht auf Gewalt, Mord und die Erstellung von Todeslisten anzumaßen? Gegen das fundamentale Grundrecht in der Demokratie: Das Recht auf Leben, das gegen den RAF-Terror durch Einsatz der Staatsgewalt zu schützen war. Dies wurde damals allgemein als Pflicht der Bundesregierung gesehen.

Jan Philipp Reemtsma hatte über die RAF geurteilt. Es waren Fanatismus und Lust an der Gewalt, die zu dem verbrecherischen Größenwahn der RAF-Terroristen geführt hätten.

Hat Reemtsmas Urteil Bestand? Im Sinne abschließender „Aufarbeitung“ des Terrorismus gegenüber der Wahrnehmung von Kulturträgern wie Andres Veiel?

Oder wandelt sich in Deutschland die Bewertung der RAF und der damaligen Haltung des Staates?

Obwohl immer noch eine Reihe von Morden der RAF nicht aufgeklärt sind. Die Täter schweigen. Noch immer stellen sich Fragen an Ermittler und Strafgerichte. Denn Mord verjährt nicht. Auch scheint es an staatlicher Bereitschaft zu mangeln, die Rolle der DDR-Staatssicherheit vollständig aufzudecken, die Terroristen trainiert und ihnen Unterschlupf geboten habe.

Und so steht ein kontrovers beurteilter Befund im öffentlichen Raum: „Die Geschichte der RAF ist nicht aufgearbeitet“. *1)

Was sagt dieser Befund über die Fähigkeit des deutschen Staates aus, gegenüber neuen Terrorgruppen präventiv und abwehrend zu handeln?

*1) FILME. 40 Jahre Deutscher Herbst: „Die Geschichte der RAF ist nicht aufgearbeitet“. Am 5. September 1977 entführte die Rote Armee Fraktion Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer: der Beginn des Deutschen Herbstes. Regisseur Andres Veiel spricht mit der DW über die RAF — und ein Erlebnis als Kind. Datum 05.09.2017; http://www.dw.com/de/40-jahre-deutscher-herbst.

RS-Hinweis: Im folgenden wird die Frage der „Aufarbeitung“ des Terrors von ETA und RAF zunächst anhand von Beiträgen der links-liberalen (Wikipedia) spanischen Zeitung „EL PAÍS“ und der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) („Demokratie stärken – Zivilgesellschaft fördern“) referiert.

Wikipedia:

Die Euskadi Ta Askatasuna, kurz ETA, war bis zu ihrer Selbstauflösung am 2. Mai 2018 eine marxistisch-leninistische, separatistische baskisch-nationalistische Untergrundorganisation … Insgesamt wurden von der ETA rund 830 Menschen getötet.

Die Rote Armee Fraktion (RAF) war eine linksextremistische terroristische Vereinigung in der Bundesrepublik Deutschland. Sie war verantwortlich für 33 Morde an Führungskräften aus Politik, Wirtschaft, Justiz und Verwaltung, deren Fahrern, an Polizisten, Zollbeamten und amerikanischen Soldaten sowie für die Schleyer-Entführung, mehrere Geiselnahmen, Banküberfälle und Sprengstoffattentate mit über 200 Verletzten.

*2a) EDITORIAL. ETA no nos engaña. La democracia no debe permitir a la banda lavar su historia criminal; https://elpais.com/elpais/2018/05/03/opinion/1525372079_812341.html. (Übersetzung RS).

*2b) Das Ende der RAF. 20.8.2007. Von: Dr. Wolfgang Kraushaar; http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/geschichte-der-raf/49302/das-ende-der-raf?

Der promovierte Politologe Wolfgang Kraushaar, geboren 1948, ist Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Dort erforscht er Protest und Widerstand in der Geschichte der Bundesrepublik und der DDR. Seine Arbeitsschwerpunkte bilden u.a. die 68er-Bewegung sowie die Rote Armee Fraktion. (bpb)

*3) EDITORIAL. Hasta nunca, ETA. La disolución es el último y necesario paso de la banda una vez derrotada; https://elpais.com/elpais/2018/04/02/opinion/1522688054_611689.html. (Übersetzung RS).