Transatlantischer Traditionsbruch?

Die USA waren Gründer und Garant der freiheitlichen internationalen Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde. Unter Präsident Trump habe „der mächtigste Staat der Welt damit begonnen, die Ordnung zu sabotieren, die er selbst geschaffen hat.“ *1)

Diese „Sabotage“ sieht Professor Ikenberry in Präsident Trumps „America First“-Rhetorik, seiner migrationsfeindlichen Politik eines ausgrenzenden ethnischen Nationalismus. Und auch in seiner auf geschäftliches Händler-Kalkül verengten Wahrnehmung internationaler Beziehungen als länder- und fallweise zu prüfende Zahlungssalden, die angeblich überwiegend zu Lasten der USA gingen.

Jeden Präsidenten der USA — von Woodrow Wilson bis Barack Obama — habe die Überzeugung geleitet, dass freiheitliche Demokratien eine einzigartige Fähigkeit zur Zusammenarbeit besitzen, und dass deshalb eine Gemeinschaft liberaler demokratischer Staaten Bestand habe. (*1) S.7).

Für dieses Fundament der Werte einer internationalen demokratischen Ordnung sei Trump umso gefährlicher, als er geradezu täglich die Institutionen der Demokratie — den Rechtsstaat, die wissenschaftliche Forschung, die faktenbasierte Debatte in den Medien, also „die wesentlichen Elemente des demokratischen politischen Lebens“ — verächtlich kommentiere. *1)

Ikenberry ruft die Staatsführungen und Wählerschaften der westlichen Demokratien auf, die freiheitliche internationale Ordnung gegen Trumps Sabotage zu verteidigen.

Dieser Aufruf sollte Resonanz gerade in der Europäischen Union (EU) finden. Denn Trump und sein Umfeld hätten nicht nur den Brexit begrüßt, nicht nur gemeinsame Sache mit rechtsgerichteten europäischen Parteien gemacht, die das europäische Einigungswerk beschädigen, sondern sich zu der Behauptung verstiegen, die „Europäische Union (EU) sei lediglich ein von Deutschland genutztes Werkzeug, um die USA im Außenhandel zu übervorteilen“. *1)

Damit habe Trump eine „70 Jahre bewahrte Tradition transatlantischer Zusammenarbeit gebrochen“ *1).

Angesichts solch dramatischen, aktuellen Befundes, mit dem Professor Ikenberry Präsident Trumps Außen- und Europapolitik zusammenfasst, ist die Ermutigung durch Außenminister Sigmar Gabriel nicht zu überschätzen, dass er genau jetzt diese 70-jährige Tradition transatlantischer Beziehungen würdigt. *2)

Außenminister Gabriel erinnert an den 5. Juni 1947: Commencement Day in der Harvard University — die Abschlussfeier, nachdem die akademischen Grade an den studentischen Jahrgang verliehen wurden.

An diesem Tag hatte Secretary of State (Außenminister) George C. Marshall vor dem Commencement-Auditorium mit den frisch Graduierten ein scheinbar praktisch-technisches Programm für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas vorgetragen.

Das später Marshall-Plan genannte European Recovery Program (ERP) sollte mit Krediten sowie Lieferung von Rohstoffen und Waren für die Weiterverarbeitung für Konsum- und Investitionszwecke sowie Lebensmitteln helfen, den notwendigsten Bedarf Europas („Europe’s requirements for the next three or four years“) zu decken.

Nicht nur, um größte Not von den leidenden Menschen Europas („economic, social and political deterioration of a very grave character“) abzuwenden. Sondern auch, um im Interesse der Menschen in den USA, in Europa und der Welt die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen, „so as to permit the emergence of political and social conditions in which free institutions can exist.“ *3)

Dieses von Außenminister Marshall formulierte Ziel amerikanischer Hilfe für den Wiederaufbau und die Zusammenarbeit in Europa hatte deshalb innenpolitisches Gewicht, weil es auf eine richtungweisende Rede des US-Präsidenten Harry Truman von Anfang März 1947 gründete. Präsident Truman hatte unter dem Eindruck des verheerenden Bürgerkrieges in Griechenland einen international ausgerichteten politischen Grundsatz für die USA formuliert: „I believe it must be the policy of the United States to support free peoples who are resisting attempted subjugations by armed minorities or by outside pressure.“ (*4), S. 491).

Die Relevanz dieses außenpolitischen Grundsatzes, als „Truman-Doktrin“ bezeichnet, wurde Außenminister Marshall in einem Treffen in Moskau mit Josef Stalin am 19. April 1947 deutlich.

Nach Stalins Auftritt waren der USA-Delegation seine Absichten klar: Die Sowjets kalkulierten abwartend, dass das durch Krieg zerstörte und gespaltene Europa zusammenbrechen und dem kommunistischen Lager anheimfallen würde. (Vgl.: *4) S. 492).

Die Rede von Außenminister George C. Marshall in Harvard am 5. Juni 1947 wurde vor zwei Jahren von Henry Kissinger in ihrer historischen Dimension gedeutet. *5) Unter dem Deckmantel eines praktischen Programms für wirtschaftlichen Aufbau in Europa habe Marshall die USA aufgerufen, den Isolationismus zu beenden und eine permanente Rolle und Verantwortung für den Aufbau einer internationalen Ordnung zu übernehmen.

Damit habe Außenminister George C. Marshall „a revolution in American foreign policy“ in Aussicht gestellt; denn: „Historically, Americans had regarded foreign policy as a series of discrete challenges to be solved case by case, not as a permanent quest.“ *5) Hier wird der „Traditionsbruch“ (Ikenberry) durch Präsident Trump deutlich: Zurück zur strategielos-fallweisen Aktion in der Außenpolitik, die George C. Marshall überwunden hatte.

Nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs leitete die Rede des Außenministers George C. Marshall am 5. Juni 1947 eine Außenpolitik mit dem Ziel ein, „Europa wieder zu einem Wertepartner zu machen. Einem Partner für eine offene, für eine liberale Weltordnung. Für eine Weltordnung, in der die Werte des Westens … Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hießen“. *2)

Und natürlich diente diese transatlantische Zusammenarbeit für eine liberale Weltordnung auch den wirtschaftlichen Interessen und dem Wohlstand aller beteiligten Länder.

Henry Kissinger erinnerte an die klare Einsicht Marshalls: „Economic crisis produced social dissatisfaction, and social dissatisfaction generated political instability.“ *5) Gerade vor der sowjetischen Bedrohung bedurfte der politische Bestand der europäischen Demokratien „der Hoffnung auf ihre wirtschaftliche Zukunft.“ Und der Weg, den Außenminister Marshall eröffnete, „was a partnership between the United States and its European allies to rehabilitate ´the entire fabric` of their economies.“ *5)

Deshalb ist nach 70-jährig bewährter Tradition transatlantischer Partnerschaft nun die Stunde für die Europäer gekommen, die Errungenschaften dieser Ordnung gegen die Herausforderungen Trumps zu verteidigen.

Professor Ikenberry benennt angesichts der rhetorischen „Sabotage“ Präsident Trumps die entscheidenden Ordnungsvorstellungen, die gegen einen „Traditionsbruch“ zu verteidigen sind. (Vgl. *1), S. 4 ff.)

  • Internationalismus durch strategisches politisches und wirtschaftlich-finanzielles Engagement — gegen isolationistisch-fallweises Händler-Kalkül von „Deals“ und Zahlungsvorteilen (sog. Trumpscher „transaktionaler“, strategieloser Ansatz der Außenpolitik).
  • Offene Weltwirtschaft mit Regeln für den internationalen Handel und mit Instrumenten für die Schlichtung von Streitigkeiten im Rahmen der Welt-Handels-Ordnung der WTO — gegen Trumps protektionistische Drohungen.
  • Multilaterale Zusammenarbeit auf der Grundlage globaler Institutionen und Regeln zur Lösung gemeinsamer Probleme der Globalisierung vom Terrorismus bis zum Klima- und Umweltschutz — gegen „America-First“-Unilateralismus.
  • Verpflichtung von Amerika und Europa auf den kulturellen Pluralismus und die offene Gesellschaft — gegen Trumps ethno-nationalistische Rhetorik der Abschottung.
  • Transatlantische Werte- und Interessen-Partnerschaft für eine liberale Weltordnung — gegen Trumps rhetorische Werte-Indifferenz oder gar Lob für kraftvoll auftretende Autokraten und Diktatoren.
  • Europa ist von den Problemen dieser Zeit — islamistischer Terrorismus, Aggressionspolitik Russlands, politische und wirtschaftliche Instabilität in den Nachbarschaftsräumen der EU, Migration durch Staatszerfall und Klimawandel — stärker betroffen als die USA zwischen den Ozeanen Pazifik und Atlantik.

Ohne die politische, wirtschaftliche und militärische Macht der USA ist jedoch keines dieser Probleme beherrschbar. Deshalb haben die Mitglieder der EU und der NATO eine Bringschuld für den Erhalt der transatlantischen Partnerschaft. Nicht alle Anschuldigungen Trumps an die europäischen Partner der USA sind grundlos — die Kenntnisnahme und Korrektur der sicherheitspolitischen Trittbrettfahrerei Europas zu Lasten der USA ist längst geboten. *6)

Professor Dr. Stephan Bierling stellte schon vor einem Jahrzehnt fest: „Das größte Risiko für Europa ist ein nachlassendes Interesse Washingtons an den Problemen der Alten Welt … Erstes Ziel der Europäer muss es deshalb sein, das amerikanische Interesse an der Lösung dieser Probleme wachzuhalten.“ *7)

Das heißt ganz einfach: An den 5. Juni 1947 und Außenminister George C. Marshalls historische Rede nicht nur mit Worten, sondern durch Engagement für die transatlantische Partnerschaft erinnern. Denn Außenminister George C. Marshall ließ seinen Worten Taten folgen, denen gerade wir Deutschen unsere heutige Stellung in Europa und der Welt verdanken.

*1) G. John Ikenberry, The Plot Against American Foreign Policy, Foreign Affairs, May/June 2017, S. 2. (Übersetzung RS).

*2) Rede von Außenminister Sigmar Gabriel bei Eröffnung der Deutsch-Amerikanischen Konferenz „The Marshall Plan and its legacies – Towards a strong transatlantic partnership“. Berlin, 16.05.2017; http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden 2017/170516_BM_Marshall.html.

*3) THE MARSHALL PLAN SPEECH; http://marshallfoundation.org/marshall/the-marshall-plan/marshall-plan-speech/

*4) Ferald J. Bryan. George C. Marshall at Harvard: A Study of the Origins and Construction of the „Marshall Plan“ Speech. S. *3): Used with permission in: THE MARSHALL PLAN SPEECH; http://marshallfoundation.org/marshall/the-marshall-plan/marshall-plan-speech/. Artikel von F. J. Bryan in: Presidential Studies Quarterly, Vol. 21, No. 3, Ordered Liberty (Summer, 1991), pp. 489-502.

*5) Reflections on the Marshall Plan. Henry Kissinger recalls when George C. Marshall, speaking at Harvard’s Commencement in 1947, extended America’s hand to a battered Europe, helping to create a stable postwar order. May 22, 2015; http://news.harvard.edu/gazette/story/2015/05/reflections-on-the-marshall-plan/. (Übersetzung RS).

*6) Nato-Gipfel. Bei der Nato hat Trump recht. Die Europäer lassen sich ihre Sicherheit von den USA finanzieren. Das ist unsolidarisch und gefährlich. Höhere Verteidigungsausgaben sind kein Geschenk an die USA.

Ein Gastbeitrag von Claudia Major und Christian Mölling. 25. Mai 2017; http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-05/nato-donald-trump-verteidigungsausgaben-trittbrettfahrer.

*7) Die Huckepack-Strategie. Europa muss die USA einspannen. Ein Standpunkt von Stephan Bierling. Herausgegeben von Roger de Weck. Hamburg 2007, S. 81 f.